Supermarktkassenschlangenphilosophie meets Corona

EPOCH TIMES berichtet über ein Interview, das die Neue Zürcher Zeitung mit Markus Gabriel geführt hat. Markus Gabriel ist Berufsphilosoph. Berufsphilosoph wird man, wenn man Philosophie und einige Nebenfächer studiert und anschließend von Universität zu Universität zieht, bis man schließlich selbst eine Professur ergattert hat, um Nachwuchsphilosophen heranzuziehen. Wer es dabei schafft, möglichst wenige eigene Realitäts- und Alltagserfahrungen zu machen, bleibt alleine aufgrund seiner vollkommen  „abgehobenen“ Vorstellungen so umfangreich unverstanden, dass man ihn lieber gleich als großen Denker ehrt, statt sich erst lange und hoffnungslos in seinen Verlautbarungen zu verheddern.

Ich gestehe dem Philosophen gerne zu, meine nun folgenden Gedanken in Bausch und Bogen zu verwerfen, da ich nicht, wie er, mein Leben in Hörsälen zugebracht und damit die verständnisnotwendigen Hörsaalerfahrungen gesammelt habe. Das berechtigt mich aber umgekehrt zur gleichen Kritik, weil er sein Leben in der Pseudo-Realität einer Parallelwelt zugebracht hat und außer dem Anstehen in einer Supermarktkassenschlange und ähnlich trivialen Anlässen kaum mit der wahren Welt in Kontakt gekommen sein dürfte.

Es ist das Narziss und Goldmund Problem. Näheres bei Hermann Hesse.

Wenn einer seinen Zeitgenossen erklärt:

„Der postmoderne Reflex ist nun in dieser Stunde, in der alle die Objektivität der Wissenschaft beschwören, tatsächlich zur Wirklichkeit geworden. Simulation und Wirklichkeit fallen zusammen“,

dann frage ich mich: „Was soll der Schmarrn?“

2014 erklärte eben jener Markus Gabriel die Postmoderne für beendet und rief den Neuen Realismus aus. Nun, nur sechs Jahre später, erklärt er nicht nur den „postmodernen Reflex“ zur „Wirklichkeit“, sondern behauptet zudem, dieser Wirklichkeit gewordene Reflex (ist das noch Konstruktivismus oder schon Paranoia?) falle mit der Simulation zusammen.

Blah, blah. Der ganze Satz ist Hintergrundmusik, bzw. philosophisch-geschwätziges Framing der eigenen geistigen Überlegenheit, mit dem Ziel, aller Kritik an den konkreteren Ausführungen zum Umgang mit Corona, vorweg schon mal den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Mit nicht zu überbietender Nonchalance hält er der Welt erst einmal den Spiegel seiner Erkenntnis vor: Nachdem wir das Virus erst „psychologisch aufgeladen“ hätten, hätten wir dann den Fehler begangen, uns im digitalen Universum nach Informationen umzuschauen, was uns allesamt zu eingebildeten Kranken gemacht habe. Doch gleicht darauf hebt er mit theatralischer Geste sein Zaubertuch vom Trickzylinder und verkündet den Beweis des Gegenteils: „Dieses Virus ist reine Wirklichkeit, die wir nicht bestreiten können, denn es tötet.“

Holla! Das Virus ist also eine Inkarnation des prostmodernen Reflexes, der ja Wirklichkeit geworden sei und mit der Simulation zusammenfalle?

Sorry. Meine Wirklichkeit ist einfacher und manifester und kommt ohne den ganzen erkenntnistheoretischen Spuk aus: „Die Welt erlebt gerade die Sars-Cov-19-Pandemie und versucht, das Virus unter Kontrolle zu bekommen.“

Ich weiß nicht, wie viele Tausend Experten aus allen relevanten Fachrichtungen sich momentan fieberhaft damit beschäftigen, das Wissen der Menschheit über das Virus soweit zu mehren, dass Maßnahmen getroffen werden können, die weniger schädlich und zugleich wirksamer sind als Kontaktbeschränkungen (Lockdown), doch Markus Gabriel scheint zu wissen, dass derzeit nicht anderes geschieht, als Modellrechnungen durchzuführen. Von Modellrechnungen hat er übrigens eine sehr naive Vorstellung. Es klingt, als hätte er eine „Sendung mit der Maus“ dazu gesehen, denn in seiner Vorstellung sind die Menschen in Computersimulationen Punkte, die sich ständig bewegen und berühren, wobei „Berührung“ mit „Infektion“ gleichgesetzt würde. Vielleicht wollte er es der NZZ und ihren Lesern aber auch nur „in einfacher Sprache“ erklären.

Jedenfalls behauptet er weiter, die Modelle bewegten sich im luftleeren Raum, solange es keine empirischen Studien gäbe – und die gäbe es nicht.

Auf die Idee zu kommen, dass Modellrechnungen – und zwar durchaus auf einem Level weit oberhalb „ständig bewegter Punkte, die sich berühren und damit infizieren“ – durchaus „der Weg“ sein können, durch permanente Annäherung der Modellierung an die laufend generierten neuen Erkenntnisse dem langsamen Fortschreiten der Empirie einerseits „Impulse“ zu geben, ihre Ergebnisse andererseits aber zum frühestmöglichen Zeitpunkt vorherzusagen, das ist Markus Gabriel verwehrt. So etwas ist der geisteswissenschaftlichen Fakultät viel zu realistisch und von daher viel zu überprüfbar und dem freien Flug der Gedanken nur hinderlich. Im freien Flug der Gedanken kommt beim abschätzigen Blick aus der Höhe des Ikarus dann heraus: „Damit wird die Wirklichkeit nicht abgebildet, sondern erst geschaffen.“

Wir erinnern uns, die Wirklichkeit ist der postmoderne Reflex, der wiederum eins ist, mit der Simulation. Wer je einen Hund gesehen hat, der sich in den Schwanz gebissen hat, verfügt über eine hübsche Analogie zum Zirkelschluss.

Um der Dramatik seiner Erkenntnisse das Sahnehäubchen des selbstlos Suchenden aufzusetzen, wirft er die Frage auf:

„Was ist das Ziel der Maßnahmen?“,

und outet sich sogleich als einer, der es selbst nicht weiß.

Von da an gilt die dreisprachige Weisheit:

  • Lateinisch: si tacuisses, philosophus mansisses
  • Deutsch: Hättetst Du geschwiegen, wärest Du ein Philosoph geblieben
  • Schwäbisch: wenn de dei Gosch g’halde heddsch, no hedd koi Sau gmergt, daß’d bled bisch

Denn nun stutzt der Philosoph:

  • Warum wird gegen andere Krankheiten nicht zu so drastischen Maßnahmen gegriffen?
  • Warum wird nicht mit vergleichbaren Maßnahmen gegen die Konsumwirtschaft, den Klimawandel vorgegagen, warum werden gewaltsame Konflikte nicht per Lockdown beendet?

Schließlich ruft doch auch die verheerende Wirtschaftskrise menschliches Leid hervor?

Als Pragmatiker hätte ich auf diese triviale Fragestellung eine einfache Antwort:

  • Weil uns die anderen Krankheiten, die Konsumwirtschaft und gewaltsame Konflikte bekannt sind und wir gelernt haben, damit so umzugehen, auch uns damit abzufinden, dass eine Balance zwischen Aufbegehren und Resignation hergestellt ist.
  • Weil bei diesen bekannten Bedrohungen starke Interessen der „Gewinner“ nur gewahrt bleiben, wenn der Status quo bestehen bleibt.
  • Weil Corona eine neue, noch weithin unerforschte Gefahr darstellt, die bisher nur Verlierer hervorgebracht hat. Und diese Verlierer zählen nicht nur nach – bis heute – 5,5 Millionen Infizierten und knapp 350.000 Toten, Verlierer  ist vor allem der Glaube an die unbegrenzte Machbarkeit, damit der Glaube an die Fähigkeiten der Experten und der Verantwortlichen in den Regierungen, und wenn die ergriffenen Maßnahmen nicht ausreichen sollten, die Pandemie einzudämmen und die Wirtschaft dabei einigermaßen am Laufen zu halten, werden die staatlichen Ordnungen und die Weltordnung (nicht die Neue, die nie kommen möge, sondern die Bestehende) die ganz großen Verlierer sein, und damit die ganze Menschheit.

Mit der offenen Frage nach dem Ziel, also nach dem Sinn, ohne die ein Philosoph nichts gilt, erschöpft sich die Weisheit des Brahmanen.

Um dies aber nicht als unbefriedigenden Schlusspunkt stehen zu lassen, verrät er uns im Abspann noch schnell, was denn den „guten Menschen“ ausmache:

„Ein gutes Leben ist eines, in dem wir versuchen, das Gute zu tun.“

Das zeige sich zum Beispiel am Verhalten eines Einzelnen beim Einkaufen. Wenn viele Menschen schon längere Zeit in der Schlange stünden, drängele man sich nach vorne, oder beschimpfe man womöglich gar einen anderen? Genau in solchen Alltagssituation würde sich zeigen, wer bereit sei „ein gutes Leben“ zu führen.

„Bewahren wir die Ruhe? Bleiben wir höflich? Nehmen wir uns selber ernst? Respektieren wir die anderen? Lassen wir anderen gar den Vortritt?“. All diese Fragen könne man sich als Individuum stellen. Denn eines, so Gabriel, sei sicher:

„Was im Supermarkt versagt, funktioniert auch sonst nicht!“

Wer länger über diesen letzten Satz nachdenkt, schwebt in Gefahr, den Verstand zu verlieren.

Von alledem, was auf der Welt funktioniert, ist nur ein mikroskopischer Bruchteil im Supermarkt überhaupt möglich und müsste im Supermarkt versagen. Lassen Sie einfach mal ein Verkehrsflugzeug im Supermarkt landen …

Andererseits, was im Supermarkt schon mal versagt, zum Beispiel der Leergutrücknahme-Automat, das braucht es auch sonst nicht.

Im Grunde kann Gabriels Schlussbekenntnis nur auf ein philosophisches Postulat gemünzt sein, und in dieser verengten Sichtweise gebe ich ihm Recht.

So wenig der postmoderne Reflex im Supermarkt als Wirklichkeit und damit zusammenfallender Simulation an die Stelle von Waren, Regalen und Kassen tritt, sowenig funktioniert das sonstwo.

Zum rezensierten Artikel