Koalition im Kreißsaal – schwere Geburt

Zwei Tage und Nächte durcharbeiten? Das kann richtig Spaß machen, das kann beflügeln, wenn es gilt, die Lösung für ein gemeinsam erkanntes Problem zu finden und den Weg zum Ziel zu beschreiben. Das habe ich in meinem Berufsleben nicht nur einmal erlebt.

Die Tagung des Koalitionsausschusses der Ampel hatte sicherlich auch so ein gemeinsames Ziel, nur dass dieses gemeinsame Ziel nicht in den dringend zu lösenden Sach- und Finanzierungsfragen zu finden war, über die fast 30 Stunden lang – die meiste Zeit konträr – diskutiert wurde. Es ist sogar fraglich, ob dieses abseits der Sachthemen liegende Ziel überhaupt als gemeinsames Ziel angesehen werden kann, oder ob es nicht besser wäre davon auszugehen, dass zwar alle drei Parteien das gleiche Ziel hatten, nämlich Teil der Regierung zu bleiben, dass es sich dabei aber um drei unabhängige, ja egoistische Zielsetzungen handelte. Deshalb ging es wohl nicht so sehr darum, sich darauf zu einigen, was in Bezug auf die Energiewende, die Mobilitätswende, die Inflation und den Fachkräftemangel wirklich gut wäre für das Land, sondern darum, den wirklich kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, mit dem die Schmerzgrenze der Zugeständnisse bei keinem Partner überschritten wird.

Ich will das beispielhaft nur an einem jener Ketten-Kuhhandelsbeschlüsse verdeutlichen, die gestern Abend das Licht der Welt erblickt haben.

  • Die Bahn (die elektrische Bahn), das nach dem Lastenrad zweit-protegierte Verkehrsmittel der Grünen soll ausgebaut werden.
  • Das Geld für den Ausbau der Bahn soll durch eine Erhöhung der LKW-Maut aufgebracht werden.
  • Weil mit dem Geld des Straßenverkehrs die Bahn gefüttert wird, darf der Verkehrsminister Autobahnen reparieren und vielleicht auch ein Stückchen Autobahn neu bauen.
  • Damit die Autobahnen dann aber nicht den Eindruck erwecken, es habe einen Sieg der Vernunft gegeben, müssen überall, wo an Autobahnen gebaut wird, links und rechts die Siegesstandarden der Grünen, nämlich Solarfarmen und Windräder aufgestellt werden.

Die erste Frage, die mir dazu einfällt lautet: Wer, außer den Grünen, braucht die Bahn?

  • Da gibt es einen großen Bedarf bei der Chemie-Industrie. Endlose Reihen von Kesselwagen werden von der Bahn in die Fabriken geschafft, Fertig- bzw. Zwischenprodukte verlassen diese Fabriken, teil wieder in Kesselwagen, teils in Güterwaggons und laufen über die Bahngeleise bis zu den Fabriken der verarbeitenden Industrie. Allerdings ist die Chemie-Industrie gerade dabei, ihre Fabriken in Deutschland herunterzufahren oder gleich stillzulegen, um die Produktion dort neu aufzubauen, wo die notwendige Energie zuverlässig und preiswert zur Verfügung steht. Da sinkt der Bedarf an Bahntransporten gerade. Minderauslastung der Bahnkapazitäten erfordern allerdings Preiserhöhungen, was  unter Umständen noch mehr Chemiebetriebe aus Deutschland vertreibt.
  • Es gibt auch einen großen Bedarf bei den Kohlekraftwerken. Wo die Kohle nicht auf dem Wasserweg von den Seehäfen direkt an die Kraftwerke geliefert  werden kann, und selbst da, wo der Weg vom Tagebau bis zum Braunkohlekraftwerk relativ kurz ist, rollt die Kohle auf Bahngleisen in die Öfen. Allerdings ist der Kohleausstieg beschlossene Sache. Im Westen bis 2030, im Osten bis 2038. Da sinkt der Bedarf an Bahntransporten ebenfalls.
  • Stahlwerke, Aluminiumhütten und Buntmetallwerke werden ganz überwiegend per Bahn mit den Rohstoffen beliefert, während ein Großteil ihrer Produkte ebenfalls per Bahn in die Betriebe der Verarbeitenden Industrie gelangt. Dummerweise ist Deutschland auch für diese Unternehmen ein viel  zu teueres Pflaster, um noch wettbewerbsfähig produzieren zu können. Auch hier wird der Bedarf an Bahntransporten zurückgehen.
  • Ob die Schwerindustrie und der Großmaschinenbau in Deutschland bleiben, ist noch nicht ganz sicher. Dass die Automobilindustrie in Deutschland Kapazitäten abgebaut hat und weiter abbauen wird, ist hingegen sicher. Die Güterzüge voller Neuwagen, die von den Fabriken zu den Höfen der großen Händler rollen, dürften also kürzer werden, und den Weg vom Zielbahnhof zur Zieladresse haben sowieso schon längst die zweistöckigen Automobiltransporter übernommen.
  • Daneben transportiert die Bahn auch immer noch große Mengen Stückgut, also alles das, was für die Paketdienste zu schwer und zugleich nicht eilbedürftig ist, wenn die Kombination aus Bahntransport und Lieferspediteur preiswerter ist, als  gleich einen LKW-Transport zu buchen.

Sieht also irgendjemand einen zusätzlichen Bedarf an Güterbahn-Kapazitäten? Ich sehe ihn nicht.
Meine zweite Frage gilt der LKW-Maut. War die nicht einmal für den Bau und die Instandhaltung der Straßen vorgesehen?

Nun kommen die Grünen daher und wollen die LKW-Maut erhöhen. Hurra! Endlich ein gerechter Preis für den Straßenverkehr! Da werden die Versender in hellen Scharen auf die Bahn umsteigen, und das Problem mit dem Fahrermangel löst sich nebenbei auch noch in Wohlgefallen auf!

Ich nehme an, dass sich da gar nichts verlagern wird.

  • Die Bahn ist für den Gütertransport überall da geeignet, wo Versender und Empfänger über einen eigenen Gleisanschluss verfügen und jeweils große Sendungen, am besten ganze Waggonladungen, für den gleichen Empfänger auf den Weg gebracht werden. Und selbst da ist der LKW im Vorteil, wenn es gilt bei enger Terminsituation zuverlässig pünktlich auszuliefern.
  • Es wird also so kommen, dass der LKW-Versand teurer wird und dass sich dies in den Preisen für die Endkunden niederschlagen wird. Also Inflationsbeschleunigung statt Inflationsbremse.
  • Bis wann ein forcierter Ausbau der Bahn allerdings überhaupt Wirkung zeigen wird, steht in den Sternen. Auch beschleunigte Genehmigungsverfahren ändern nichts an den Bauzeiten. Erst kürzlich hat die Bahn eingestanden, dass der „Deutschland Takt“ nicht vor 2070 tatsächlich funktionieren wird.Erschwerend kommt hinzu, dass jene Kapazitäten die durch Deindustrialisierung frei werden, an ganz bestimmte Strecken und spezielles rollendes Material gebunden sind, die kann man nicht mal einfach dorthin verlegen, wo ein neuer, zusätzlicher Bedarf entstehen könnte.

Aber es geht doch auch um den Personenverkehr! Da sollen doch Millionen vom Pkw zur Bahn wechseln. Hat doch mit dem 9-Euro-Ticket so toll geklappt.

  • Wer in München gleich neben dem Hauptbahnhof wohnt und in Hamburg gleich neben dem Hauptbahnhof ein Hotel buchen kann, fährt sowieso schon mit dem Zug. Das ist entspanntes Reisen, ohne Umsteigen und man kommt schneller von Innenstadt zu Innenstadt als mit dem Pkw und muss sich auch keine Sorgen um den Parkplatz machen.
  • Die Bahn ist im Personentransport theoretisch ein gutes Vehikel für den Fernverkehr zwischen den großen Städten und den an diesen Strecken liegenden Haltestationen der InterCity-Züge.
  • Je weiter Start- oder Zielpunkt von diesen Bahnhöfen entfernt liegen, desto umständlicher wird das Reisen mit der Bahn, und je mehr Personen gemeinsam reisen, desto preiswerter gestaltet sich die Reise mit dem eigenen Pkw, bei dem noch dazu keine festen Abfahrtszeiten eingehalten werden müssen.
  • Wenn Herr Kreutzer aus Elsendorf also Freunde in Owschlag (Schleswig Holstein) besuchen will, wird er sich nicht um 7.35 Uhr mit vollem Gepäck auf den Weg machen, um die zwei Kilometer bis zur Bushaltestelle zurückzulegen, wo der Bus nach Abensberg um 7:54 abfahren soll, er wird nicht um 8:30 Uhr in Abensberg aus dem Bus steigen, um fast eine Stunde auf den Regionalzug nach Ingolstadt zu warten, der um 9:24 Uhr abfährt, und er wird nicht in Ingolstadt in den ICE umsteigen, der um 9:58 Uhr nach Hamburg startet, um in Hamburg am Hauptbahnhof wieder fast eine Stunde auf den Regionalzug nach Owschlag zu warten, der dann dort um 18:06 Uhr ankommen soll, wo dann der Freund schon wartet, um ihn mit dem Pkw abzuholen.
  • Herr Kreutzer wird stattdessen um 7:34 vor der Haustüre in sein Auto steigen, sich vom Navi die unter Berücksichtigung der Verkehrsverhältnisse günstigste Strecke empfehlen lassen und mit zwei Mal 30 Minuten Pause gegen 16:15 Uhr in Owschlag vor der Haustüre ankommen.
  • Herr Kreutzer braucht für diese Strecke ungefähr 60 Liter Diesel, was derzeit mit etwa 100 Euro zu Buche schlägt. Die Bahnfahrt in der 2. Klasse kostet 78,90 Euro, zwei Tickets (Herr Kreutzer verreist mit seiner Frau) kosten 157,80 Euro.

Der Verkehrsminister soll zwar nun das Geld für LKW-Maut nicht bekommen, aber dennoch die allerdringendsten Straßenbauvorhaben beschleunigen. Das sind jene Vorhaben, wo wegen einsturzgefährdeter Brücken der gesamte Verkehr auf Autobahnteilstücken zum Erliegen kommen kann, oder wo Nadelöre bestehen, die entschärft werden müssen, um in Dauerstauzonen den Verkehr wieder etwas flüssiger gestalten zu können. Mit einer zukunftsorientierten Verkehrsplanung hat das nur dann noch etwas zu tun, wenn als Voraussetzung für jede Art von Zukunft die CO2-Neutralität Deutschlands gefordert wird.

Mich erinnert das an jene Geschichten, die man sich nachts in dämmrigen Krankenhausfluren erzählt, von jenen Tattergreisen, denen kurz vor dem natürlichen Ableben noch schnell ein Herzschrittmacher eingesetzt wird, damit die Angehörigen sehen, dass wirklich alles Mögliche getan wird, um den Opa zu retten, damit der Assistenzarzt Gelegenheit bekommt, sich in dieser Operationstechnik zu üben, und natürlich auch, um die Chance, die Fallpauschale abzurechnen, nicht ungenutzt verstreichen zu lassen.

Das Sahnehäubchen:

Die Windräder und Solarzellen, die zwingend neben den reparierten Autobahnen installiert werden sollen.

Hm, bitte,  wer soll die errichten? Auf wessen Flächen? Mit welchem Geld? Und sollen die Autobahnen nicht repariert werden dürfen, wenn der Bauer seine Wiese an der BAB nicht verkauft, oder wenn sich keine Investoren finden? Oder muss Wissing großflächig entlang der Autobahnen enteignen und eine Autobahn-Solar-und-Wind-Betriebsgesellschaft mbH gründen, die dafür Sorge zu tragen hat, dass diese Auflage erfüllt wird?

Ich halte diese Beschlüsse für Murks.

Bevor die Bahn aus ideologischen Gründen mit einem Milliardensegen aus dem Bundeshaushalt „ausgebaut“ werden soll, muss man sich die Frage stellen, ob der Rückbau von Strecken und die Schließung von Bahnhöfen sowie die Stilllegung von Gleisanschlüssen, was sich seit Jahrzehnten vollzieht, dem tatsächlichen Bedarf folgte und daher betriebswirtschaftlich richtig war, und falls dem so war, was ich unterstelle, ob eine ewig defizitäre Bahn auf kaum befahrenen Strecken mit geringem Passagier- und Frachtaufkommen denn tatsächlich das „Gelbe vom Ei“ sein kann.

Die Bahn aufplustern und subventionieren, um die Straßeninfrastruktur letztlich abzuwracken und nur noch den nötigsten Unteralt zu leisten, erinnert fatal an die Strategie, noch lange funktionsfähige, zuverlässige konventionelle Kraftwerke vom Netz zu nehmen und statt dessen witterungs- und tageslichtabhängige, flächenfressende Erneuerbare in die Landschaft zu setzen. Das Bewährte durch weniger geeignetes Neues zu ersetzen – das ist eine „Hans-im-Glück-Strategie“ mit garantiertem Totalverlust. Auch beim Verkehr wird das Ergebnis ein Rückschritt in Bezug auf Effizienz und Zuverlässigkeit sein, während die Kosten, unabhängig davon, ob sie in den Preisen weitergegeben oder aus dem Steuersäckel bezahlt werden, in die Höhe schießen.

Die Fragen müssen lauten:

1. Welche Transportkapazitäten wird Deutschland für welche Zwecke auf welchen Strecken im Jahre 2030, 2035, 2040 und 250 benötigen?

2. Was davon wird von der vorhandenen Infrastruktur abgedeckt?

3. Welche Infrastruktur muss  daher bis 2030, 2035, 2040 und 2050 zusätzlich geschaffen werden oder ertüchtigt werden?

4. Was kann bis dahin stillgelegt oder durch andere Verkehrsmittel ersetzt werden?

Erst wenn dies detailliert beschrieben ist, darf gefragt werden, mit welchen sinnvollen und über den gesamten Lebenszyklus gerechnet wirksamen Maßnahmen können die CO2-Emissionen dieses deutschen Transportkonzeptes gesenkt werden, ohne seine Effizienz zu beschädigen?

Sollte sich dann herausstellen, dass damit die ehrgeizigen „Klimaziele“ nicht erreicht werden können, dann muss man eben, wie überall im Leben, seine Ziele mit seinen Möglichkeiten in Einklang bringen. Alles andere ist feiger Selbstmord aus eingebildeter Angst vor dem Tod.