Pistorius und das kriegstüchtige Deutschland

Es hat eine kontroverse Diskussion um die Erkenntnis des ersten deutschen Verteidiungsministers – nach drei Ministerinnen in Folge – gegeben, Deutschland sollte wehrhaft und kriegstüchtig sein.

Mit dem „Wehrhaft-Werden“ ist es ja nicht getan. Sollte es darauf ankommen, muss das „Wehrhaft-Sein“ bereits erreicht sein.

An dieser Stelle über die segensreichen Wirkungen des Pazifismus zu streiten, die spätestens dann eintreten, wenn Krieg ist, und keiner – auch der Feind nicht – hingeht, wäre müßig.

Die beste Versicherung dafür, dass kein Aggressor das Kriegsbeil ausgräbt, ist immer noch die abschreckende Wehrhaftigkeit. Die ist jedoch nicht umsonst zu haben. Keine Versicherung ist umsonst zu haben.

Bei vielen Versicherungen gibt es so etwas wie einen Selbstbehalt, der dazu führt, dass der von einem kleineren Schadensfall Betroffene die Sache erst einmal selbst in Ordnung bringt, während die Versicherung erst einspringt, wenn die Schadenshöhe den Selbstbehalt übersteigt.

Damit kommen wir an das Problem der deutschen Wehrhaftigkeit. Mit  etwas Fantasie lässt sich nämlich auch die NATO als eine Versicherungsgesellschaft interpretieren. Zumindest ist noch zu erkennen, dass sie einst als Versicherung auf Gegenseitigkeit in der Rechtsform der Genossenschaft gegründet wurde.

Das Prinzip der Genossenschaft ist, dass die Genossen gemeinsam  nach vereinbarten Anteilen „beschaffen und bezahlen“, was die Einzelnen im Bedarfsfall brauchen, bzw. nutzen. Wobei der Einzelne die erforderlichen Investitionen aber nicht – oder nur unter erheblichen Belastungen – alleine stemmen könnte.

Mit dem Beitritt zur NATO hat sich Deutschland in diese Genossenschaft eingebracht. Damit ist die Notwendigkeit entfallen, Deutschland zu Lande, zu Wasser, zur See so weit aufzurüsten, dass es alleine in der Lage gewesen wäre, einem Angriff des versammelten Ostblocks standzuhalten. Nicht umsonst hieß es zu meiner aktiven Bundeswehrzeit noch scherzhaft: „Die Bundeswehr ist ein Verein junger Männer, mit der Aufgabe, den Feind durch die Vielfalt ihrer Uniformen so lange zu verwirren, bis richtige Soldaten kommen.“

Konkret hat das in der Entwicklung des Bündnisses und der darin eingebundenen Bundeswehr dazu geführt, dass die eigenen Fähigkeiten zur Verteidigung Deutschlands (Grundgesetz Art. 87a „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“) immer weiter geschwunden sind, während Fähigkeiten für Auslandseinsätze und Beistandsfälle größeren Raum eingenommen haben, wobei dabei auch nie das ganze Bündel der für ein sinnvolles Zusammenwirken  erforderlichen Fähigkeiten auf- und ausgebaut wurde, sondern immer nur einzelne Komponenten, die durch Komponenten, die von anderen Bündnispartnern vorgehalten werden, ergänzt werden. Ein Paradebeispiel für die Verteidigungsgenossenschaft NATO sind die AWACS-Fernaufklärungsflugzeuge. 14 Stück davon sind in Deutschland, in Geilenkirchen stationiert, doch die Bundeswehr hat darauf keinen Zugriff, denn die Flugzeuge stehen unter direktem NATO-Kommando – und nur etwa ein Drittel der Besatzung besteht aus Angehörigen der Bundeswehr.

Wenn also der IBUK (Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt), im Frieden ist das der Verteidigungminister, heute befehlen wollte, AWACS Aufklärungsflüge an der polnischen Ostgrenze durchzuführen, um einige hundert Kilometer weit in den russischen Luftraum zu blicken: Keine der 14 in Geilenkirchen stationierten Maschinen würde sich in die Luft erheben.

Da es sich bei den AWACS-Maschinen um eine essentielle Fähigkeit handelt, die im Kriegsfall unverzichtbar ist, um in Echtzeit effektive Reaktionen auf feindliche Aktivitäten auszulösen, kann – nur an diesem Beispiel, und davon gibt es durchaus mehrere – abgelesen werden, dass die Bundeswehr, sobald sie auf sich allein gestellt operieren müsste, weder wehrhaft noch kriegstüchtig ist, bzw. wäre.

Daran können die markigen Forderungen des amtierenden Verteidigungsministers nichts ändern.

Ob die Bundeswehr im Verbund der NATO-Streitkräfte in einem Konfliktfall die ihr zugewiesenen Aufgaben erfüllen könnte, kann nur spekulativ beantwortet und aus den Auswertungen der regelmäßig stattfindenden gemeinsamen Kriegsübungen abgelesen werden. Ich will mich dazu an dieser Stelle nicht festlegen. Bemühungen, die Bundeswehr zu modernisieren, die Ausrüstung zu verbessern, das Beschaffungswesen zu reformieren sind zu erkennen, auch wenn die Konturen dessen, was mit dem 100-Milliarden-Wumms erreicht werden soll, noch nicht wirklich sichtbar geworden sind.

Pistorius hat aber nicht nur von der Bundeswehr gesprochen, die kriegstüchtig werden müsse. Er sagte dazu: „Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.“

… und die Gesellschaft …

Das, irgendwie am Rande eingeflossen, ist meines Erachtens jedoch die wichtige Botschaft, die bedrohlich wirkt, weil dieses „Aufstellen“ der Gesellschaft eine absolutistische Attitüde erkennen lässt, die mit den Grundsätzen der Demokratie wenn überhaupt, dann nur wenig zu tun hat. Es ist die Botschaft eines Feldherren, der wie selbstverständlich die Zivilisten in seine strategischen und taktischen Planungen einbezieht, und zwar nicht als gleich- oder stimmberechtigte Subjekte, sondern als Objekte seiner Befehlsgewalt.

Hätte er gesagt, wir müssen die Gesellschaft  auf den Ernstfall vorbereiten, dann wäre das eine ganz andere Aussage gewesen, in der so etwas wie Fürsorge für die Bevölkerung mitschwingt, doch er hat faktisch gesagt: Wir müssen die Gesellschaft für den Krieg aufstellen.

Er ist noch nicht so lange Verteidigungsminister, dass man dies als den gewohnten und nicht mehr hinterfragten Offiziers-Jargon abtun und entschuldigen könnte. Er muss sich der Bedeutung dieser Formulierung bewusst gewesen sein und sie ganz gezielt eingesetzt haben. Und dass er mit „Wir“ in diesem Zusammenhang nicht das Volk, sondern nur die just amtierende Regierung und deren Think-Tanks und folgsamen Medien gemeint haben kann, kann nur mit einem gehörigen Maß an Naivität in Zweifel gezogen werden. Dass dieses „müssen“ nicht Ausfluss eigener Erkenntnis gewesen sein sollte, sondern zum Ausdruck bringen könnte, dass der Befehl, der umgesetzt werden muss, von einer höheren, außerhalb des Wirkungsbereichs des Grundgesetzes angesiedelten Autorität erlassen wurde, ist hingegen wiederum eine  rein spekulative Überlegung, zu der ich mich an dieser Stelle ebenfalls nicht festlegen will.

Aufstellen – konkret

Die Kriegstüchtigkeit der Gesellschaft ist eine Frage der Mentalität. Die Mentalität einer Gesellschaft so zu verändern, dass sie einen Krieg befürwortet, zumindest aber zur unerschütterlichen Verteidigungsbereitschaft gebracht wird, ist in erster Linie eine Frage der Propaganda, die aber, um wirksam zu sein, durch tiefgreifende und für jedermann sichtbare Maßnahmen unterstützt werden muss.

Die Propaganda wird dafür sorgen, dass das Feindbild – und das ist immer noch Russland – gefestigt und verstärkt werden muss. Es gilt darauf zu achten, wie sich die Sprachregelung verändern wird, wann aus dem Machthaber im Kreml der Diktator im Kreml und aus dem Diktator der blutrünstige Diktator wird, wann russische Soldaten zu Terroristen und Terroristen zu Monstern gemacht werden. Es gilt darauf zu achten, welche Pläne Putins zur Eroberung der EU aus Geheimdienstkreisen veröffentlicht werden, ob es Hinweise auf geplante Verschleppungen und Zwangsumsiedlungen, ob es Hinweise auf Listen mit Russlandfeinden gibt, die nach dem Einmarsch verhaftet und von Kriegsgerichten abgeurteilt werden sollen, ob es Hinweise auf die Vernichtung der Industrie geben wird und Hinweise darauf, dass den Soldaten der Besatzung zum Ausgleich für den bescheidenen Sold ein zeitlich begrenztes Plünderungsrecht eingeräumt werden soll. Es ist darauf zu achten, welche Erzählungen von Kriegsverbrechen und Greueltaten aus dem Ukraine-Krieg demnächst noch auftauchen werden, um so viel Angst zu schüren, dass der Wunsch in der Bevölkerung wächst, diese Hunnen zu vernichten.

Neben der Propaganda wird die Gesetzgebung dafür sorgen, dass jede Art von Kollaboration mit dem Feind, von den frühesten Anfängen an – und die Kollaboration beginnt ja mit dem Versuch, die Motive des Feindes zu ergründen und vielleicht sogar Verständnis dafür zu entwickeln – unerbittlich verfolgt und hart bestraft werden kann. Abschreckende Beispiele werden schnell geschaffen, um „der Gesellschaft, die aufgestellt werden soll“, zu zeigen, dass es der Regierung todernst ist.

Fraglos wird die Debatte um die Reaktivierung der Wehrpflicht (die ja nicht abgeschafft, sondern nur ausgesetzt ist) wieder großen Raum einnehmen müssen um dann per einsamer Regierungsentscheidung pro Wehrpflicht beendet zu werden.

Es ist darauf zu achten, wann damit begonnen werden wird, längst eingemottete Luftschutzbunker wieder in betriebsfähigen Zustand zu versetzen und den Bau neuer solcher Anlagen in Angriff nehmen. In Erinnerung an die Feuerstürme der Bombennächte des Zweiten Weltkriegs werden Luftschutzbeauftragte für jeden Häuserblock ernannt werden, die alle Dachböden und Speicher inspizieren werden und dann anordnen können, alle dort angesammelten brennbaren Materialien zu entsorgen, sowie geeignete Kellerräume als Luftschutzkeller zu beschlagnahmen und mit dem Notwendigsten auszustatten.

Kinder und Jugendliche werden aufgefordert, sich Jugendorganisation zum Schutz der Demokratie anzuschließen, wo sie nicht nur politisch indoktriniert sondern auch in Kampfsportarten ausgebildet und in Wehrertüchtigungscamps auf die Vaterlandsverteidigung vorbereitet werden. Wer sich nicht anschließt, wird auf subtile Weise sanktioniert werden. Das muss man gar nicht aussprechen, das denken sich die Eltern schon von alleine, wenn sie ihre Kinder ermuntern, doch mitzutun.

Die organisatorische Anbindung der zivilen Katastrophenschutz- und Sanitätsorganisationen an die Befehlsketten der Bundeswehr wird verstärkt und in regelmäßigen gemeinsamen Übungen erprobt werden.

Es ist darauf zu achten, wann die Bundeswehr damit beginnt, aggressiv Eigenwerbung zu betreiben, wann damit begonnen wird, am Tag der Deutschen Einheit mit Truppenaufmärschen vor dem Reichstag die Wehrbereitschaft aller Waffengattungen zu demonstrieren.

Dies alles muss zwangsläufig begleitet werden, von der Wiederherstellung dessen, was über Jahrzehnte als „Volksgemeinschaft“ verpönt war. Damit einhergehen wird ebenso zwangsläufig eine neue Fremdenfeindlichkeit, wofür ich – am Kipppunkt der Migrationsentwicklung – zumindest schon rhetorische Anzeichen erkenne, nachdem die Abschiebung von Menschen ohne Bleiberecht und die bessere Kontrolle der Staatsgrenzen plötzlich an die Stelle des „Refugees welcome“ und des „Wir schaffen das!“ getreten sind.

 

Noch einmal zurück zur Versicherungs-Analogie.  Dass Feuerwehrleute gelegentlich als Brandstifter gefasst werden, ist unbestreitbar belegt. Dass Glasermeister kleine Jungs angestiftet haben sollen, Scheiben einzuwerfen, ist zumindest anekdotisch überliefert, dass jedoch Versicherungen Schadensfälle provozieren um Neukunden zum Abschluss zu bewegen, erscheint vollständig ausgeschlossen. Wenn die NATO als Versicherung auf Gegenseitigkeit also eine Bedrohung wahrnimmt, dann gibt es diese Bedrohung auch. Anderes erscheint vollständig ausgeschlossen.

Allerdings ist es durchaus auch so, dass nicht alle, die von einer Einbruchserie in der Nachbarschaft erfahren, deswegen auch eine Versicherung abschließen. Es soll auch die Fälle geben, in denen der Hausbesitzer die Haustüre verstärkt, die Fenster im Ergeschoss vergittert und weitere technische Maßnahmen, einschließlich Video-Überwachung und Alarmanlage installiert, um sich potentiellen Einbrechern als unbesiegbar zu präsentieren.

Aufrüstung ist also auch eine logische Reaktion des potentiellen Feindes, wenn er vom potentiellen Gegner vermehrt als Bedrohung dargestellt wird. Mit zunehmender Aufrüstung wird der potentielle Feind allerdings erst recht als Bedrohung wahrgenommen. So kann eine Spirale in Gang gestetzt werden, an deren Ende in einigen Fällen der Präventivschlag  steht.

Davon hat die Versicherung aber doch keinen Gewinn?

Das müsste man genauer betrachten. Vor allem müsste man akribisch nachforschen, bei welchen anderen Unternehmen der Hauptaktionär der Versicherung noch engagiert ist und ob deren Geschäftsergebnis nicht direkt vom Bestehen einer Bedrohung und noch mehr von einem tatsächlich ausgebrochenen heißen Krieg abhängt. So etwas ist vorstellbar.