Anti-Kontaktbeschränkungs-Demonstrationen

Am Wochenende gab es vielerorts in Deutschland angemeldete und nicht angemeldete, genehmigte und nicht genehmigte Demonstrationen, mit teils wenigen Dutzend, teils einigen tausend Teilnehmern, die teils von der Polizei nicht behelligt, teils von der Polizei aufgelöst wurden. Insgesamt blieb es friedlich.

Diese Demonstrationen wiesen zwei bemerkenswerte Besonderheiten auf, die aufhorchen lassen sollten:

  1. Es handelte sich nicht um Demonstrationen, zu denen von den bekannten Organisatoren aufgerufen wurde, und in denen die üblichen Mitläufer mitgelaufen sind. Die Demonstrationen waren nicht eindeutig links, sie waren erst recht nicht eindeutig rechts. Es hat sich eine neue gesellschaftliche Schnittmenge  gezeigt, deren Mitglieder der Politik mitteilen wollten, dass ihnen die Kontaktbeschränkungen wegen der Corona-Pandemie missfallen, und: Dass sie diese Maßnahmen aus unterschiedlichsten Gründen für überzogen und nicht mit dem Grundgesetz vereinbar halten.
  2. Es handelte sich nicht um Demonstrationen, bei denen sich, wie bei den Klima-Demonstrationen oder den Aufmärschen gegen rechts, unbescholtene Bürger mit unbescholtenen Politikern und unbescholtenen Gewerkschaftsführern unter überwiegend roten und grünen Fahnen durch die Straßen wälzten, um die große Einigkeit der Guten zu demonstrieren, sondern es handelte sich um Demonstrationen, die – selbst wenn genehmigt – so doch eine Zurschaustellung zivilen Ungehorsams darstellten. Wir gehen auf die Straße, auch wenn ihr das nicht wollt. Gut, wir halten Abstand, meistens jedenfalls, und wir tragen Mund- und Nasenschutzvorrichtungen, aber wir lassen uns nicht einzeln zuhause einsperren.

Nun bin ich, wie Sie wissen, einer von jenen, welche die Kontaktbeschränkungen im Großen und Ganzen für sinnvoll halten und die damit, ohne dass sich die Nackenhaare aufstellen, ganz gut umgehen können. Dessen ungeachtet sind mir diese Demonstranten durchaus sympathisch. Schließlich steht das Recht, sich frei und ohne Waffen unter freiem Himmel versammeln zu dürfen, ja nicht im Grundgesetz, damit die Parteien, bzw. politische Grundrichtungen ein Podium zur Selbstdarstellen haben, sondern um sich (in der Menge/Masse) auszutauschen, Gemeinsamkeiten festzustellen, auf Missstände hinzuweisen und Abhilfe einzufordern.

Von daher waren diese Demonstrationen in ihrer schönen Reinheit etwas Neues in dieser Republik.

Wie überrascht und unvorbereitet die Politik war, als sie sich mit diesen Demonstranten konfrontiert sah, zeigt sich allein in der Uneinheitlichkeit des Vorgehens der Ordnungsmacht, vor allem aber darin, dass sie an den meisten Demonstrationsorten, trotz der Verstöße gegen Versammlungsrecht und/oder erteilte Auflagen, nicht zum Einschreiten befohlen wurde. Überhaupt mehren sich die Gelegenheiten, bei denen festzustellen ist, dass die Politik überrascht und unvorbereitet vor einer Situation steht und zunächst einmal wie paralysiert erscheint. Merkel nennt diesen Zustand die Phase des Nachdenkens von Hinten her, und manchmal wünscht man sich, dem wäre so, doch das nur am Rande.

Wirklich angefangen hat das mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA. Da sind sie mit dem Nachdenken von hinten her immer noch nicht fertig. Auch als Boris Johnson alle Hoffnungen zunichte machte, den BREXIT doch noch verhindern zu können, stellte sich jene Schockstarre ein, bei der nur noch die Beschimpfungs-Ausstoß-Komponente, als hätte niemand den Schuss gehört, in Betrieb blieb. Klar, als die ersten Massenausbrüche von Corona in Deutschland stattfanden, erlebten wir  – wenn auch wie im Zeitraffer – erst die Phase Schockstarre und dann die Phase des panischen Aktionismus, während wir inzwischen in jene Phase eingetreten sind, die man überschreiben könnte: „Wie kriegen wir das bloß alles wieder in Ordnung, ohne dabei eine Schuld eingestehen zu müssen?“ Das ganze „Lockerungstheater“ mit 16 länderspezifischen Adaptionen des gleichen Stoffes auf den Bühnen, wirkt doch auch schon wieder ganz so, als käme nun auch die Lockerungsphase vollkommen unerwartet über unvorbereitete Entscheidungsträger. Kaum hat man beschlossen, 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner müssten zum Rückfall in den Lockdown führen – schon haben wir drei Landkreise, die dieses Ziel erreicht haben, aber offenbar nicht gewillt sind, vom Lockerungspfad nochmals  abzuweichen. Kann es sein, dass sie wieder nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen und dann lieber in die Phase „von Hinten her“ abgleiten? Ich mag das zumindest nicht ausschließen.

Bleiben wir bei den Demonstranten. So neu Demonstrationen dieser Art für diese Republik auch sein mögen: Die haben beim ersten Mal „keine Bahnsteigkarte gelöst“ und sie werden auch weiterhin darauf verzichten, zum Schutz des Seelenfriedens der Verantwortlichen zuhause zu bleiben, bzw. sich an Anordnungen und Auflagen zu halten.

Die erste Reaktion kriecht jetzt allerdings wie das Gerücht von A. Paul Weber aus allen Fernsehhöhlen und Zeitungsspalten hervor:

Man habe, heißt es, „am Rande der Demonstration“, manchmal auch „unter den Demonstranten“,
Angehörige der rechten Szene, bzw. Rechtsextremisten angetroffen.

Ich halte diese Reaktion für saudumm.

Merken DIE den eigentlich nicht, das ihre Nazi-Keule längst „abgedroschen“ ist, also unter kritischen Bürgern eher nur noch für Belustigung sorgt, und dass unter den vielen Demonstranten aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten und Strömungen, die für ihre Grundrechte trotz verhängter Grundrechtsbeschränkungen auf die Straße gehen, kaum einer sein dürfte, der auf seine Grundrechte verzichtet, weil andere, mit denen er nichts zu tun hat, dasselbe fordern?

Abgesehen davon, dass die Beteiligung von Rechten und Rechtsextremen genauso gut auch frei erfunden sein könnte – die Formulierungen deuten zumindest darauf hin – und dass ansonsten wohl rechtlich zweifelhafte Maßnahmen zur Gesichtserkennung per Videocam erforderlich gewesen wären, um die Rechten aus den Tausenden herauszufiltern: Welchen sinnvollen Beitrag zur Diskussion um den Umgang der politisch Verantwortlichen mit der Pandemie stellt die Erwähnung einzelner „gesichteter“ Rechter denn dar? Sollen Rechte von Demonstrationen ausgeschlossen werden, weil sie kein Recht haben, ihre Grundrechte einzufordern? Junge, Junge!

Warum hat man nicht erwähnt, dass man am Rande auch Vertreter aus dem Dunstkreis der Sozialdemokratie,  der Grünen, der Linken, ja sogar beitragszahlende CDU-Mitglieder und militante Nichtwähler angetroffen habe, dass sich Taschendiebe ebenso unter die Demonstranten mischten, wie Vermummte des Schwarzen Blocks? Nun ja – letztere kann man nicht erkennen, weil sie stets vermummt auftreten. Aber sonst …

Das auf den Demonstrationen zum Ausdruck gebrachte Unbehagen hat mit Parteipolitik zu tun. Sicherlich. Aber es richtet sich gegen die Politik der regierenden Parteien, und zwar ohne damit für eine parteipolitische Alternative zu trommeln!

Die Ursache des Unbehagens ist dabei allerdings nicht nur in den Maßnahmen selbst zu suchen, sondern eben auch darin, dass die Politik sich in ihren Erklärungen über die Zeit so massiv widersprochen hat, dass damit mehr Zweifel ausgelöst wurden als Gewissheiten vermittelt wurden. Dies wäre zu heilen gewesen, wenn in der Bevölkerung ein Grundvertrauen in die politische Führung vorhanden gewesen wäre, das hätte genügt, um auch diejenigen, die den Sinn der Maßnahmen nicht verstehen können, diese, im Vertrauen auf die Führung, zu akzeptieren und zu dulden.

Das alles ist verspielt. Und wer jetzt auf die Idee kommt, die AfD als Anstifter der Demonstrationen herauszustellen, darf sich nicht wundern, wenn er genau damit die AfD zu einer Partei macht, der die Menschen vertrauen wollen, weil sie ihre Interessen vertritt.

Wir können gespannt sein, wie sich das weiterentwickelt.