Sternstunde der Demokratie, des Parlamentarismus und des alternativlosen Pragmatismus

Mit vor Staunen weit offenem Mund, mit vor heiligem Schrecken zu Berge stehenden Haaren, zugleich in tiefer Demut und Bescheidenheit, stehe ich vor dem Wunder der jungfräulichen Geburt unseres neuen Infektionsschutzgesetzes und widerrufe jegliche Kritik, die ich je am Zustand unserer Demokratie, des Parlaments und der Gewaltenteilung geäußert habe und, im vorauseilender Ehrfurcht auch jegliche Kritik, die ich in meinem späteren Leben vielleicht noch zu äußern ich mich hinreißen lassen sollte.

Heldinnen und Helden!

Schnell wie die Windhunde, und hundertmal schneller als es mir je möglich gewesen wäre, haben jene Geistesgrößen, die wir uns zu unseren Vertretern erwählt haben, einen umfangreichen Gesetzentwurf schwerstwiegenden Inhaltes, den sie nie zuvor zu Gesicht bekommen hatten, gelesen, analysiert, interpretiert und vollständig verstanden, während sie gleichzeitig schon damit befasst waren, über das zu diskutieren, was als frische Drucksache vor ihnen auf den Tischlein lag.

Ich weiß nicht, wie lange ich gebraucht hätte, dieses wunderbare Gesetz in allen seinen Wirkungen zu verstehen, die von ihm ausgehenden, heilsamen Wirkungen für den gesunden Volkskörper gegen die darin lauernden Gefahren ins Verhältnis zu setzen, eine Abwägung zu treffen und letztlich meine Gewissensentscheidung zu fällen. Ich weiß nicht bei wie vielen Experten ich hätte nachfragen müssen, wie viele Seiten Fachliteratur ich hätte verschlingen müssen, um mir am Ende sicher zu sein, die richtige Entscheidung zu treffen. Doch bin ich gewiss, vier Wochen hätten mir vermutlich nicht ganz gereicht, um dahin zu kommen, wo unsere hochgebildeten, schnellstdenkenden, selbst jeder bekannten Form künstlicher Intelligenz weit überlegenen Supermänninnen und Supermänner auf den blauen Sesseln im Plenarsaal des Reichstages innerhalb einer Stunde angekommen waren. Ein klares „Ja“ der Mehrheit der Regierungskoalition!

Wie es den Rednern gelungen sein mag, die gesamte Komplexität der Materie, die ja nicht nur den medizinischen und epidemiologischen Themenkreis umfasst, sondern zugleich schwerwiegendste Grundsatzentscheidungen bezüglich des vom Grundgesetz abzuleitenden Rechtskanons erforderte, in ihren auf 120 Sekunden beschränkten Redebeiträgen so klar und prägnant in Worte zu fassen, und wie es den Zuhörenden gelungen sein mag, aus diesen Sekundenschnipseln der Argumentation das ganze, vollständige Bild der Veränderungen zu generieren, ist und bleibt mir ein Rätsel. Vermutlich sind unsere Parlamentarier, nachdem sie bei Eintritt in die heiligen Hallen mit dem feurigen Geist der Demokratie getauft wurden, mit bestimmten Schaltkreisen im Gehirn ausgestattet, die fraktalistisches und holografisches Wahrnehmen in Perfektion kombinieren, so dass auch der kleinste Schnipsel eines hingenuschelten Halbsatzes von Angela Merkel schon das ganze komplette, von hinten her gedachte Gedankengebäude vor ihnen strahlend erstehen lässt.

So ist es gelungen – und das ist ein Wunder! Ein Wunder, wie es in Lourdes noch nie in dieser Größe zu bestaunen war, ein Wunder, so groß, dass ich mich wundern würde, wenn der Reichstag zu Berlin nicht schon in der nächsten Woche von gewaltigen Strömen unzählbarer, heilsuchender Pilger besucht würde, so dass auf dem Rasen vor dem Reichstag die Devotionalienbuden mit Holzsplittern aus den Flügeln des Bundesadlers und winzigen Stofffetzen aus den Hosenanzügen Merkels wie die Pilze aus dem Boden schießen und ein gewaltiges Wirtshaus, die Kuppel des Reichstages noch überragend, in geradezu chinesicher Geschwindigkeit errichtet würde, um den frommen Pilgern das leibliche Wohl zu bereiten und einen Platz, wo der müde Pilger seinen vom Schein der allmächtigen Heiligkeit schier zerplatzenden Kopf zur Ruhe betten kann.

Mensch, Maier!

So was gibt es doch gar nicht!

Aber sie haben es geschafft. Sie haben es nach vollbrachter Zustimmung auch noch geschafft, den ebenso überrumpelten Bundesrat zur eiligsten Zustimmung zu bewegen und dann ist es unserem gar nicht hoch genug zu lobenden Herrn Bundespräsidenten Frank  Walter Steinmeier gelungen, das Werk nicht in langen vier Wochen, wie ich armes Würstchen für mich in Anspruch genommen hätte, auch nicht in einer Stunde, wie sie die Supermänninnen und Supermänner im Plenarsaal für sich beansprucht hatten, sondern im Nu – vermutlich mit einem Röntgenscanner, wie ihn die Geheimdienste verwenden und selbst mehrseitige und gefaltete Briefe durch das geschlossene Kuvert hindurch zu lesen – den gesamten Inhalt zu adaptieren, zu verstehen und gut zu heißen, so dass die Unterschrift selbst weniger Zeit benötigte als das Aufschrauben des dafür vorgeshenen bundespräsidialen Füllfederhalters.

Wer bin ich, dass ich diese übergroßen Geistesgrößen kritisieren dürfte? Diese wundervollen Hirten unseres Volkes, die uns zur grünen Weide führen und uns so innig lieben, dass sie ihre außerordentlichen, exorbitanten Fähigkeiten voll und ganz in unseren Dienst stellen, statt daraus für sich selbst Kapital zu schlagen. Müssen sie nicht eine Seele haben, so rein, wie einst die des Franz Josef Strauß unmittelbar nach der Feier der Heiligen Eucharistie.

Da sollten die Herren Gauland und Lindner sich lieber im Schweigen üben, statt mit ihren kleinlichen Einwänden zu versuchen, Gefahren an die Wand zu malen. Sie outen sich damit doch bloß als solche, die noch nicht der vollen Wirksamkeit des heiligen Geistes der Demokratie unserer Tage anteilig sind.

Auf! Lasst uns singen und lobpreisen! Denn uns ist gestern vom Glashimmel des Reichstages das Heil in den Schoß gefallen.

In freudiger Erwartung wollen wir nun die nächste von diesem Bundestag zu beschließend Verlängerung der nationalen Tragweite einer pandemischen Dingsda herbeisehnen, und alle, die gestern freudigen Herzens und per Fraktionszwang gereinigten Gewissens ihr „Ja“ in den Hut geworfen haben, in unsere Gebete einschließen, ihnen ein langes Leben wünschen, auf dass es ihnen vergönnt sei, die Wirkungen ihres Wirkens am eigenen Leibe zu erfahren.

Ich bin immer noch fix und fertig!

So heilt man Grundgesetzwidriges quasi im Handstreich. Wer hätte je gedacht, dass dies auch nur ein einziges Mal gelingen könnte! Daraus muss man doch zwangsläufig schließen, dass nur eine ganze Folge von ununterbrochenen Amtszeiten der gleichen Person zu jener Reife und mentalen Kraft führen kann, die selbst Berge zu versetzen fähig ist.

Wenn schon der Griff nach der Weltherrschaft getan werden muss, dann jetzt! Die Voraussetzungen sind optimal.