Das Richtige im Falschen

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Das Richtige im Falschen.

Es gäbe kein richtiges Leben im Falschen, haben wir als zentrale Weisheit Adornos erfahren. Worum es ihm ging? Geschenkt! Adorno war Antifaschist, genügt das nicht?

Es ging ihm darum, dass man einfach nicht mehr alles sagen konnte. Dass man das, was man für richtig hielt, öffentlich zu widerrufen  und auf das für falsch erachtete einen Eid zu leisten hatte, wollte man überleben. Nicht richtig leben, sondern überleben. Angepasst überleben. Geistig-moralisches Mimikri.

Nun mögen andere Adorno-Versteher das ganz anders beurteilen – ich bleibe bei  dieser, meiner „universellen“ Lesart, die vollkommen unabhängig von der konkreten Ausprägung eines Unterdrückungsapparates ihre Gültigkeit hat.

Im Prinzip ist die Demokratie ja dazu da, den Mehrheitswillen zu erforschen und ihm zum Durchbruch zu verhelfen. Ich gehe auch durchaus davon aus, dass es schon immer die Mehrheiten waren, die entscheidenden Einfluss auf das Zusammenleben in den Gesellschaften und auf die nach außen wirksamen Ziele der Gesellschaften hatten, kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass wir ein überaus träges System betrachten, bei dem die Bildung der Mehrheiten dem Auftreten der Erfordernisse regelmäßig mit erheblicher Verspätung, dann aber mit umso entschlossenerem Willen folgt.

Ich bin mir bewusst, dass der folgende Gedankengang zumindest in Teilen im Widerspruch zu Le Bons „Psychologie der Massen“ steht, weil ich die „Erweckung der Massenseele“ nicht einem einzigen, besonderen Umstand in einem besonderen Augenblick zuschreibe, sondern als den Schlusspunkt einer allmählichen Entwicklung betrachte, die in dem, was LeBon beschrieben hat, (lediglich) ihren Kulminationspunkt erreicht, der ohne die vorangegangene Entwicklung, ohne die Trägheit der Mehrheit, nicht zustandekommen könnte.

Wagen wir ein bescheidenes Gedankenexperiment:

Was meinen Sie, was wäre geschehen, wenn Greta Thunberg und Robert Habeck vor 35 Jahren, also zu dem Zeitpunkt als die Grünen mit Joschka Fischer ihren ersten Minister in ein Landeskabinett entsandten, Gelegenheit gehabt hätten, vor einer größeren Menschenmenge genau die Gedanken mit den gleichen Worten und der gleichen Emotionalität vorzutragen, wie sie sie heute vortragen?

Ich denke, kaum jemand wird glauben, dass davon ein nennenswerter Einfluss auf die „Masse“ der Zuhörer ausgegangen wäre, noch dass darüberhinaus ein Einfluss auf die Wähler bei den nächsten Wahlen festzustellen gewesen wäre. Die Grünen waren damals für die Masse einfach nur „Spinner“, während sie für Union, SPD und FDP (andere Parteien gab es im Bundestag noch nicht), eine Gefahr darstellten, die man – wehret den Anfängen! – glaubte, mit allen Mitteln bekämpfen zu müssen.

Ein halbes Menschenleben später und mit dem Austausch fast der Hälfte der damals Lebenden durch seitdem erst Geborene, können Habeck und Greta große Hallen und Marktplätze füllen und ihre Anhänger in Trance reden.

Damals, vor 35 Jahren, gab es sehr konkrete Notwendigkeiten, um die von der Industrie – durchaus auch im Zusammenwirken mit den zügellos gewordenen Konsumenten – angerichteten Umweltschäden einzudämmen, zu reparieren und neue zu vermeiden. Überall wurden Kläranlagen errichtet, um Flüsse, die zu Kloaken geworden waren, wieder zu lebendigen Gewässern zu machen. Jeder größere Schornstein bekam seine Abgasentschwefelungsanlage um die Gefahr des sauren Regens zu reduzieren und die bereits eingetretenen Schädigungen der Wälder zu heilen. Wir haben massenhaft verbaute asbesthaltige Bauteile mit hohen Kosten wieder aus unseren Gebäuden entfernt und zudem die vielerorts verwendeten Polichlorierten Biphenyle (PCB) ebenfalls. Das giftige Schwermetall Blei, mit dem hohe Verdichtungswerte der Verbrennungsmotoren ermöglicht worden waren, wurde aus den Treibstoffen verbannt. Mit diesen Anstrengungen waren – nach meiner Einschätzung – bereits 90 Prozent der für die Menschen und den Erhalt der sie umgebenden, natürlichen Umwelt schädlichen, selbstgemachten Probleme wieder aus der Welt geschafft.

Natürlich haben das nicht die Grünen bewerkstelligt – allenfalls indirekt. Die politische Konkurrenz glaubte, den Grünen erst die Themen und dann die Wähler wegnehmen zu können, und so haben sich CDU, CSU und SPD wo immer es ihnen möglich war, mit Unterstützung der Industrie übrigens, die sich sehr davor fürchtete, eines Tages von den Grünen regiert zu werden, darum gekümmert, dass der Himmel über der Ruhr (Willy Brandt) wieder sauber wurde und der CDU Umweltminister Klaus Töpfer schon 1988, unter todesmutiger Missachtung des noch bestehenden, verschmutzungsbedingten Badeverbotes, bei Flusskilometer 495 in den Rhein steigen, ihn schwimmend durchqueren und lebend ans rettende Ufer gelangen konnte.

Nun standen die Grünen, wollten sie nicht eingestehen, überflüssig geworden zu sein, vor der Aufgabe, die verbliebenen 10 Prozent so auf ihre Plakate zu schreiben, dass sie viel größer und wichtiger wirkten also die schon abgearbeiteten 90 Prozent. Weil die Wähler bemerkt hatten, dass das, was sich die Spinner auf die Fahnen geschrieben hatten, tatsächlich auch von den Altparteien aufgegriffen und umgesetzt wurde, also so falsch nicht gewesen sein konnte, ging es nun erst so richtig los:  Das sich im Wechsel der Jahreszeiten öffnende und schließende Ozonloch über der Antarktis wurde ins Visier genommen, die Anwendung der für das Wachstum des Ozonlochs verantwortlichen Fluorkohlenwasserstoffe (FCKW) wurde verboten, zugleich aber die Anwendung maximaler Mengen von Sonnenschutzcreme mit maximalen Sonnenschutzfaktoren verordnet, weil schließlich die unsichtbaren ultravioletten Anteile des Sonnenlichtes, die von der Ozonschicht nicht mehr ausgefiltert werden konnten, nun direkt auf der Haut vernichtet werden mussten. Der „unsichtbare Feind“ war damit endgültig ins Repertoire der grünen Wahlpropaganda eingezogen und diente als vollwertiger Ersatz für die nicht mehr vorhandenen, weil bereits gelösten Probleme. Nachdem diese Schlacht geschlagen war, blieb den Grünen fast nichts mehr zu tun übrig. Aber die Partei war gewachsen, hatte sich etabliert, wurde als Koalitonspartner benötigt, und so gelangten sie in die Rolle derjenigen, welche die politische Strahlkraft von Verboten erkannten. Zuerst misslang das noch, wie beim Versuch, Einweg-Flaschen oder Getränke-Dosen zu verbieten, es blieb von Trittins kühnen Forderungen nur die Missgeburt eines Dosenpfandes übrig, was heute Harz-IV-Empfängern hilft, ihr Einkommen aufzubessern.

Das Verbot ist die einfachste Methode, um Gläubige von Ungläubigen zu unterscheiden, Identität unter den Folgsamen zu stiften  und Widerspenstige auszugrenzen. Dabei sind diese Wirkungen umso stärker und eindeutiger, je unsinniger das Verbot ist, von dem sie hervorgerufen werden.

Das Verbot von Feinstaub-Emissionen kam ebenso auf die Tagesordnung, wie das Verbot, Stickstoffoxide auszustoßen,  und das Verbot von Bauarbeiten, wo je einmal ein Feldhamster gesichtet worden sein soll, verwandelte Naturschutz mehr und mehr in ein Verbot jeglicher wirtschaftlicher Nutzung von Flächen außerhalb bestehender Bebauungen.

… und als die Grünen soweit gekommen waren, als ihr Job schon übererfüllt war, hatten sie sich endlich qualifiziert, im ganzen Land die Fünf-Prozent-Hürden zu überspringen und in Koalitionen mit einer der  Alt-Parteien das Regierungsgeschäft zu betreiben. Das heißt jetzt:  Gendergerechte Sprache, freie Wahl der sexuellen Identität, dritte Toiletten, Kampf dem Gender-Pay-Gap, Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare, Sondersteuer auf Fleisch, Veganismus, Feminismus und der jeden Blödsinn heiligende Kampf gegen Rechts.

Es wäre aber ein Irrtum, anzunehmen, sie würden deswegen gewählt. Gewählt werden sie, weil es eine ausreichende Zahl von Menschen gibt, die den Grünen auf allen Politikfeldern mehr zutrauen als den anderen Parteien und dieses Zutrauen beruht auf nichts anderem als der Tatsache, dass es die Grünen immer noch gibt und dass sie von immer mehr Menschen gewählt werden.

Die Sache mit dem Klima und dem CO2 lasse ich jetzt aus, weil es nicht hierher gehört, und erkläre das Gedankenexperiment für beendet.

Was ich zeigen wollte, war die Diskrepanz zwischen dem Auftreten und erstem Erkennen der Symptome von Problemen und der breiten Zustimmung der Allgemeinheit für Absichten, diesen Problemen zu begegnen, was soweit gehen  kann, dass die Zustimmung erst erfolgt, wenn die Notwendigkeit schon gar nicht mehr besteht. Dies lässt sich durchaus als ein wiederkehrendes zyklisches Verhalten beschreiben, dem alle „demokratischen“ Mehrheits- und Willensbildungen folgen.

Ein solcher Zyklus beginnt mit der allmählichen Gewöhnung der Massen an die Symptome neuer Probleme, die als „Selbstverständlichkeiten“ wahrgenommen werden. Erste Warnungen vor der Schädlichkeit der Entwicklung werden in den Wind geschlagen, Ansätze zur Problemlösung abgelehnt, weil sie Verhaltensänderungen erfordern. Noch ist es leicht für die politische Führung, diesen Widerstand zum Zwecke des Machterhalts zu unterstützen und mit den Stimmen der Mehrheit der Veränderungsunwilligen Wahlen zu gewinnen. Die Zunahme der Symptome, bzw. der Intensität ihrer Wirkungen bewirkt eine Zunahme der Zahl derjenigen Bürger, die sich der Problematik bewusst werden und die Dringlichkeit des Gegensteuerns erkennen. Dies ist eine für den Machterhalt bedrohliche Entwicklung, der zunächst mit vermehrter Propaganda, aber auch mit verstärkten Repressionen begegnet wird. Allerdings bekommen die „Machstrukturen“ dabei Risse, aus absoluter Ablehnung heraus erwachsen Zugeständnisse, aus den Zugeständnissen werden Programme. Die frühen Warner stellen fest, dass ihre einstigen erbitterten Gegner die Lorbeeren einsammeln, von denen sie glauben, sie stünden ihnen selbst zu und beginnen – um unterscheidbar zu bleiben – immer  extremere Forderungen aufzustellen. Damit werden nun nicht mehr nur die Vernünftigen unter den Wählern angesprochen, sondern alle verrückten Außenseiter, denen zugesichert wird, ihre Belange mit aller Kraft der bewährten, kampferprobten Bewegung zu vertreten. Zum Ende des Zyklus ist eine neue, dominierende gesellschaftliche Kraft entstanden, die  eine neue, von ihr selbst definierte Mitte markiert, an der vorbei nicht mehr regiert werden kann. Die Kraft dieser neuen Mitte besteht dabei  vor allem darin, dass ihre Ziele bereits erreicht sind, dass keine Anstrengungen und Kämpfe mehr erforderlich sind, dass die übergroße Mehrheit ihren Frieden auch mit den unsinnigsten Verboten gemacht hat, weil die Massen sich allmählich an die Symptome  der Probleme ihrer dergestalt veränderten Gesellschaft gewöhnt haben und sie als „Selbstverständlichkeiten“ wahrnehmen.

In der Organisation des Zusammenlebens von Gesellschaften ist ein „allgemeines Optimum“, sollte es je erreicht werden, eine Einigung auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner, der  letztlich von allen als unbefriedigend angesehen wird, weil jeder Optimierungsmöglichkeiten erkennt, von denen er, von sich auf andere schließend, überzeugt ist, sie würden allen nützen. Ein solches  „allgemeines“ Optimum hindert die einen daran, sich ihrer Ellenbogen in dem Maße zu bedienen, wie sie es für ihr gutes Recht halten, und es zwingt die anderen, soweit es ihnen noch irgend möglich ist, selbst für ihren Unterhalt zu sorgen. Ein weites Feld für Liberale, auch für Neoliberale, wie auch für Sozialisten und Kommunisten. „Grün“ kommt in dieser Gegenüberstellung ebenso wenig vor, wie „bürgerlich“. Beide können in beiden Lagern auftreten. So ist Grün zum Beispiel eine Untermenge, die hierzulande bei den sozialistischen Truppen zu finden ist. Prinz Charles und Al Gore, die ja durchaus auch die grünen Farben tragen, können jedoch andererseits nur den Liberalen und Neoliberalen zugerechnet werden. Was Karl Valentin einst in Bezug auf die akustischen und olfaktorischen Sensationen eines Feuerwerks erläuterte: „Es riecht nicht alles gut, was kracht“, lässt sich auf die politischen Farbenlehre so übertragen: „Nicht in jedem Wolf steckt auch ein Schafspelz!“ (Den letzten Satz bitte bis zum „Aha!“ kurz sacken lassen.)

Die Betrachtung dieser zyklisch verlaufenden Entwicklungsschritte führt  den Adorno-Satz unter Verwendung des Bildes der Metamorphose weiter:

„Das richtige Leben im richtigen Leben ist der Höhepunkt der Existenz,
der ohne den Weg dahin,
ohne das Festhalten am Richtigen,
auch und vor allem im Falschen,
nicht erreicht werden kann.“

Die Optimierung unserer Gesellschaft auf einen pseudoliberalen Ökosozialismus hin, dessen Liberalität sich in der zwangsweisen Verordnung sexueller Vielfalt und Schamlosigkeit erschöpft, hat unter der immer weiter nachlassenden Wahrnehmung der Richtlinienkompetenz durch Angela Merkel ihren Höhepunkt erreicht. Das Pendel verweilt für einen historischen Augenblick am linken oberen Totpunkt.

Der sich immer deutlicher ankündigende wirtschaftliche Abstieg Deutschlands, der oberhalb der zunehmenden Verblödung  der Massen mit einer beängstigenden intellektuellen Ödnis einhergeht und durch Führungsschwäche infolge des Verlusts eines stabilen Standpunktes, im Verbund mit Ziellosigkeit, Willenlosigkeit und Unfähigkeit gekennzeichnet ist, hat den aktuellen Zyklus an jenen Punkt gebracht, an dem die Gewöhnung der Massen an die 2002 von Schröder ausgelösten Probleme von Erwerbs-, Alters- und Kinderarmut im Niedriglohnsektor, von Pflegenotstand, Mietennotstand und Strompreisnotstand in Zweifel an der Richtigkeit  der damals eingeleiteten Maßnahmen und ihrer Fortsetzung bis in die jüngste Gegenwart umgeschlagen ist.  Nun verwandelt sich dieser Zweifel Schritt für Schritt in eine Annäherung an alternative Rezepte. Erkennbar ist das derzeit noch mehr am Verlust des Wählervertrauens in jene Parteien, die schon alleine deswegen keine Volksparteien mehr sind, weil sie den Begriff „Volk“ in devoter Anbiederung an die dominierenden Strömungen aus ihren Wortschatz getilgt haben, als an den Kräfteverhältnissen zwischen Liberalen und Sozialisten in den Parlamenten.

Uns mag Eile geboten erscheinen. Die Geschichte lässt sich Zeit. 35 Jahre von 1950 bis Joschka Fischer, 35 Jahre bis zum Zusammenbruch von SPD und CDU, 35 Jahre bis 2055.