Dialog zu „Wehe, wenn sie losgelassen“

Von den Zuschriften zum Tageskommentar vom Montag, 10.08.2020 möchte ich heute eine öffentlich machen.

Frau M.L. schrieb mir:

Lieber Herr Kreutzer,

das ist ja mal wieder ein intressanter, scharf beobachteter Text — klingt aber ein bisschen, als würden Sie die gute alte erbliche Ständegesellschaft befürworten, einfach weil jede*r zufriedener ist, wenn er oder sie sich nur nach unten vergleicht und nicht nach oben. Das wollten Sie bestimmt nicht sagen, oder? Um bei Schiller zu bleiben: „Dem Verdienste seine Kronen, Untergang der Lügenbrut!“ Vom Letzteren mal abgesehen, soll es dann auch wirklich Verdienst sein, das Unterschiede rechtfertigt — nichts sonst. Das Verdienst wohlgemerkt, nicht der Verdienst. Die guten alten Tugenden eben. Es gibt wirklich zu viele Ungerechtigkeiten, und beim Thema Gerechtigkeit setzt ein ganz elementarer Sinn der Menschen ein — Unrecht ertragen sie nicht. Wenn jemand nur wegen äußerer Merkmale oder Herkunft zur Hilfsarbeiter*in abgestempelt wird, dann ist das Unrecht. Es hat sich ja noch niemand hingestellt und demonstriert, dass er/sie wegen mangelnder Schönheit weniger Auswahl bei der Partnerwahl habe als andere und darauf bestehe, auch Chancen auf die begehrtesten potenziellen Partner*innen zu erhalten. Das wäre wirklich Gleichheitsunsinn. Es geht den Menschen aber in der großen Mehrheit um Berufs- und Bildungschancen.

Aber vielleicht kommt das noch — Nachteilsausgleich für Unattraktive 🙂  Ein bisschen ist es ja schon so mit der Bewerbung ohne Foto, die immer mehr propagiert wird. Nein, der Punkt geht wieder auf die Berufschancen raus, und dort ist Gleichheit für Unattraktive sinnvoll. Oder?

Liebe Grüße

M. L.

Meine Antwort:

Liebe Frau Lessing,

die „gute alte Ständegesellschaft“ ist es nicht. Dieser fehlte das Moment der vertikalen Durchlässigkeit. Wie Sie beim Lesen entdeckt haben, beklage ich den Verlust der vergleichenden Selbsterkenntnis – und das nach oben und nach unten.

Nein – es ist mir nicht in den Sinn gekommen, eine Hierarchie als vorbildlich hinzustellen, deren  Mitglieder immer nur geringschätzig, und sich dabei selbst erhöhend, auf die niedrigeren Stufen der Pyramide hinabschauen. Mir ging es darum, die aus dem Gleichheitskonstrukt erwachsene Massen-Selbstüberschätzung mit spitzer Feder anzupieksen, und dem das „Erkenne dich selbst!“, entgegen zu stellen. Weil „rechte Selbsterkenntnis“ nämlich einerseits dem Strebsamen hilft, vom realen und festen Grund aus, den nächsten Schritt zu tun, und andererseits jedem ermöglicht, sich – statt negative Emotionen hervorzubringen – in der konkreten Situation bis zum Stadium der Zufriedenheit einzurichten.

Warum haben wir denn in der politischen Führung  ein Über-Maas an Inkompetenz?

Ich vermute, es hängt auch damit zusammen, dass der Heiko und die Saskia und die Svenja und der Robert samt Annalena aufgrund der Indoktrination mit der Formel „Alle Menschen sind gleich!“ gar nicht auf die Idee kommen, einen Vergleich anzustellen, in dem sie feststellen könnten, dass es Kompetentere und Geeignetere für ihre Posten geben könnte – und weil die Damen und Herren Mustermann aus dem gleichen Grund – und mit wachsender Berechtigung – sich von „Ihresgleichen“ gut regiert fühlen.

Ich gebe zu, der Gedanke klammert vieles aus, was ebenfalls zur herrschenden Situation beigetragen hat. Doch ist es, meine ich, wie mit dem vierten Rad am Wagen. Wenn es fehlt – wenn also dieses Gleichheitsgedönse nicht in alle Köpfe gehämmert worden wäre – würde sich herausstellen, dass das Gefährt nicht fahrtüchtig ist.

Den anderen Aspekt, der Ihnen, Frau L., am Herzen liegt, dass es nämlich tatsächlich Diskriminierung und damit unschuldige Opfer gibt, will ich gar nicht bestreiten. Im Text „Wehe, wenn sie losgelassen“ habe ich diese als „Ausnahmen“ angeführt. Das ist meine Überzeugung, dass es sich um Ausnahmen handelt. Ein Stück weit habe ich diese Überzeugung damit begründet, dass es eben immer nur einen Bundeskanzler geben kann und dass 1,5 Millionen offene Stellen eben nicht geeignet sind, 3 Millionen Arbeitslose aufzunehmen. Das kann man weit, weit ausdehnen, bis hin zur Diskriminierung die darin besteht, dass ein einarmiger muslimischer Neger auf Hartz IV keine Chance hat, als Mieter für ein 180 m² Luxus-Penthouse in bester Lage in Frage zu kommen.

Daran würde sich übrigens auch im reinrassigen und wahren Kommunismus nichts ändern. Außer, dass vielleicht selbst der verdienteste Genosse vom Penthouse genauso träumen müsste, wie vom Wartburg. Aber das wissen Sie selbst.

Es gibt Unterschiede. Unterschiede manifestieren sich in vielerlei Ausprägungen.

Ich hatte mal zwei Mitarbeiter mit vergleichbaren, sehr vielseitigen Aufgaben. Der eine hat sich engagiert, hat gelernt, hat Ideen entwickelt, wusste sich zu helfen und war, wenn’s wichtig war, auch noch abends um halb acht im Büro. Der andere hatte seinen „Posten“, arbeitete nach Vorschrift bzw. Anweisung, fand immer Schuldige für seine Fehler und war pünktlich um 16.00 Uhr der Erste an der Stempeluhr. Der eine war dankbar für die Gehaltserhöhung – der andere beklagte sich lauthals über die schreiende Ungerechtigkeit, zumal er doch zehn Jahre älter sei.

Natürlich war der Betriebsrat der Überzeugung, ich würde hier zweierlei Maß anlegen, und dass da einer mehr Überstunden gemacht habe, als die Polizei erlaubt, dürfte ich keinesfalls positiv berücksichtigen, stattdessen müsse ich bedenken, dass der Ältere und Erfahrenere seine Arbeit eben deswegen in der regulären Arbeitszeit erledigen könne, was dem anderen offenbar nicht gelingen würde … Deshalb müsse gelten: Gleiche Arbeit, gleicher Lohn.

Matthäus  25,14-30

Von den anvertrauten Talenten

14 Denn es ist wie mit einem Menschen, der außer Landes ging: Er rief seine Knechte und vertraute ihnen sein Vermögen an; dem einen gab er fünf Zentner Silber, dem andern zwei, dem dritten einen, jedem nach seiner Tüchtigkeit, und ging außer Landes. Sogleich ging der hin, der fünf Zentner empfangen hatte, und handelte mit ihnen und gewann weitere fünf dazu, ebenso gewann der, der zwei Zentner empfangen hatte, zwei weitere dazu.

Der aber einen empfangen hatte, ging hin, grub ein Loch in die Erde und verbarg das Geld seines Herrn. Nach langer Zeit kam der Herr dieser Knechte und forderte Rechenschaft von ihnen.

Da trat herzu, der fünf Zentner empfangen hatte, und legte weitere fünf Zentner dazu und sprach: Herr, du hast mir fünf Zentner anvertraut; siehe da, ich habe fünf Zentner dazugewonnen. Da sprach sein Herr zu ihm: Recht so, du guter und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude! Da trat auch herzu, der zwei Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, du hast mir zwei Zentner anvertraut; siehe da, ich habe zwei dazugewonnen. Sein Herr sprach zu ihm: Recht so, du guter und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude!

Da trat auch herzu, der einen Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, ich wusste, dass du ein harter Mann bist: Du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast; und ich fürchtete mich, ging hin und verbarg deinen Zentner in der Erde. Siehe, da hast du das Deine.

Sein Herr aber antwortete und sprach zu ihm: Du böser und fauler Knecht! Wusstest du, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe? Dann hättest du mein Geld zu den Wechslern bringen sollen, und wenn ich gekommen wäre, hätte ich das Meine wiederbekommen mit Zinsen.

Darum nehmt ihm den Zentner ab und gebt ihn dem, der zehn Zentner hat. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.

Und den unnützen Knecht werft hinaus in die äußerste Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern.

Zu hart?

Eigentlich nur „christlich“ – und ein weiteres Beispiel für mögliche ergänzende Interpretationen der „Nächsten“-liebe.

 

Mit besten Grüßen

Egon W. Kreutzer

 

Frau L. schrieb mir daraufhin zurück:

Ja, lieber Herr Kreutzer, der fleißige von Ihren zwei Mitarbeitern hat es wirklich verdient. Das ist gerecht. Es ist natürlich wahr, dass Unterschiede allen Reiz in der Welt ausmachen und es nicht nur unmöglich, sondern auch nicht wünschenswert ist, sie auszumerzen. Und ich bin auch sicher, dass Sie ein gerecht denkender Mensch sind. Wahrscheinlich haben Sie das so sehr als klar, als „agreed“ vorausgesetzt, dass Sie es in Ihrem Artikel nicht mehr sehr betont haben. Und vielleicht bin ich auch verwöhnt durch die heutige Gewohnheit, sich erstmal von allem Inkorrekten zu „distanzieren“, auch wenn das völlig klar ist.

Schlagen Sie den Leuten, die für absolute Gleichheit sind, doch mal eine weltweite Mittelwert- oder Medianbildung vor! Dann werden wir alle so wohlhabend und gebildet sein wie der Medianmensch unserer 7,7 Milliarden, und wir werden alle genauso lange leben wie sie/er… die Gleichheitsfreunde gehen Ihnen schnell von der Fahne! Sie wollen natürlich die Gleichheit auf höchstem Niveau. Wie sagte mal jemand Kluges: „Wenn alle Menschen gleich wären, würde im Prinzip einer genügen!“ 😉

Liebe Grüße
M.L.