Was hat Olaf Scholz mit Marcus Iunius Brutus gemein?
Nichts natürlich. Ist ja ein ganz anderes Jahrtausend. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass auch William Shakespeare, als er die Rede des Marcus Antonius in dichterischer Freiheit nachempfunden hat, schon in einem ganz anderen Jahrtausend lebte. Von daher ist die darin oft wiederholte Floskel: „… und Brutus ist ein ehrenwerter Mann“, eine rhetorische Stilübung, gezielt auf das Theaterpublikum der seinerzeitigen Zeit, das verstehen sollte, es sei eher das Gegenteil der Fall.
Bitte stellen Sie daher meine Aussage: „Der Kanzler ist ein ehrenwerter Mann“, nicht mit Shakespeare, Marc Anton, oder gar Brutus in eine Reihe. Ich sage das gänzlich ohne Falsch und Hintergedanken, und ich sage es, weil zwei Nachrichten aus den letzten Tagen verlangen, etwas zur Ehrenrettung des Ehrenwerten beizutragen.
Es sind zwei große Katastrophen zu betrachten, die beide sehr viel mit Wasser zu tun haben. Einmal die Sprengung der North-Stream-Pipelines, die sich schon länger unter Wasser befanden, und zum anderen die Sprengung des Kachowka-Staudammes, die links des Dnipro mehr und rechts davon weniger Gelände für eine gewisse Zeit unter Wasser gedrückt hat.
Nach allem, was wir wissen – und wir wissen längst nicht alles – war der Kanzler in beiden Fällen nicht persönlich vor Ort, als die Sprengungen erfolgten. Davon steht nichts in seinem Kalender. Er muss aber auch nicht selbst vor Ort gewesen sein. Ihm stehen, kraft seines Amtes, viele Augen und Ohren zur Verfügung, derer er sich bedienen kann, und weitere Augen und Ohren, die sich ihm bereitwillig andienen, um ihre Beobachtungen und Erkenntnisse mit ihm zu teilen.
Heute habe ich im Qualitätsmedium ZEIT gelesen, dass die Augen und Ohren des transatlantischen Freundeskreises so freundlich waren, „Deutschland“ schon im Sommer letzten Jahres davon in Kenntnis zu setzen, dass ein ukrainisches Kommando, ohne Wissen des ukrainischen Präsidenten plane, die Ostsee-Pipelines mittels eines Segelbootes und Heliumtanks in die Luft das Wasser zu sprengen.
Die Zeit hat das wiederum von der Washington Post, welche auf Geheimdokumente zugegriffen hat, die mutmaßlich vom US-Nationalgardisten Jack Teixeira im Internet in einem geschlossenen Chat-Room zugänglich gemacht wurden. Diesen Dokumenten wiederum habe die Washington Post entnehmen können, dass die CIA drei Monate vor der Ausführung des Anschlags wiederum von einem nicht genannten europäischen Geheimdienst über die Anschlagspläne informiert worden sei und ihrerseits ihre europäischen Verbündeten, ausdrücklich auch Deutschland, in Kenntnis gesetzt habe.
Wann der Kanzler von den deutschen Diensten über die Erkenntnisse der CIA, die wiederum von einem europäischen Geheimdienst informiert worden war, informiert wurde, hat die ZEIT nicht erwähnt.
War es vor dem Besuch des Kanzlers in Washington, bei dem ihm vom Präsidenten mitgeteilt wurde, dass die Pipelines aufhören werden zu existieren, sobald die Russen die Ukraine angreifen, oder war es erst nach diesem Besuch? Das macht zwar einen kleinen Unterschied, ändert jedoch nichts am ehrenhaften Verhalten des Kanzlers, der weder begonnen hat, alarmistisch Amok zu laufen und die ganze Welt vom Vorhaben in Kenntnis zu setzen, noch sonstwie erkennen ließ, dass er, um den Preis eines kleinen, egoistischen Vorteils für Deutschland, die Pläne der Ukraine stören und damit ihren Befreiungskampf erschweren wollte.
Schweigend hat er, um der großen Sache willen, den Schaden erduldet und dann gemeinsam mit Habeck und Graichen die Gasversorgung im neuen Deutschland-Tempo auf LNG umgestellt. Das ist wahre Größe und aller Ehren wert. Die Veröffentlichung dieser Wahrheit in der ZEIT – es ist angesichts der sinkenden Umfragezahlen der SPD wirklich höchste Zeit dafür gewesen – zeigt dem deutschen Volke nun endlich, was es an diesem Kanzler hat, der aus lupenreinem Edelmut alles auf uns genommen hat, um dem Freund in Kiew beizustehen. Da möchte man doch spontan ausrufen: „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der dritte.“
Ganz anders nun beim Geschehen am Kachowka-Staudamm.
Hier brauchte der Kanzler weder dienstbare Augen noch Ohren. Die Sprengung passte so genau in sein festgefügtes Weltbild, dass er ohne schuldhaftes Zögern Zeugnis ablegen konnte:
„Das ist ja auch etwas, das sich einreiht in viele, viele der Verbrechen, die wir in der Ukraine gesehen haben, die von russischen Soldaten ausgegangen sind. Deshalb ist das etwas, das eine neue Dimension hat, aber zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt.“
So bietet der Kanzler Putin erneut mutig die Stirn, der mit der Sprengung des Staudamms zwar ganz klar hauptsächlich die eigenen Positionen in der Ukraine beschädigte, aber das doch nur, um argumentieren zu können: „Seht her! Ich habe den Schaden! Die Ukraine war das und niemand sonst.“
Doch der Kanzler durchschaut diesen durchsichtigen Plan, bei dem es sich nur um den letzten, verzweifelten Versuch handelt, Zweifel in den Köpfen und Herzen der Freunde Selenskis zu säen, in der Hoffnung, dadurch könne die Flut der westlichen Waffen noch eingedämmt werden, bevor an der Front alle Dämme und brechen und ukrainische Soldaten die ukrainische Flagge auf dem Kreml hissen.
Mag sein, dass Putin inzwischen geschwächt erscheint, doch ändert das nichts am geradezu heroischen Verhalten des Kanzlers, weiß doch jedermann, dass verwundete Bären unberechenbar werden – und wenn so ein Bär noch dazu über Atomwaffen verfügt, dann ist das furchtlose Zeigen der klaren Kante eben genau das, was einen „ehrenwerten Mann“ auszeichnet und über alle Zweifel und Anfeindungen erhaben werden lässt.
Das ist nicht mehr der biedere, von Erinnerungslücken geplagte Scholzomat vergangener Tage. Das ist ein völllig neuer Scholz!
Nur seine tiefe Bescheidenheit verbietet es, ihn, wie er es wahrlich verdient hätte, von nun an als „Stolzomat“ zu ehren.