Echte Demokratie – Das können nur erzpopulistische Rechtsradikale fordern.

PaD 40 /2023 – Hier auch als PDF verfügbar: Pad 40 2023 Echte Demokratie

Echte Demokratie?

Natürlich weiß niemand zu sagen, was denn „echte Demokratie“ eigentlich sei. Seit Demokratie versucht wird, gibt es die unterschiedlichsten Spielarten, mit den unterschiedlichsten Spielregeln, manchmal  von den Demokratiepredigern reinsten Herzens ernst gemeint, manchmal aber auch vorsätzlich nur als Kulisse aufgestellt, hinter der sich trefflich mauscheln lässt.

Der Inbegriff der Demokratie, das sind weder Parlament noch Volksvertreter, auch nicht die Wahlen, die Volksvertreter erst in die Parlamente bringen.

Der Inbegriff der Demokratie ist die gleichberechtigte Abstimmung.

Wahlen sind nur eine Sonderform, und zwar eine höchst problematische Sonderform von Abstimmungen.

In der gleichberechtigten Abstimmung tritt jeder Teilnehmende als sein eigener Souverän auf und stimmt für die Idee, die er unter Würdigung aller Umstände und seiner eigenen Interessen für die optimale erachtet. Die gleichberechtigte Abstimmung setzt allerdings auch voraus, dass jedermann das Recht hat, zu jedem Thema selbst zu einer Abstimmung aufzurufen, wobei die großartigste Form der Abstimmung sogar ohne vorgegebene Antwortmöglichkeiten auskommt, also die Form der offenen Frage annimmt.

 

Dies sind theoretische Erörterungen.

Die Praktikabilität schwindet mit der wachsenden Zahl beteiligter Demokraten aus technischen Gründen schnell, doch soll an einem Beispiel zumindest erkannt werden, wie Demokratie sein könnte, wenn sie nicht – in feste Formen gegossen – ganz anders und mit nur noch einem kümmerlichen Rest an Souveränität des Demokraten vollzogen würde.

Beispiel:

Ein Notar hat nach langen Nachforschungen insgesamt 20 Erben ausfindig gemacht, die bis dahin gar nicht wussten, über jenen Erblasser entfernt miteinander verwandt zu sein.  In der Freude über ihre Anteile an einem Vermögen von knapp 10 Millionen Euro beschließen sie, zur Erinnerung an den Tag der notariellen Verkündung ihres Erbes, alle Jahre einmal zu einem Familientreffen zusammenzukommen. Karl-Eugen übernimmt es, für die Organisation zu sorgen.

Im Mai des nächsten Jahres schreibt er alle Miterben an.

Liebe/Lieber Vorname, Name,

Im Oktober jährt sich unser Glückstag zum ersten Mal. Ihr erinnert Euch, wir wollten das nutzen, um uns alle wiederzusehen. Über die Gestaltung dieses Treffens möchte ich Euch offen abstimmen lassen.

Bitte teile mir nun bis zum 31. Mai Deine Wünsche mit:

  1. In welchem Bundesland soll das Treffen stattfinden
  2. Wie lange soll es einschließlich An- und Abreisetag dauern?
  3. Um mir die Arbeit zu erleichtern, möchte ich für uns alle die benötigten Zimmer im gleichen Hotel buchen. Lass mich wissen, welche Hotel-Kategorie Du bevorzugen würdest.

Ich werde aus allen Antworten die einfache Mehrheit der Stimmen ermitteln und Euch über das Ergebnis informieren.

 

Was ist als Ergebnis zu erwarten?

Bei 20 Leuten und 17 Bundesländern sind im ungünstigsten Fall drei Bundesländer mit je 2 Stimmen zu erwarten. Wahrscheinlich dürfte sich aber eine kleine, einfache Mehrheit mit vier oder fünf Stimmen für ein Land ergeben.

Bei der Frage nach der Dauer ist die Mehrheit entweder bei zwei oder drei Tagen zu erwarten. Ein Tag ist zu wenig, und mehr als ein verlängertes Wochenende können sich die meisten auch nicht vorstellen.

Bei der Hotelkategorie ist das Ergebnis der Abstimmung besonders schwierig vorherzusagen. Das Ergebnis könnte ebenso knapp ausfallen, wie beim Bundesland.

Was wird Karl-Eugen aufgrund der erhaltenen Antworten nun bekanntgeben?

Wenn

  • nur drei von 20 nach Mecklenburg-Vorpommern wollten, aber damit die Mehrheit bilden,
  • nur 8 von 20 sich für 2 Tage ausgesprochen hatten und
  • nur 7 in einem Hotel vergleichbarer Kategorie übernachten wollten?

Würde Karl-Eugen antworten:

„Wir treffen uns für zwei Tage (eine Übernachtung) im Seehotel Güstrow in Mecklenburg Vorpommern?“

Wenn Karl-Eugen klug ist, wird er genau das nicht tun.

Er wird schreiben:

Liebe/Lieber Vorname, Name,

Vielen Dank für die Übermittlung Deiner Wünsche zu unserem ersten Familientreffen.

Es gab eine weitgehende Übereinstimmung, was die Dauer betrifft. Zwei bis drei Tage sehen alle als angemessen an, so dass ich es so einrichten werde, dass wir uns in der kompletten Runde von Samstagmittag bis Sonntagnachmittag begegnen werden. Je nach An- und Abreisemöglichkeiten, können die ersten sich aber schon am Freitagabend gemütlich zusammensetzen und die letzten sich erst am Montag nach dem Frühstück verabschieden.

Was die Region betrifft, so stehen Mecklenburg-Vorpommern und Hessen an erster Stelle Eurer Wünsche. Ich habe in beiden Bundesländern geeignete Hotels gefunden, die weitgehend auch Euren Vorstellungen entsprechen. Einmal das Kurhotel am See in Güstrow, und einmal die Taunus Residence in Bad Camberg.

Als Termin habe ich den Zeitraum von Freitag, 11.10. bis Montag 14.10.24 vorgesehen, wobei am Samstag und Sonntag alle anwesend sein sollten.

Ich bitte um abschließende Abstimmung für Güstrow oder Bad Camberg bis zum 10. Juni. Die Teilnahme an der Abstimmung nehme ich als feste Zusage, unabhängig davon, wo wir uns – gemäß Mehrheitsentscheidung – dann treffen werden. Daher bitte auch gleich An- und Abreisetag angeben, damit ich die Zimmer entsprechend buchen kann.  Liebe Grüße  Euer Karl-Eugen

War das nun gelebte Demokratie? War es das Optimum an Demokratie, das in diesem Fall erreicht werden konnte?

Wahrscheinlich war das Vorgehen von Karl-Eugen tatsächlich ganz, ganz nahe am demokratischen Optimum.

Die Mängel, die zu beanstanden wären:

  1. Karl-Eugen hat ohne zu fragen den Termin einfach auf das zweite Oktober-Wochenende festgelegt. Möglicherweise sind Teilnehmer an diesem Termin verhindert, hätten aber eine Woche früher oder eine Woche später Zeit gehabt.
  2. Karl-Eugen hat zwar die Wahl der Region, nicht aber die Wahl des Hotels freigestellt. Da hat er ganz alleine Festlegungen getroffen, nach dem Motto: „Friss Vogel oder stirb!“.

Schlimm?

Termin und Location unterliegen dem gleichen Problem: 20 Leute sind nie unter einen Hut zu bringen, wenn jeder seine Präferenzen einbringt.

Karl-Eugen hat aber um eine Ecke weiter gedacht. Er unterstellt, dass alle potentiellen Teilnehmer am Familientreffen dafür eine gewissen Priorisierung vorgenommen haben. Sie müssen ja nicht teilnehmen. Wenn sie wirklich wollen, werden sie andere Termine absagen und ggfs. etwas weniger Komfort oder einen etwas höheren Übernachtungspreis in Kauf nehmen.

Mit der letzten Abstimmung über den Ort des Treffens ist damit zugleich die Abstimmung über die Teilnahme verbunden. Wer wirklich will, wird es möglich machen. Wer das Familientreffen nur als eine von mehreren Optionen für dieses Wochenende ansieht, kann sich durchaus dagegen entscheiden.

Die Vorteile des Vorgehens:

Beachtlich ist an diesem Beispiel, dass – schon bevor Karl-Eugen sein erstes Schreiben verschickt hat, vollständige Einigkeit darüber bestanden hat, dass man sich jährlich einmal treffen will. Ein glücklicher Umstand, der trotz der – in der Nationalhymne als des Glückes Unterpfand besungenen Einigkeit – im Deutschen Bundestag nur sehr selten einzutreten pflegt.

In der ersten Abstimmungsrunde ging es nur noch um das „Wo“ und das „Wie“. Dabei hatten alle Gelegenheit, ihre Präferenzen auszudrücken. Es war zu erwarten, dass diese eine ganz erhebliche Streubreite aufweisen würden. Karl-Eugen hat das zusammengefasst und in der zweiten Runde einen Kompromiss in zwei Versionen zur Abstimmung gestellt, von denen er annehmen konnte, damit, wenn schon nicht bei jedem auf den Punkt zu treffen, aber doch den Interessen einer Mehrheit mit recht geringer Streubreite nahe zu kommen, so dass mit dem Ergebnis der Schlussabstimmung, wie auch immer es ausfallen sollte, niemand wirklich unzufrieden sein konnte.

 

Der Vergleich mit der Realität in Deutschland

Ein gemeinsamer Wille der wahlberechtigten Staatsbürger ist allenfalls noch auf der höchsten Abstraktionsebene in Begriffen wie Wohlstand,  Frieden oder Freiheit anzutreffen. Doch schon beim Versuch, diese Begriffe zu definieren, zeigen sich Differenzen, die bis zur Unvereinbarkeit reichen können. Die einen wollen Krieg führen für den Frieden, die anderen sehnen den Frieden ohne Waffen herbei. Die einen fühlen sich nur frei, wenn staatliche Überwachung größtmögliche Sicherheit verspricht, die anderen verknüpfen Freiheit mit Selbstverantwortung und wollen den Staat soweit es geht zurückdrängen. Die einen wollen den allgemeinen, durch Umverteilung hergestellten Wohlstand, die anderen sehen Wohlstand als Ergebnis von Leistung, die sich lohnen muss, und wollen den Sozialstaat auf das Notwendigste (echte Not wenden) zurückstutzen.

Es ist unwahrscheinlich, dass es irgendwo auf der Welt ein Volk von mehr als 50 Millionen gibt, in dem wirkliche Einigkeit zu den grundsätzlichsten Fragen herrscht. Die Differenzen werden jedoch größer und die Neigung berechtigte Interessen anderer anzuerkennen schrumpft, wenn die Homogenität des abstammungsgeschichtlichen Staatsvolks sich im Begriff „Bevölkerung“ aufzulösen beginnt.

Daraus ergibt sich letztlich sogar eine Rechtfertigung für die jeder Regierung immanente Neigung, sich als Elite berufen zu fühlen, die über den Willen des Volkes hinweg und auch gegen diesen Willen Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen zu ergreifen hat, weil auf demokratischen Wege eine Einigung nicht mehr möglich erscheint.

Diesem Anspruch der Eliten, besser zu wissen, was gut ist für das Volk, und was nicht, fallen zuerst die basisdemokratischen Abstimmungen zum Opfer, die entweder überhaupt nicht vorgesehen sind oder mit so hohen Hürden versehen sind, dass der Aufwand abschreckt, oder – besonders trickreich – so gestaltet sind, dass sie keine bindende Wirkung für die Regierung haben.

Abstimmungen, als Ausdruck des Willens des deutschen Volkes, und als die Möglichkeit, jederzeit, unabhängig von Legislaturperioden, zu konkreten Sachfragen eindeutig Stellung zu beziehen und die Regierung auf den dahingehenden Willen des Volkes zu verpflichten, sind als Vorgabe zur Gestaltung der deutschen Demokratie im Grundgesetz verankert.

Das Grundgesetz gilt übrigens für den Bund. Niemand kann behaupten, weil es Volksbegehren und Volksabstimmungen in den Ländern gäbe, sei damit dem Grundgesetz schon Genüge getan. Es bedarf auch höchster juristischer Spitzfindigkeit, um irgendwo im Grundgesetz, im Widerspruch zu Artikel 20, ein Verbot von Abstimmungen auf Bundesebene aufzufinden, obwohl dieses Argument nicht ungebräuchlich ist.

Verantwortliche Politiker, egal ob nun als Abgeordnete des Deutschen Bundestages oder in Regierungsverantwortung, können sich auch nicht darauf hinausreden, es fehle für Abstimmungen ein Ausführungsgesetz. Wer, außer diesen Herrschaften, wäre denn in der Pflicht, ein solches Gesetz zu formulieren und zu verabschieden?

Sicherlich, es gibt berechtigte Argumente, die gegen Volksabstimmungen auf Bundesebene sprechen, aber diese ließen sich entkräften, würde man ein Ausführungsgesetz beschließen, das so gestaltet ist, dass diese Argumente damit obsolet werden.

Doch wie äußert sich der Homo Politikus, wenn ihm Volkes Wille gegen den Strich geht? Da sagt er: „Die Materie ist viel zu komplex dafür.“

Sieht man auf der anderen Seite jedoch, dass auch Parlamentarier nicht immer wirklich wissen, worüber sie abstimmen, sondern – im blindem Vertrauen, dem Fraktionszwang folgend – Gesetze durchwinken, und dass auch Gesetzentwürfe der Regierung in ihren Folgen nicht immer vernünftig bedacht sind und manchmal sogar vom Verfassungsgericht kassiert werden, wächst umgekehrt die Gewissheit, dass vom Volk, würde man es nur zu Wort kommen lassen, eher deutlich mehr Kompetenz und Sachverstand, auch mehr Problemlösungsfähigkeit zu erwarten wäre als von Regierung und Parlament zusammen.

 

Dem deutschen Volk wird jedoch nur jene Sonderform der Abstimmung  gewährt, die als „Freie, gleiche und geheime Wahl“ bezeichnet wird.

Wahlen zum Deutschen Bundestag sind weder an grundsätzlichen, noch an aktuellen politischen Entscheidungen orientiert, sondern folgen stur dem Kalender, der alle vier Jahre einmal Wahlen vorschreibt.

Folgerichtig stehen bei Wahlen auch nicht die Alternativen zur Behandlung von Sachthemen zur Wahl, sondern Personen, und aus der großen Zahl der zum Bundestag passiv wahlberechtigten Personen längst nicht alle, sondern lediglich jene winzige Auswahl, die von den Parteien als Kandidaten aufgestellt werden.

Von den meisten Kandidaten auf den Listen weiß der Wähler, wenn er sein Kreuzchen abliefert, nichts. Gar nichts, außer, welcher Partei sie (momentan) angehören.

Dies wird nur teilweise dadurch kompensiert, wenn nicht gar karikiert, dass der Wähler bei den meisten Kandidaten mit Gewissheit davon ausgehen kann, dass sie im Bundestag nicht dem eigenen Gewissen – soweit vorhanden – folgen werden, sondern so abstimmen, wie es der Fraktionsvorsitzende fordert, und der fordert wiederum das, was ein winziges Gremium namens Parteivorstand sich im Laufe der nächsten vier Jahre – entsprechend dem Wahlprogramm, oder auch im Widerspruch dazu – einfallen lassen wird.

 

Wählerstimme ist nicht gleich Wählerstimme

Unter den Wählern bilden sich, je nachdem, was sie wählen, vier Kategorien heraus:

  1. Glückliche Sieger
    Jene, die sich für einen Kandidaten bzw. eine Liste entscheiden, welche auch einen Platz im Bundestag erhalten und dabei, nach Koalitionsverhandlungen, zur Regierungsmehrheit gehören und Regierungswünsche im Bundestag durchwinken werden. Diese Wähler können sich als Gewinner feiern, aber nur wenn sich ihre Annahmen bezüglich der versprochenen Regierungsarbeit im Laufe der Legislaturperiode nicht als falsch erweisen. Das aber wird eher die Ausnahme sein.
  2. Verlierer erster Klasse
    Jene, die ihre Kandidaten ebenfalls in den Bundestag gebracht haben, ohne dass deren Partei jedoch in Regierungsverantwortung gelangt. Die können vier Jahre lang sagen, was sie wollen – zu sagen haben sie nichts.
    Diese Wähler dürfen sich als Verlierer fühlen, wobei nicht sicher ist, dass die von ihnen gewählte Partei, wäre sie in Regierungsverantwortung gelangt, tatsächlich umgesetzt hätte was versprochen war.
  3. Verlierer zweiter Klasse
    Jene, die Kandidaten/Listen wählen, die leider weniger als 5 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Die bringen niemanden in den Bundestag – und weil die Zahl der kleinen chancenlosen Parteien wächst – werden auch die Anteile der abgegebenen Stimmen, die für den Bundestag wirkungslos bleiben, immer größer. 4,8 % + 3,2 % + 1,9% + 0,8 % + 0,5 % + 0,1 % sind zusammen eben doch schon 11,3 Prozent.
  4. Eigentorschützen
    Jene, die von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen, weil sie sich weder von Kandidaten noch von Parteien wirklich vertreten fühlen, und sich dann sagen lassen müssen: „Selbst schuld! Hättest du doch gewählt!“

 

Diejenigen, die dann als gewählte Volksvertreter im Bundestag sitzen und über eine Mehrheit verfügen, sollten, so besagt es Artikel 38 Grundgesetz, Vertreter des ganzen Volkes sein. Hört man ihnen jedoch zu, wie sie sich in den Plenardebatten anfeinden, nährt dies den Eindruck, dass es sich stattdessen um Vertreter von Parteiinteressen handelt, die nur noch Teile des Volks vertreten, und manchmal auch nur noch die Interessen von kleinen und allerkleinsten Minderheiten.

Solche Mehrheiten im Bundestag kommen zustande, weil das Wahlrecht so gestaltet wurde, dass möglichst durchsetzungsstarke Mehrheiten zustande kommen, weniger, um dem mehrheitlichen Willen der Wahlberechtigten Ausdruck zu verleihen.

Nehmen wir die Bundestagswahl 2021 als Beispiel. Die Wahlbeteiligung lag bei 76,6 Prozent. Den Willen von 23,4 Prozent der Wahlberechtigten kann im Bundestag schon einmal niemand repräsentieren.

Von den abgegebenen Stimmen entfielen 8,7 Prozent auf „Sonstige“, deren Sprung in den Bundestag also an der 5%-Hürde scheiterte, folglich repräsentiert das gesamt Parlament mit seine 736 Abgeordneten nur 69,94 Prozent der Wahlberechtigten.

Die Ampel-Parteien belegen 416 von 736 Sitzen, verfügen also über 56,52 Prozent der Sitze, repräsentieren aber nur 39,53 Prozent der Wahlberechtigten.

Ein weiteres Problem der Repräsentanz des Volkswillens im Parlament, das nur ganz selten überhaupt erwähnt wird, ist das „Profil“ der Parteien. Nicht nur, weil es im Zuge von Koalitionsvereinbarungen in der Regierungspolitik oft nur noch bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt sichtbar wird, sondern aus einem ganz anderen Grund.

Wähler sind gezwungen, jene Kombinationen aus politischen Zielen zu wählen, die von den Parteien angeboten werden. Das kann und soll hier nur an einem fiktiven Beispiel erläutert werden, um damit nicht irgendeiner real existierenden Partei auf die Füße zu treten. Aber, überspitzt ist es doch so, dass

  • wer Partei X wegen der angestrebten Freundschaft mit Taka-Tuka-Land wählt, zugleich auch das Verbot der Zierfischhaltung in Aquarien wählen muss,
  • wer Partei Y wegen des Versprechens „Lebenslang Freibier für alle“ wählt, auch die Kürzung der Zuschüsse für Brieftaubenzüchter wählen muss,
  • wer Partei Z wegen der Förderung des U-Bahn-Baus außerhalb der Ballungsgebiete wählt, auch die Abschaffung aller gesetzlichen Feiertage wählen muss,

Der Aquarienfreund wird sich also gegen die Freundschaft mit Taka-Tuka-Land entscheiden, der Brieftaubenzüchter und Biertrinker könnte ob dieser Alternative zum Nichtwähler werden, und der Landbewohner, der darauf hofft, endlich eine eigene U-Bahn-Station vor dem Wirtshaus zu bekommen, wird, je nachdem wie lange er noch bis zur Rente hat, was das Gewicht der Feiertagsfrage bestimmt, entweder auf Feiertage oder auf U-Bahn verzichten.

Der Wähler, so er sich nicht absolut mit allen Zielen einer Partei identifiziert – und dazu gehören noch nicht einmal alle ordentlichen Parteimitglieder, wie aus den Berichten über die Parteitage immer wieder abgelesen werden kann – hat also keine Chance, vollinhaltlich das zu wählen, was er wirklich will, sondern nur einen Mix aus süßen Trauben und sauren Gurken.

Wird die Unzufriedenheit mit einer Regierung groß, wie es momentan an der Ampel zu studieren ist, sinken die von den Demoskopen gemessenen Zustimmungswerte. Würde am nächsten Sonntag gewählt, würde die Regierungsmehrheit in Parlament von knapp 57 Prozent auf eine Minderheit von etwa 35 bis 37 Prozent zusammenschrumpfen, vorausgesetzt, die FDP könnte die 5% Hürde noch einmal überspringen.

Nach aktuellem Stand der Umfragen repräsentiert die Regierungsmehrheit im Parlament nur noch 25 Prozent der Wahlberechtigten. Dennoch wird munter weiterregiert, denn diejenigen, die den Kurs ändern könnten, wollen das nicht, und denjenigen, die den Kurs ändern wollen, unter anderem auch weil sie sich im Verhältnis zwischen süßen Trauben und sauren Gurken  getäuscht fühlen, steht dafür kein legales Mittel zur Verfügung.

Dass eine Regierung mit so geringem Rückhalt im Volk auf Kritik immer empfindlicher reagiert und dabei den Wunsch verspürt, kritische Stimmen entweder per Zensur unhörbar zu machen oder durch Androhung von Sanktionen zum Schweigen zu bringen, ist eine durchaus vorhersehbare, ganz natürliche, aber zugleich für die Demokratie brandgefährliche Reaktion.

 

Wo ist nun mehr Demokratie zu finden?

In der bunten und vielfältigen Dekarbonisierungs- und Deindustrialisierungsrepublik, wo nur noch ein Viertel der Wahlberechtigten diese drei Parteien wieder wählen würde, oder bei Karl-Eugen und seiner Vorbereitung für das große Familientreffen?

Da gäbe es keine Parallele?

Oh doch!

  • Bei Karl-Eugen ist die Teilnahme am Familientreffen freiwillig.
  • Bei Karl-Eugen bestand eine echte Wahl zwischen zwei in etwa gleichwertigen Alternativen – und
  • die Entscheidung ist mit absoluter Mehrheit gefallen.
  • Bei Karl-Eugen wurden die Wahlberechtigten vorher gefragt, wie sie sich das Familientreffen vorstellen.

Hätte die Ampel die Wähler vorher gefragt, wie sie sich die Energiepolitik vorstellen:

  • Ein Heizungsgesetz hätte es niemals in die zweite, entscheidende Runde Karl-Eugens geschafft. Doch es gab weder eine erste, noch eine zweite Runde, und die jüngsten Umfragen zeigen, dass mit dem Heizungsgesetz voll gegen die Interessen der Mehrheit regiert wird.
  • Außerdem: Der Austausch von Heizungen ist nicht freiwillig, jedenfalls dann nicht mehr, wenn die entsprechenden Voraussetzungen (gemeindlicher Wärmeplan) vorliegen und die Termine herangerückt sind. Dann muss die alte Heizung raus und durch eine wind- und sonnenbetriebene Wärmepumpe ersetzt werden, für die schon heute klar ist, dass der Strom dafür nicht da sein wird, oder eben anderswo abgezwackt werden muss.
  • Dabei ist das jüngste Desaster namens „Heizungsgesetz“ nur die letzte in einer ganzen Reihe von politischen Entscheidungen, die von der Mehrheit der Wahlberechtigten niemals eine Zustimmung erhalten hätten. Die Aufzählung erspare ich mir.

 

Die Rechtfertigungsvolte der „Demokraten“

Diejenigen, die dem Volk, das sie in Sonntagsreden als den Souverän preisen, ihre Politik aufzwingen, geruhen gleichzeitig, sich als die einzig wahren Demokraten darzustellen und von dieser falschen Prämisse aus den falschen Schluss zu ziehen, jeder, der mehr Demokratie anmahnt oder gar fordert, könne nur ein Populist, wahrscheinlich sogar ein rechter Populist und folglich ein Rechtsradikaler und Rechtsextremist sein, der als politikunfähig zu disqualifizieren und strafrechtlich zu verfolgen ist.

 

Ihre Argumentation ist ebenso schlicht wie grundgesetzwidrig.

Wir sind gewählt. Wir haben den Regierungsauftrag vom Volk erhalten. Wer unsere Politik grundsätzlich in Frage stellt, ist unser Feind, und weil wir Verfassungsorgan sind, auch Verfassungsfeind.

Aus dieser Argumentation resultieren dann solche zu Damokles-Schwertern geschmiedeten geistigen Pflugscharen, wie die verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates durch Verächtlichmachung seiner Repräsentanten bis hinunter auf die kommunale Ebene.

Im Grundgesetz heißt es: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“

Die Realität, und das lässt sich begründen, sieht so aus, dass einige Parteien die politische Willensbildung des Volkes bewusst behindern. Das sind nicht nur die jeweiligen Regierungsparteien, sondern auch jene Teile der Opposition, die dem Beifall klatschend zustimmen.

Dies geschieht auf zwei Wegen.

  1. Durch massive Eingriffe in das Grundrecht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten,
    indem der Zugang zu missliebigen Quellen erschwert, ihre Reichweite eingeschränkt und jeder Betreiber einer reichweitenstarken (Internet-) Plattform mit massiven Strafandrohungen zur Löschung missliebiger Inhalte – ohne die vorherige gerichtliche Prüfung der Strafwürdigkeit – genötigt wird.
  2. Durch penetrante Diskriminierung des politischen Gegners mit Worten, die sich längst nicht im dauerhaften Argument der Verfassungsfeindlichkeit erschöpfen, und Taten, wie zum Beispiel der Verweigerung eines stellvertretenden Bundestagsvorsitzenden für eine der im Bundestag vertretenen Fraktionen, dem Ausschluss von der Finanzierung parteinaher Stiftungen oder der „Rückgängigmachung“ von Wahlen. Dass die Wähler damit nicht zur politischen Willensbildung angeregt, sondern eher abschreckt werden, sich zu informieren und informiert ihren Willen zu bilden, dürfte dabei durchaus eines der dahinterstehenden Motive sein.

Dass ein Großteil der Medien die so agierenden Parteien dabei unterstützt, statt dieses Gebaren – zumindest auf der staats- und demokratie-theoretischen Ebene – kritisch zu hinterfragen, macht die Situation nicht besser.

 

Was macht nun den rechtskonservativen Verfassungsfeind aus?

Das Eis, auf dem hier getanzt wird, ist hauchdünn, wenn nicht gar lediglich eine Fata Morgana.

Bei Wikipedia findet sich ein Artikel über den Begriff „Verfassungsfeindlichkeit“. Dort wird das Bundesverfassungsgericht aus seinem Verbotsurteil gegen die SRP von 1952 zitiert, wonach verfassungsfeindlich ist, wessen Bestreben sich gegen die grundlegenden Verfassungswerte richtet, welche sind:

  • Die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, also die Achtung vor den „Grundrechten“,
  • Die Volkssouveränität,
  • Die Gewaltenteilung,
  • Die Verantwortlichkeit der Regierung,
  • Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung,
  • Die Unabhängigkeit der Gerichte,
  • Das Mehrparteienprinzip
  • Die Chancengleichheit für alle politischen Parteien, mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.

 

Artikel 1 des Grundgesetzes unterscheidet zwischen unverletzlichen, unveräußerlichen Menschenrechten, zu denen sich das deutsche Volk bekennt, und den im Grundgesetz benannten Grundrechten, an welche Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht gebunden sind.

Es gibt im Deutschland der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Auffassungen und Auslegungen der vorstehend angeführten Grundwerte, die eine Verfassungswirklichkeit hergestellt haben, die ich als problematisch empfinde.

  • So halte ich ein allgemeines Menschenrecht auf Einwanderung nach Deutschland und Alimentierung durch Deutschland für nicht existent und eine seriöse Herleitung aus den allgemeinen Menschenrechten für schlicht unmöglich. Auf dem Boden des Grundgesetzes steht nach meinem Dafürhalten fest mit beiden Beinen, wer zu Artikel 16a des Grundgesetzes ja sagt, wo es heißt: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“
  • Was die Volkssouveränität betrifft, wie sie in Artikel 20 Grundgesetz beschrieben wird: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, so halte ich sie durch den Versuch, der EU-Verfassung ohne Volksabstimmung zuzustimmen für ebenso verletzt, wie durch die Quasi-Aufgabe der Staatlichkeit durch die bis heute nicht geheilte Grenzöffnung und durch die rund drei Jahre währende Phase der weitgehenden Aufhebung der Grundrechte, weil der Staat glaubte, das Recht auf körperliche Unversehrtheit sei kein Abwehrrecht der Bürger gegen den Staat, sondern verpflichte ihn zu Maßnahmen, womit schwere Eingriffe in die Grundrechte gerechtfertigt seien.
  • In Bezug auf die Gewaltenteilung sind ebenfalls Zweifel anzumelden, ob denn der Bundestag tatsächlich als Legislative fungiert oder nur als ein dem Bundespräsidenten vorgeschaltetes Bestätigungsgremium zur Verabschiedung von Gesetzen der Regierung, bzw. zur Übernahme von so genanntem „EU-Recht“ ins nationale Recht. Hier erklärt sogar die Bundeszentrale für politische Bildung beschwichtigend: „Dabei ist natürlich zu beachten, dass in einem parlamentarischen System wie in der Bundesrepublik Deutschland keine strikte Gewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung vorhanden ist wie in einem präsidentiellen System (z. B. USA). Stattdessen sind Legislative und Exekutive im Parlament eng miteinander verflochten (vgl. z. B. Böhret et al. 1979, S. 208 ff.)“
  • Die Verantwortlichkeit der Regierung? Hier sehe ich ein semantisches Problem der Art, dass nicht wirklich Verantwortung gemeint ist, sondern lediglich die alleinige Kompetenz, Deutschland zu regieren. Eine Regierung, die sowohl in ihrer Gesamtheit, als auch in jeder einzelnen an der Regierung beteiligten Person für ihr Handeln im Rahmen der weit gesteckten Regierungskompetenz keine andere Konsequenz zu gewärtigen hat, als eventuell nicht wiedergewählt zu werden, mag zwar eine Verantwortung vor der Geschichte, vielleicht sogar vor dem eigenen Gewissen zu tragen haben, nicht aber – Amtseid hin oder her – im gegenwärtigen Handeln vor dem eigenen Volk.
  • Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung scheint im Großen und Ganzen gewahrt, sieht man von unvermeidlichen Fällen menschlichen Versagens ab. Doch stellt sich die Frage, ob die Gesetze, nach denen die Verwaltung zu arbeiten hat, nicht genau jenen beklagenswerten Zustand der Überbürokratisierung hervorgebracht haben, der die Verwaltung in Überlastung und personeller und materieller Unterausstattung lähmt und teils ineffizient, teils ineffektiv erscheinen lässt.
  • Die Unabhängigkeit der „Gerichte“ – soweit „Gericht“ abstrakt für die Institution als organisatorische Einheit steht – ist gewahrt. Die Unabhängigkeit der Justiz in ihrer konkreten Existenz jedoch nicht, denn weisungsgebundene Staatsanwaltschaften und disziplinarrechtlich „lenkbare“ Richter sowie im Parteiengekungel gekürte Verfassungsrichter sind vom Ideal der Gewaltenteilung doch recht weit entfernt. Dies hat inzwischen soweit geführt, dass deutsche Gerichte einen europäischen Haftbefehl nicht wirksam erlassen können. Das hat der EuGH am 27.05.2019 verbindlich festgestellt. (Az.: C-508/18, C-82/19 und C-509/18).
  • Das Mehrparteienprinzip ist gewahrt, wenn auch Tendenzen zu erkennen sind, eine bestimmte Partei als „Paria“ zu stigmatisieren und sie als außerhalb der legitimen Parteienlandschaft stehend auszugrenzen.
  • Der Aussage zum Mehrparteienprinzip schließt sich eine Aussage zur „Chancengleichheit für alle politischen Parteien, mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition“ nahtlos an.
    Der AfD wird diese Chancengleichheit, mit Verweis auf die Beobachtung durch den Verfassungsschutz auf mehr oder minder subtile Weise, auch bei der Finanzierung, verwehrt.

Schieben wir den undefinierten Begriff „echte Demokratie“ aus der Überschrift dieses Artikels zur Seite und ziehen wir uns auf die Frage der Unterschiede zwischen Verfassungsfeindlichkeit und Verfassungstreue zurück, so gerät zunächst einmal, wie vorstehend angerissen, die Verfassungswirklichkeit mit dem Wortlaut – und nach meinem Dafürhalten auch mit dem Geist – des Grundgesetzes in Konflikt.

Gerade jene Grundwerte, die das Verfassungsgericht 1952 als den Kern der Verfassung herausgestellt hat,

auf die jeder Angriff als verfassungsfeindlich anzusehen ist, falls er – so das Verfassungsgericht 1956 im Urteil zum KPD-Verbot – mit Gewalt oder mit dem propagierten Mittel der Gewalt in einer aktiv kämpferischen, aggressiven Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung vorgetragen wird,

haben in der Verfassungswirklichkeit erhebliche Verletzungen durch Repräsentanten der Staatsorgane davongetragen, jedoch nicht mit dem zur Verfassungsfeindlichkeit erforderlichen Mittel der Gewalt, sondern durch die Nutzung jener Macht, die sich die Staatsorgane mit der Gestaltung der Verfassungswirklichkeit zugesprochen haben.

 

In einer echten Demokratie

erschiene es absurd, wenn

  • Forderungen nach Verbesserungen in den demokratischen Strukturen und Prozessen, wie zum Beispiel nach mehr direkter Demokratie durch Volksabstimmungen und -Entscheide,
  • Forderungen nach Herstellung einer echten Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative,
  • Forderungen nach Stärkung der staatlichen Souveränität, zum Beispiel durch eine Reorganisation der EU, mit dem Ziel statt des Brüsseler Zentralismus die Idee vom „Europa der Vaterländer“ neu zu beleben, verbunden mit der Forderung nach einer klaren Bestimmung und Durchsetzung nationaler Interessen in allen internationalen Beziehungen, auch gegenüber der WHO und anderen überstaatlichen Organisationen,
  • Forderungen nach Wiederherstellung der Meinungsfreiheit nach dem Wortsinn des Grundgesetzes,
  • Forderungen nach einer Zurückdrängung der staatlichen Kontroll- und Überwachungsmechanismen,
  • Forderungen nach einer deutlichen Begrenzung und Regulierung des Zuzugs von Migranten,
  • Forderungen nach der Aufarbeitung der Exekutiv-Exzesse während der Corona-Pandemie,
  • und alle weiteren, ähnlichen Begehren der Bevölkerung, wie sie die Demoskopen regelmäßig ermitteln,

nicht etwa offen, unter Abwägung von Vor- und Nachteilen, lösungsorientiert  diskutiert, sondern mit Ausgrenzung, Abqualifizierung und strafrechtlichen Konsequenzen bedroht werden.

So lange noch öffentlich behauptet wird, auch nur eine dieser Forderungen stamme aus einem „braunen Sumpf“ und verstoße gegen das Grundgesetz, habe ich vollstes Verständnis für Hubert Aiwanger, der in seiner bemerkenswerten Rede am 10. Juni 2023 in Erding aufgerufen hat:

„Jetzt ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss und denen in Berlin sagt: ,Ihr habt’s wohl den Arsch offen.‘“