Großer Bruder Deutschland

Frank-Walter Steinmeier, amtierender Präsident der Bundesrepublik Deutschland, hin und wieder auch gefühlter Regierungssprecher der Ampel Koalition, meinte im Sommerinterview in väterlich-verständnisvollem  Duktus, die Position der Bundesregierung, sich gegen Streumunition auszusprechen, sei nach wie vor richtig, „aber sie kann in der gegenwärtigen Situation den USA nicht in den Arm fallen.“

Es lohnt sich, diesen Sprech-Schnipsel genauer unter die Lupe zu nehmen.

Zunächst einmal zur Klärung der Redewendung „in den Arm fallen“. Die ist relativ ungebräuchlich geworden und lädt daher zu Missverständnissen ein, wie zum Beispiel so, dass die Bundesregierung in dieser Situation sich aus der freundschaftlichen Umarmung der USA lösen (nicht in die Arme fallen), sondern ein kleines bisschen auf Distanz gehen werde. So ist das natürlich nicht gemeint. Bei Redensarten-Index.de heißt es dazu: Ursprünglich war hier die konkrete Situation beim Nahkampf gemeint: Um den Hieb abzuwehren, ergreift der Angegriffene den erhobenen Arm des Angreifers, er „fällt ihm in den Arm“.

Zweifellos war und ist sich der Bundespräsident dieser Bedeutung bewusst.

Von daher darf angenommen werden, dass er entweder davon überzeugt ist, dass die Bundesregierung den USA in den Streubomben-Wurfarm hätte fallen können, hätte sie es nur gewollt, oder dass er – wider besseres Wissen – dem deutschen Volk glauben machen will, die Bundesregierung, die allem Anschein nach noch nicht einmal interessiert ist, die Sprengung der Ostsee-Pipelines aufzuklären, sei grundsätzlich in der Lage, den USA in den Arm zu fallen, habe jedoch, aufgrund der besonderen gegenwärtigen Situation, dieses eine Mal darauf verzichtet.

Was aber meint er mit der „gegenwärtigen Situation“?

Es gibt zwei grundsätzliche Ausdeutungsmöglichkeiten dieser einschränkenden Formulierung.

  • Die gegenwärtige Situation der USA
    Weil die Vorräte der USA an konventioneller Artillerie-Munition erschöpft sind, die USA aber ihren Hilfsverpflichtungen gegenüber der Ukraine nachkommen wollen, und daher nicht anders können, als ersatzweise Streumunition zu liefern, kann Deutschland sich nicht prinzipienreitend auf die selbst unterschriebene Ächtung von Streumunition  zurückziehen. Stattdessen erteilt Deutschland den USA quasi eine Ausnahmegenehmigung für die Lieferung von Streumunition an eine Kriegspartei.
  • Die gegenwärtige Situation Deutschlands
    Hier kommt es darauf an, ob „Gegenwart“ im historischen Maßstab gemeint ist, und Steinmeier die deutsche Gegenwart im Mai 1945  beginnen lässt, oder ob es tatsächlich um eine eher aktuelle Gegenwart gehen soll, also zum Beispiel jene Gegenwart, die mit der Vereidigung von Annalena Baerbock als Außenministerin begonnen hat. Im ersten Fall waren es allerdings die USA, die Deutschland, gemeinsam mit Russland und Großbritannien derart erfolgreich in den Arm gefallen sind, dass Deutschland ein „den-USA-in-den-Arm-Fallen“ seither und auf unbestimmte Zeit gar nicht mehr möglich ist. Wäre das gemeint, so handelt es sich also um einen Mangel an Machtmitteln, den der Bundespräsident erkannt hat, als er sagte, die Bundesregierung kann den USA nicht in den Arm fallen.
    Im zweiten Fall ist anzunehmen, dass nicht das Fehlen der Machtmittel, sondern das Fehlen diplomatischer Fähigkeiten die „gegenwärtige Situation“ kennzeichnet, womit „kann nicht“ als „Nichtkönnen“ zu übersetzen wäre.

Vollständig überzeugen können alle diese Erklärungsversuche nicht.

Ist die Bundesregierung nicht ein bedeutsames Mitglied im Lenkungsausschuss (Europäischer Rat) der EU? Könnte sie nicht alle Mitgliedsstaaten, die sich der Ächtung der Streumunition angeschlossen haben, auf eine gemeinsame Linie bringen und dann Joe Biden von der Kommissionspräsidentin mit empfindlichen Sanktionen drohen lassen, sollten die USA diese Waffen in das Kriegsgebiet liefern?

Wäre es dem Auswärtigen Amt Deutschlands tatsächlich unmöglich, bei der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) eine Resolution einzubringen, mit der die beabsichtigte Lieferung von Streumunition an die Ukraine von der Vollversammlung verurteilt wird?

Könnte die Bundesregierung, wenn ihr die Ächtung von Streumunition tatsächlich etwas bedeutet, die – im Zuge der Beendigung der Besatzung durch US-Truppen – freiwilig abgeschlossenen Stationierungsverträge kündigen und den Abzug der US-Truppen aus allen deutschen Liegenschaften, von Ramstein bis Grafenwöhr, von Stuttgart bis Geilenkirchen, fordern?

Hätte die Bundesregierung nicht sogar aufgrund der Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO die Möglichkeit, die übrigen Mitglieder des Beistandspaktes zu motivieren, sich gegen die Absicht der USA, Streumunition gegen russische Truppen zum Einsatz zu bringen, auszusprechen?

Nach allem was offiziell bekannt ist, stünden alle diese Möglichkeiten offen. Es mag ja sein, dass der erwünschte Erfolg ausbliebe, durchaus. Nicht jeder, der seinem Gegner im Nahkampf in den Arm fällt, wird das auch überleben. Da kommt es schon auch auf den Gegner und dessen Möglichkeiten an. Doch wie meinte  Bert Brecht so richtig:

„Wer kämpft, kann verlieren,
wer nicht kämpft, hat schon verloren.“

Außerdem kann man ja nicht nur einem Feind in den Arm fallen, sondern auch einem Freund, um im letzten Augenblick zu verhindern, dass dieser eine Dummheit begeht. Ob der das allerdings als Freundschaftsdienst verstehen wird, kann keinesfalls sicher vorhergesagt werden.

Sich ‚raushalten ist natürlich noch einmal eine andere Kategorie. Dies mit „kann nicht in den Arm fallen“ zu umschreiben, ist allerdings eine kühne Formulierung.