Die Not der Krankenkassen macht erfinderisch

„Weil der übermäßige Genuss von Alkohol und Tabak erhebliche Folgekosten für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) verursacht“, so ist es in einem Positionspapier der Innungskrankenkassen zu lesen, „wäre eine Beteiligung der GKV an den Einnahmen des Staates angebracht.“

Man weiß auch schon, an welchen Einnahmen des Staates man partizipieren will, nämlich an den Erträgen der Tabak- und Alkoholsteuer. Da kämen alljährlich rund 17 Milliarden Euro zusammen, und nach der Logik der Innungskrankenkassen sei dieses Geld bei den Krankenkassen besser aufgehoben als beim Finanzminister.

Da ist sie also wieder, die Idee vom Schadensfreiheitsrabatt und dem Risikozuschlag, nur halt nicht im direkten Verhältnis zwischen Versichertem und Versicherung, sondern auf dem Umweg über die Besteuerung der Sucht- und Genussmittel.

Nehmen wir der Gaudi halber an, dem Wunsch der GKV würde stattgegeben. Natürlich wäre es dann nicht zu vermeiden, die Versicherten aller gesetzlichen Krankenversicherungen regelmäßig, mindestens alle zwei Jahre einmal, auf ihren Tabak- und Alkoholkonsum hin zu durchleuchten, sie in Risikoklassen einzuteilen, um dann einen Verteilungsschlüssel für die Steuermilliarden zu finden, bei dem Versicherungen ohne Raucher und Alkoholiker im Versichertenbestand leer ausgehen müssten, während diejenigen mit dem höchsten Anteil an Rauchern und Säufern auch die höchsten Zuschüsse aus dem Steuersäckel erhalten sollten.

Fragen nach dem Schutz der persönlichen Daten der Versicherten können wir uns schenken, der ist sowieso längst nur noch deklamatorischer Natur.

Die Frage nach dem Aufwand zur Feststellung des Suchtverhaltens der Versicherten kann jedoch nicht so einfach übergangen werden. Einfach einen Fragebogen an alle Versicherten zu verschicken, mit der Bitte, preiszugeben, welche Mengen Alkoholika regelmäßig und/oder sporadisch aufgenommen werden und wie viele Zigaretten täglich geraucht werden, dürfte der Wahrheitsfindung nicht genügen, selbst dann nicht, wenn Falschangaben mit hohen Geldstrafen belegt werden sollten.

Da muss man schon ran, an den Patienten. Einmal die Lunge durchleuchten und nach den Spuren des Rauchens suchen, und dann Blutproben untersuchen, um dem Alkohol über die Leberwerte auf die Spur zu kommen.

Um die gesetzlich Versicherten nicht noch zusätzlich zu diskriminieren und zu stigmatisieren, müsste die Erfassung und Dokumentation des individuellen Suchtverhaltens sich auf die Gesamtbevölkerung ab vollendetem vierzehnten Lebensjahr erstrecken. Selbst wenn sich eine solche Aktion mit nur 100 Euro pro Proband realisieren ließe: Unter 7 Milliarden Euro an zusätzlichem Aufwand wäre die notwendige Gerechtigkeit bei der Verteilung der Steuermilliarden an die Krankenkassen nicht herzustellen.

Nehmen wir der Gaudi halber weiter an, dass sich die Idee der Krankenkassen nach und nach bis zur gesetzlichen Rentenversicherung herumsprechen würde. Dort hat man naturgemäß eine etwas andere Sicht auf die Volksgesundheit. Raucher und Säufer, mit ihrer reduzierten Lebenserwartung, tragen schließlich in erheblichem Maße zur Entlastung der Rentenversicherung bei, so dass die Besteuerung von Tabak und Alkohol, die ja – wie alle Bundesregierungen seit jeher beteuern – nur dem Schutz der Gesundheit der Untertanen dienen soll, eine unerträgliche Belastung für die Rentenkassen darstellt, so dass die Erträge aus diesen Konsumsteuern, einschließlich der darauf erhobenen Mehrwertsteuer, zweifellos der gesetzlichen  Rentenversicherung zustünden.

Nachdem dem Ansinnen der Krankenversicherer nachgegeben wurde, kann das Ansinnen der Rentenversicherer nicht abgelehnt werden. Da die 17 Milliarden, um die sich die Begehrlichkeiten drehen, schon bei den Krankenversicherern angekommen sind, die ihren Besitzstand mit Zähnen und Klauen verteidigen, wird der Bundesregierung nichts anderes übrigbleiben, als die Steuern auf Tabak und Alkohol zu verdoppeln.

Dies lässt den Tabak- und Alkoholkonsum noch einmal massiv einbrechen, was sich zuerst beim rückläufigen Aufkommen der Steuereinnahmen auf Tabak und Alkohol, später dann beim nächsten Bevölkerungsscreening deutlich zeigen wird. Es können nicht mehr die eingeplanten 34 Milliarden verteilt werden, sondern allenfalls noch 20 Milliarden, und die wird die Rentenversicherung vollständig für sich reklamieren und betonen, dass die Folgekosten der gestiegenen Lebenserwartung damit  keinesfalls vollständig gegenfinanziert werden könnten.

Dann tritt ein, was niemand vorhersehen konnte:

Der gesamte medizinisch-industrielle Komplex der Bundesrepublik Deutschland fordert einen Rettungsfonds für niedergelassene Ärzte, Kliniken, einschließlich der Reha-Kliniken, Apotheken und die Pharma-Industrie, um den Umsatzrückgang, der sich von den Lungenfachärzten bis zu den Chirurgen der Inneren Medizin und allen davon abhängigen Gewerken hinzieht, kompensieren zu können. Ansonsten müssten tausende Ärzte ihre Praxen schließen, während nicht ausgelastete Kliniken ganze Stationen stilllegen müssten. Das Prinzip der umfassenden Gesundheitsvorsorge und -Betreuung beruhe nun einmal auf dem Vorhandensein eines hohen Volumens behandlungsbedürftiger Krankheiten. Bleibt dieses Volumen aus, erfordere dies eine vollständige Neujustierung des gesamten Gesundheitswesens, die mit einem langfristig geplanten Vorlauf vielleicht zu schaffen wäre, nicht aber aus einem akuten Krisenszenario heraus.

Es fehlten 17 Millarden aus dem Verlust der Vergütung von Behandlungen alkoholbedingter Erkrankungen, sowie 25 Milliarden aus dem Verlust der Patienten mit typischen Raucherkrankheiten. Entweder, die Regierung stellt der Branche für die kommenden fünf Jahre jährlich 40 Milliarden Euro (+ Inflationsausgleich) zur Absicherung  der Gesundheitsversorgung während des bedarfsgerechten Umbaus der Medizinbranche zur Verfügung, oder das gesamte Gesundheitswesen bricht unkontrolliert in sich zusammen.

Das notwendige Geld zur Vermeidung des Worst-Case-Szenarios könne leicht durch eine Sondersteuer „Gesundheit“ von den Arbeitgebern – gedacht ist an eine Pauschale (Poll-tax) pro Beschäftigtem – aufgebracht werden, zumal die Arbeitgeber von den indirekten Kosten der Folgen des Sucht- und Genussmittelkonsums, insbesondere  von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und der Beschäftigung von Leiharbeitnehmern während der Krankheit von Beschäftigten, inzwischen massiv entlastet worden seien.

Der Chef der Bundesagentur für Arbeit bestätigt diesen Entlastungseffekt. Allerdings mit einer ganz anderen Zielrichtung. Der Krankenstand der Beschäftigten sei von 18,2 Tagen pro Jahr auf nur noch 13,5 Tage zurückgegangen. Bei rund 40 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten entspricht dies 188 Millionen Arbeitstagen, also dem Äquivalent von rund 750.000 Vollzeitbeschäftigten, und exakt um diese 750.000 seien die Arbeitslosenzahlen seit der Verdoppelung der Tabak- und Alkoholsteuern gestiegen, wobei leider davon ausgegangen werden muss, dass diese 750.000 mit hoher Wahrscheinlichkeit als Langzeitarbeitslose ohne jede Chance, je wieder in Beschäftigung zu gelangen, in der Statistik bleiben werden.

Selbst nach dem Ende der Zahlung von ALG I, also nach Eingliederung in die Hartz-IV-Kohorte, verursache dies  jährliche Kosten von rund 10 bis 12 Milliarden Euro für die Grundsicherung. Dass die Beitragseinnahmen der Sozialversicherungen massiv zurückgehen, wenn eine dreiviertel Million Beitragszahler wegbricht, wollte er nur am Rande erwähnen, aber insgesamt, Rentenversicherung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung und Arbeitslosenversicherung, dürfte sich ein Fehlbetrag von rund 10 Milliarden Euro ergeben.

Bisher liegt nur der Vorschlag der Innungskrankenkassen auf dem Tisch.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die grüngelbrote Bundesregierung sich ein entsprechendes Gesetz vom Bundestag beschließen lässt, ist allerdings hoch. Egal, wie es dann weitergeht: Es wird uns teuer zu stehen kommen.