Inflation der Zeitenwenden

Ist es Ihnen auch schon aufgefallen?

Großes tut sich.
Größeres zeichnet sich ab.

Wir erleben eine Zeitenwende, und, die Welt, wie wir sie kennen, wird nie wieder sein, wie sie war.

Kaum ein Politchen*), das den Mund auftut, verschont uns mit diesen großkotzigen Sprüchen. 

Die wohlfeilste Wendung ist die von jener Welt, die nie wieder sein wird, wie sie war.

Dem will ich mal entgegensetzen, dass die Welt sich in jedem Augenblick verändert, und zwar ganz erheblich.

Die Welt, das ist ja nicht nur die Springer-Zeitung dieses Namens. Die Welt ist auch nicht nur der Planet, auf dem wir leben. Die Welt, das ist alles, was der Mensch als Spezies zu erkennen in der Lage ist – doch nichts davon ist stabil. Selbst das Universum nicht, von dem wir wissen, dass es sich kontinuierlich ausdehnt. Es gibt kein Objekt im Raum, das nicht in jedem Augenblick seine Koordinaten verändert, und zwar so, dass es nie wieder an den gleichen Ort zurückkehren kann – und dennoch ist das keine Zeitenwende, sondern die Kontinuität der Veränderung in der Zeit.

Zeitenwende?

Was soll darunter verstanden werden? Wenn ich Zeitenwende höre, dann denke ich erst einmal an den Beginn unserer Zeitrechnung. Vor Christus – nach Christus. Es geht auch noch ein bisschen kleiner. Ich denke da an den Beginn der Eroberung das amerikanischen Kontinents durch europäische Soldaten und Missionare, dann denke ich an die Abspaltung der Lutheraner von der römischen Kirche, ich denke an die Erfindung des Buchdrucks, an James Watt und die Dampfmaschine, an Rudolf Diesel und den Selbstzünder, an den Beginn der Elektrifizierung, an den Beginn des Computerzeitalters.

Ich denke nicht an Napoleon, noch nicht einmal an die Französische Revolution, ich denke nicht an Bismarck und nicht an die Reichsgründung von 1871, ich denke weder an den Ersten, noch an den Zweiten Weltkrieg, ich denke nicht an den Vietnamkrieg, nicht an Irak, Syrien, Libyen, Afghanistan – und eben auch nicht an die Ukraine.

Herrscher und Beherrschte gibt es seit Beginn der Aufzeichnungen.

Veränderungen von Herrschafts- und Einflussgebieten gehören zur Menschheit wie das Ein- und Ausatmen. Der Wechsel zwischen kaltem und heißen Krieg, das Auf und Ab der Weltreiche, Sumerer, Ägypgter, Kelten, Perser, Griechen, Römer, Franken, Briten, USA, Sowjet-Union, China – das ist stinknormal. Das ist der „Kleinscheiss der Geschichte“.

Denn ein Prinzip gilt durchgehend für die Weltgeschichte (jedenfalls da, wo es ein Patriarchat gibt), und ist bis in unsere Tage am lebenden Beispiel zu beobachten:

Harte Zeiten schaffen starke Männer,
starke Männer schaffen gute Zeiten,
gute Zeiten schaffen schwache Männer,
schwache Männer schaffen harte Zeiten.

Der Satz gilt nach meiner Beobachtung durchaus auch für jene Frauen, welche die Herausforderungen harter Zeiten annehmen, doch auch diese sind nicht davor geschützt, in Dekadenz zu fallen, wenn die guten Zeiten keine Herausforderungen mehr bieten. Ich denke da zum Beispiel an den Unterschied zwischen Evita Perón und Claudia Roth, und bei den Männern an den Unterschied zwischen Otto von Bismarck und Heiko Maas.

Für die EU werden momentan die Zeiten wieder härter. Noch sind zu viele schwache Männer und Frauen dabei, die Errungenschaften der starken Männer zu verspielen und wollen einfach nicht bemerken, dass sich ein Mangel an Energie nicht durch Sprechakte beheben lässt. Sie beginnen gerade erst zu erkennen, dass ein Mangel an Verteidigungsfähigkeit sich nicht damit beheben lässt, dass Panzer schwangerengerecht umgebaut werden, wissen aber nicht, wie dieser Mangel anders zu beheben wäre. Sie sehen nicht das Fiasko, das mit dem einmal aus Bequemlichkeit in die Welt gesetzten „Wir schaffen das!“ angerichtet wurde, und klammern sich daran fest wie der Koala am Eukalyptuszweig, weil sie, wie der Koala, nun einmal darauf festgelegt sind.

Wo Robert Habeck schon erkennen lässt, dass sein inneres Kind vom inneren Mann allmählich verdrängt wird, einfach weil es harte Zeiten für ihn sind, die Energieversorgung Deutschlands gewährleisten zu müssen und dabei allem abschwören zu müssen, was ihn an den Platz gebracht hat, an dem er jetzt die Verantwortung trägt, sind viele andere noch weit davon entfernt.

Doch auch bei diesem Prozess, der die Grünen meines Erachtens zerreißen wird, wenn nicht vorher die Koalition platzt, handelt es sich nicht um eine Zeitenwende, es ist ein natürliches Prinzip, dass sich am Ende die Sachzwänge gegen die Wunschträume durchsetzen.

Wenn der Versuch Russlands, sich die Ukraine als Pufferzone zu erhalten und das Leben der russisch-stämmigen Bevölkerung im Donbass wieder zu normalisieren, schon als Zeitenwende angesehen werden soll, dann kommen wir aus den Zeitenwenden nicht mehr heraus. Dann war der Rückzug der USA aus Vietnam eine Zeitenwende, die Ausrufung des Kriegs gegen den Terror, mit allen Neben- und Nachwirkungen für Afghanistan, den Irak, Syrien und Libyen ebenfalls, dann müsste man, wegen der zur Durchsetzung anstehenden Parteiprogramme auch die Bildung der Ampel-Koalition in den Rang einer Zeitenwende erheben und den BREXIT noch viel mehr.

Politik, ob nun in Gestalt der Diplomatie oder ihrer Fortsetzung mit anderen Mitteln, ist aber nur „Business as usual“.

Der Wandel von Religionen, Ideologien und Philosophien steht auch nicht in Form von Meilensteinen der Zeitenwenden im Raum.

Als das Christentum Kraft erlangte, war es schon längst von den römischen Kaisern usurpiert und wurde ein Instrument der Machtausübung. Kommunismus und Marxismus sind ebenfalls nur da in großen Buchstaben an die Wände gemalt worden, wo sich herrschende Mächte ihrer bewältigten – und über die Philosophie hat Kant sein eigenes Urteil gefällt, als er jenen, die nicht den Mut aufbringen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, die selbstverschuldete Unmündigkeit attestierte.

Sieht man sich heute um, egal ob unter den Politikern, bei den Medien- und Kunstschaffenden, in den Ämtern und Behörden, sogar schon in der Wirtschaft,  findet man jene schwachen Männer und Frauen in der Überzahl, die in ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit nicht nur von der Substanz zehren, sondern sie mit Fleiß zerstören. Auch in den Hallen der Wissenschaft nehmen jene überhand, die lieber die jeweils erwünschte Haltung zeigen, als das zu vertreten, was die Nutzung des eigenen Verstandes womöglich hervorgebracht hat oder zumindest hervorgebracht hätte haben können.

Weder die wechselnden Machtverhältnisse auf der Erde, noch die klügsten Gedanken der Weltverbesserer haben Zeitenwenden ausgelöst. Es war immer die Kreativität, der Erfinder- und Ingenieursgeist, der die Welt nachhaltig verändert hat. Nicht immer, aber oft zum Guten.

Wo die Herrschenden der Wissenschaft einen Maulkorb umbinden und vorgeben, dass nur das zu erforschen sei, was die herrschende Ideologie stützt, während verboten, oder zumindest nicht finanziert wird (was auf das Gleiche hinausläuft), was im Widerspruch zur Ideologie stehen könnte, stürzt bereits alles auf den Untergang zu, auch wenn die Risse im Gemäuer noch klein und unscheinbar wirken.

Den Fehler zu begehen, Putin als „Ivan den schrecklichen Zeitenwender“ zu inszenieren, nur um das Feinbild maximal zu vergrößern, wird auf die Urheber dieser Propaganda zurückfallen. Entweder, weil der „Zar aus dem Kreml“ dies als Freifahrtschein ansieht, sich dem Bilde, das von ihm gemacht wird, entsprechend zu verhalten, oder weil sich unter den Menschen am Straßenrand jenes kleine Kind findet, das in aller Unschuld sagt: „Die sind doch alle nackt!“

Hoffen wir, dass Letzteres eintreten möge – und zwar bald.

 

 

*) Politchen: Politikende m/w/d mit eklatantem Missverhältnis zwischen Amt und Verstand.

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