PaD 12 /2023 – Hier auch als PDF verfügbar: Pad 12 2023 Demokratie als Freibrief
Mit diesem Paukenschlag versuche ich, das gestern im Tageskommentar „Koalition im Kreißsaal – schwere Geburt“ konkret beschriebene Regierungshandeln auf der theoretischen Ebene zu analysieren und eine Hypothese aufzustellen, die besagt, dass die Demokratie verantwortungsloses Regierungshandeln begünstigt, ja geradezu herausfordert, und was verändert werden müsste, um diese Gefahr zu minimieren.
Um ein hohes Maß an Abstraktion und Neutralität zu erreichen, werde ich in diesem Aufsatz statt Vokabeln wie „Ministerpräsident“, „Kanzler“, „Präsident“, „König“ oder „Chef“ einzusetzen, den Begriff „Herrscher“ verwenden. Das mag anfänglich irritieren, weil wir als Demokraten nicht gewohnt sind in den Kategorien „Herrscher“ und „Beherrschte“ zu denken, doch wenn man sich erst einmal darauf eingelassen hat, stellt man schnell fest, dass diese Bezeichnungen den Kern der Sache sehr viel präziser beschreiben als die gewohnten Titulierungen.
Ein Herrscher kann nichts anderes beherrschen als die Menschen, die sich in seinem Herrschaftsgebiet aufhalten. Das Herrschaftsgebiet selbst beherrscht er nicht. Er kann der Erde nicht gebieten, ein Weizenfeld hervorzubringen oder eine Ölquelle sprudeln zu lassen. Wohl aber kann er Bauern dazu bewegen, Getreide zu produzieren und Ölfirmen dazu bringen, nach Öl zu bohren. Es stehen ihm dafür unterschiedliche Mittel zur Verfügung, die sich allesamt zwischen den Polen „Befehl und Strafandrohung“ einerseits und „Empfehlung und Belohnung“ andererseits bewegen. Dabei kann er für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und/oder unterschiedliche Zielsetzungen durchaus unterschiedliche Mittel zur gleichen Zeit einsetzen, also zum Beispiel die Bauern unter die Knute zwingen und zugleich die Waffenschmiede ermutigen, neuartige, hochwirksame Waffen zu entwickeln und ihnen zu versichern, dass die Entwicklungskosten aus der Staatskassse finanziert werden, während die Gewinne, die sich mit der Neuentwicklung realisieren lassen, alleine deren Kassen füllen werden.
Die primäre Motivation des Herrschers ist überall gleich: Die einmal errungene Macht soll erhalten, gesichert und ausgebaut werden. Die Begründungen dafür sind jedoch nur insoweit identisch, als der Herrscher glaubt, auf seinem Weg an die Spitze gegen alle Kritiker und Warner alles richtig gemacht zu haben, was ihn befähigen wird, auch weiterhin gegen alle Kritiker und Warner alles richtig zu machen. Dass dieses „Richtig-Machen“ durchaus auf unterschiedlichem Wege erreicht werden kann, ob nun mit Hilfe selbstherrlich umgesetzter „göttlicher“ Eingebungen, oder ob es das Ergebnis intensiver Beratungen mit Experten war: Die Überzeugung, die bestmögliche Wahl auf dem einmal eingenommenen Platz zu sein, ist quasi Grundvoraussetzung für einen Herrscher. Von da aus finden sich zwei Kategorien von Herrschern:
- Jene, die als Herrscher zugleich Eigentümer ihres Herrschaftsgebietes sind, also der König von Gottes Gnaden oder der Leiter des eigenen Unternehmens, und
- jene, die nicht über das Eigentumsrecht an ihrem Herrschaftsgebiet verfügen, also die klassischen, auf Zeit gewählten Repräsentanten in einer Demokratie.
Erstere handeln, so sorgfältig und umsichtig es ihnen möglich ist, um das eigene Eigentum zu erhalten und zu vermehren, Letztere wissen, dass sie im Vergleich dazu lediglich für begrenzte Zeit die Rolle des schlecht bezahlten Verwalters, noch nicht einmal die des Besitzers spielen dürfen und richten ihr Handeln, so raffiniert es ihnen möglich ist, auf das Ziel der Wiederwahl und des Machterhalts aus.
Die Theorie der Demokratie geht davon aus, dass die Notwendigkeit, Wähler für sich zu gewinnen, die Herrscher dazu bewegen wird, bestmöglich im Sinne der Bevölkerung zu agieren, also Schaden vom Volke abzuwenden und seinen Nutzen zu mehren. Wäre dies eine selbstverständliche Folge der Demokratie, niemand wäre je auf die Idee gekommen, genau diese Formel noch eigens in einen Amtseid zu verpacken und die deutschen Herrscher darauf schwören zu lassen.
Klar ist, dass dieser naiv gedachte, demokratische Regelkreis nur unter optimalen Voraussetzungen funktioniert.
Zu diesen Voraussetzungen gehört zwingend eine weitgehende Homogenität der Bevölkerung, die sich in den grundsätzlichen Entwicklungszielen des Staates einig ist und einig sein kann, weil der Staat in seinem wirtschaftlichen Verhalten Leistungsgerechtigkeit einerseits und Verteilungsgerechtigkeit andererseits gewährleistet, jedem Bürger gleiche Entwicklungschancen bietet und den Wohlstand schützt und sein Wachstum fördert. Wer in einem solchen Lande lebt, der wird mit seiner Regierung einverstanden sein, der wird sich nicht so leicht von Agenten fremder Interessen beeinflussen lassen, sondern Stabilität und Kontinuität für wichtiger erachten als Experimente und willkürliche Wechsel von Zielsetzungen. In einem solchen demokratischen Staat werden Wahlen Mehrheiten von 60, 70 Prozent und mehr erbringen, während die Opposition sich nicht in Fundamental-Opposition zur Regierung zu begeben braucht, um wirksam zu werden, sondern im Grunde nur dafür sorgen muss, dass Störungen der genannten Voraussetzungen – quasi nach dem Vier-Augen-Prinzip im konstruktiven Zusammenwirken – schon in der Phase der Planung von Neuerungen erkannt und eliminiert werden und auch Vorsorge für den unerwarteten, aber möglichen Ausnahmefall getroffen werden.
Als ich vor über fünfzig Jahre erste Programmzeilen geschrieben habe, gehörte es zu den ehernen Gesetzen der Programmierung, dass – zum Beispiel bei einer geforderten Eingabe – eben nicht nur beschrieben wurde, wohin das Programm jeweils verzweigen sollte, wenn die vorgesehenen Eingaben „A“, „B“ oder „C“ erfolgten, sondern auch, wie das Programm reagieren sollte, wenn eine andere Eingabe erfolgt. Das Schema „if – then – else“ zu vernachlässigen, also nicht anzugeben, was zu tun sei, wenn eine geforderte Bedingung nicht erfüllt ist, das ist nicht nur Schlamperei. Das ist verantwortungslos. Ebenso verantwortungslos ist es, beim Testen eines Programmes immer nur zu überprüfen, ob bei Erfüllung der vorgegebenen Bedingungen auch die gewünschte Reaktion erfolgt. Der Tester muss sein Augenmerk gerade auf die abweichenden Fälle legen, bevor ein Programm zur Nutzung freigegeben wird.
Nun hat sich Deutschland leider nach den Jahren des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders erst langsam und inzwischen mit wachsendem Tempo vom Zustand einer solchen optimalen Schönwetterdemokratie entfernt. Die Homogenität ist nicht nur mit dem Aufklaffen der Schere zwischen arm und reich beschädigt worden, sondern auch mit der Zunahme des Anteils der Menschen mit Migrationshintergrund und abweichenden kulturellen Prägungen an der Bevölkerung, von der nicht von allen überwundenen Sprachbarriere ganz zu schweigen. An die Stelle von Leistungsgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit sind undurchschaubare staatliche Umverteilungsmechanismen getreten, die letztlich bei allen Bürgern das Gefühl der Ungerechtigkeit hervorgerufen haben. Von gleichen Entwicklungschancen kann nicht mehr die Rede sein. Zwischen Prekariat und Eliten ist die vertikale Durchlässigkeit verloren gegangen, der Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten schrumpft und dies unverkennbar als Auswirkung bewussten Regierungshandelns.
Die auf Zeit herrschenden, schlecht bezahlten Verwalter haben Deutschland – Jahrzehnt für Jahrzehnt – immer weniger als jenes biblische „Pfund“ angesehen, das ihnen treuhänderisch übergeben wurde, um es zu mehren, sondern es stattdessen – mit Blick auf Wählerstimmen und Parteispenden – mit vollen Händen verteilt, dabei durchaus bei arm und reich für eine gewisse Zeit Freude ausgelöst, aber unglücklicherweise und grob verantwortungslos die Substanz verspielt. Von der nicht verteidigungsfähigen Bundeswehr über die maroden Schulen in denen nicht nur Mangel an der materiellen Ausstattung, sondern vor allem auch an Lehrkräften herrscht, bis hin zu den insolventen Kliniken, den kaputten Autobahnbrücken, zum Wohnungsmangel und nicht zuletzt auch zur wachsenden Inflation, explodierenden Energiepreisen und explodierenden Schuldenbergen erweist sich dieses Land als kaputt, zerstört, ausgelaugt und dringend sanierungsbedürftig.
Ein König in der Erbmonarchie, der so das wertvolle Eigentum verschleudert, zerstört und vernichtet, wäre längst vom Nachfolger in der Rangreihe auf die eine oder andere Weise vom Thron gestoßen worden. Ein Herrscher im demokratischen Staat hat dies nicht zu befürchten, denn auch sein Nachfolger erbt ja nicht „das Reich“, sondern nur den Verwalterjob, der – wenn der Blick auf die Wählerstimmen den Blick auf das große Ganze erst einmal verstellt hat – nicht mehr anders kann, als das Verhalten des Vorgängers nachzuahmen, wenn nicht gar zu übertreffen.
Es geht nicht mehr darum, den ELSE-Fall im politischen Handeln vorherzusehen und Vorsorge zu treffen, den drohenden Absturz zu vermeiden. „Das trifft mich ja nicht“, sagt sich der herrschende Verwalter, wollte ich Vorsorge treffen, müsste ich mich unbeliebt machen, Zustimmung einbüßen und auf die Wiederwahl verzichten. Weil die selbst aufgerissenen Löcher aber immer weniger mit immer noch mehr neu aufgerissenen Löchern zu stopfen waren, sanken die Wahlergebnisse der einst großen Volksparteien alle vier Jahre ein Stück weiter in den Keller, bis es erforderlich wurde, statt Zweier-Koalitionen mit der kleinen FDP (später auch schon einmal mit den kleinen Grünen) einzugehen, sich mit großen Koalitionen so lange es irgend möglich war über Wasser zu halten und schlussendlich zum Machterhalt den Strohhalm der Dreier-Koalition zu ergreifen.
Damit hat sich ein neuer Herrscher-Typ in der deutschen Demokratie etablieren können: Der Ideologe.
Die Attraktivität der grünen Ideologie lag und liegt für die Wähler lag darin, dass in der allgemeinen Politikverdrossenheit über die herrschenden Verwalter eine neue, radikale und dabei sogar erzkonservative Stimme auftauchte, die das erhoffte, bessere Leben nicht länger nur über noch mehr Wachstum zu schaffen versprach, sondern über die Bewahrung der Schöpfung, über das Leben im Einklang mit der Natur und mit wahrer Friedensliebe paradiesische Zustände herstellen wollte. Ohne hier näher darauf einzugehen, wo der Ursprung der Theorie vom menschengemachten Klimawandel zu verorten ist, erkannten die Grünen in dieser Thematik die magische Macht der in einer fernen Zukunft drohenden, alles vernichtenden Gefahr, mit der es den religiösen Herrschern schon seit Jahrtausenden gelungen war, sich die Menschen gefügig zu machen und nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen.
Im Gegensatz zu Union und SPD, die zwar auf die Stimmen unterschiedlicher Wählerkreise abzielten und einerseits den Wirtschaftsinteressen, andererseits den Arbeitnehmer- und Konsumenten-Interessen Priorität einräumten, dabei aber übergeordnete Interessen Deutschlands, vor allem auch seinen gesellschaftlichen Zusammenhalt im Auge behielten – zumindest solange bis die Grünen als ernsthafte Konkurrenz in Erscheinung traten und grüne Zielsetzungen immer stärker auch in der Programmatik von SPD und Union auftauchten – sind die Grünen ausschließlich ihrer Ideologie verhaftet, die ihnen, wie übergroße Scheuklappen, den Blick auf alles verwehrt, was außerhalb ihrer Fokussierung auf Klimapanik, Gender-Mainstream, Waffenhilfen für die Ukraine und den offen zu haltenden deutschen Grenzen liegt.
So stürmen sie blind vorwärts und hinterlassen, schon lange bevor der Klimawandel Schaden anrichten könnte, nichts als verbrannte Erde.
Die Schwäche der Demokratie, das Fehlen einer Notbremse, hat es den Grünen ermöglicht Deutschland nur noch als Instrument zur Durchsetzung ihrer Ideologie anzusehen und entsprechend zu instrumentalisieren. Es war das neidische Schielen der vorherigen Verwalter und ihrer Konkurrenten auf den harten Bänken der Opposition auf die Themen der Grünen und der Versuch, diese ebenfalls zu besetzen, um wenigstens einen Teil des grünen Stimmpotentials von dort abzuziehen, was es dieser Partei der Kinderbuchautoren und Studienabbrecher, der dürren Veganer und der fülligen Nanas ermöglicht hat, zum Kristallisationskern und richtungsbestimmenden Mittelpunkt einer Koalition zu werden, die ausschließlich um des Machterhaltes Willen über die bereits erkennbaren katastrophalen Folgen ihres Kurses weiterhin stur hinwegzusehen gedenkt.
Der Koalitionsausschuss war doch keine Kurskorrektur. Er war ein punktuelles Präzisieren und damit das Festklopfen und Zementieren von Teilzielen dieser Koalition, deren Denken sich auf das Wohlergehen von Ländern konzentriert, die, laut Annalena Baerbock, hunderttausende von Kilometern von Deutschland entfernt, irgendwo hinter dem Monde zu finden sein mögen.
Lassen Sie mich also nach dieser Vorrede die nachstehende Hypothese aufstellen:
Anders als der Monarch, der gehalten ist, das Familienerbe zu bewahren und zu mehren, hat der demokratische Herrscher keinen persönlichen Anteil, weder einen Gewinn, noch einen Verlust, am Ergebnis seines politischen Handelns.
Das Interesse des Herrschers in der Demokratie gilt folglich primär der Gunst einer ausreichenden Mehrheit unter den Wählern.
Diese Mehrheit ist über leichtfertige, verantwortungslose Wahlversprechen leichter zu erreichen als über den Nachweis eines für die Gesellschaft insgesamt erfolgreichen Regierens, zumal dieser im Voraus gar nicht zu erbringen ist.
Die Demokratie begünstigt daher verantwortungsloses Handeln gegenüber den Bürgern und der Substanz des Staates.
Eine gespaltene, inhomogene Gesellschaft, in der Partikularinteressen über dem Gemeinwohl stehen, ist dafür der ideale Nährboden.
Aus dieser Hypothese kann, zur Heilung der Situation, eine Maxime abgeleitet werden.
Da die Demokratie explizit bestimmt, dass die Staatsgewalt vom Volke auszugehen hat, ist die Resilienz des Volkes gegenüber Angriffen verantwortungsloser Herrscher auf die Demokratie zu stärken.
Eine Aufklärungs- und Bildungsstrategie, die dies zum Ziel hätte, ist jedoch vom verantwortungslosen Herrscher nicht zu erwarten und auch unter verantwortungsbewussten Herrschern eine Aufgabe, die eine sehr lange Zeit benötigt, um wirksam werden zu können. Sehr viel schneller funktioniert politische Bildung, wenn politische Einflussnahme über Volksentscheide verspricht, unmittelbare Wirkungen zu erzielen, weil die Teilnahme am Plebiszit zumindest eine rudimentäre Beschäftigung mit den zur Abstimmung stehenden Themen, sowie eine individuelle Entscheidung in einer konkreten Angelegenheit erfordert und ein tieferes Eindringen in die Materie befördert.
Es sollte daher dringend darauf hingewirkt werden, dass bundesweite Volksentscheide auch in Deutschland ermöglicht werden und damit dem Volk eine Möglichkeit gegeben wird, ganz dezidiert da die Notbremse zu ziehen, wo ein verantwortungsloser Herrscher dabei ist, Schaden anzurichten.
Um den Verwalter auf Zeit zu einem sorgfältigen und umsichtigen Handeln anzuhalten, sollte seine persönliche Verantwortung stärker sichtbar und spürbar werden.
In Frage käme hier zum Beispiel die persönliche Haftung für die Folgeschäden verfassungswidrigen Handelns im Amt, einschließlich der Verabschiedung verfassungswidriger Gesetze, wofür ihm ggfs. gegenüber dem Parlament ein aufschiebendes Veto-Recht eingeräumt werden müsste.
Andererseits käme eine Erfolgsbeteiligung am Ende jeder Amtsperiode in Betracht, die sich als Promillewert aus dem Vergleich des materiellen (und immateriellen) Vermögens des Bundes zu Beginn und Ende der Amtszeit ergibt, wenn in dieser Periode ein „Bilanzgewinn“ erwirtschaftet werden konnte. Warum soll in der Politik nicht möglich sein, was in der Wirtschaft als Bonus für den Beitrag der Führungskräfte zum Unternehmenserfolg längst funktioniert?