598 Abgeordnete – und kein Sitz mehr.

598 Abgeordnete – und kein Sitz mehr!
Das ließe sich machen.

Weil Wolfgang Schäuble aktuell vorschlägt, die Zahl der Direktmandate zu verringern, also Wahlkreise zusammenzulegen und damit die Distanz zwischen Kandidaten und Wählern nochmals zu vergrößern, was bei Beibehaltung der gleichen Regularien des Wahlrechts das Problem der Überhang- und Ausgleichsmandate vielleicht verkleinern, aber eben nicht prinzipiell lösen würde, bin ich in mich gegangen und habe nach einer besseren Lösung gesucht. Wobei klar ist, dass eine bessere Lösung nicht zur gleichen Sitzverteilung führen kann wie die bisherige Lösung, doch sehe ich eine Chance, dem Wählerwillen sogar näher zu kommen.

Ich beschreibe hier auch den ersten Umweg zur Lösung, weil ich annehme, dass die gefundene Lösung dadurch verständlicher wird. Wundern Sie sich also nicht über die krassen Auswirkungen in der ersten Version, es geht danach sehr viel „harmonischer“ weiter.

Der deutsche Sonderweg im Wahlrecht, zwei verschiedenen Prinzipien zugleich gerecht werden zu wollen, nämlich

  • dem Prinzip der reinen Mehrheitswahl, aus der stets exakt die Hälfte der regulär zu vergebenen Sitze per Erststimme an die Sieger in den einzelnen Wahlkreisen vergeben wird, und
  • dem Prinzip der Verhältniswahl, nach dem über die Zweitstimme das Verhältnis der im Bundestag vertretenen Parteien abgebildet werden soll,

kann prinzipiell nicht funktionieren, weil es nicht zu verhindern ist, dass auf eine Partei mehr Sitze für Direktkandidaten entfallen als ihr nach dem Verhältniswahlrecht zustünden. Von den direkt Gewählten kann man aber keinen ausschließen, so dass sich die Sitzverteilung nach dem Verhältniswahlrecht nur herstellen lässt, wenn diese so genannten „Überhangmandate“ einer Partei,  den anderen Parteien als „Ausgleichsmandate“ zugestanden werden.

Diese Denkweise hat dazu geführt, dass heute statt 598 Abgeordneten tatsächlich 709 im Bundestag sitzen, also fast 20 Prozent mehr als vorgesehen.

Das ganze Ausmaß der Problematik wird aber erst dann sichtbar, wenn man das Wahlrecht in einer (äußerst unwahrscheinlichen) Extremsituation auf den Prüfstand stellt.

Angenommen, die Partei A erhielte 100% aller Direktmandate, aber keine einzige Zweitstimme. Sie dürfte also – nach den Zweitstimmen – überhaupt nicht im Bundestag sitzen, besetzt aber über die Direktmandate 50% der regulären Sitze. Diese Situation ist mit Ausgleichsmandaten nicht mehr aufzulösen. Absolut nicht.

 

Da sich der Bundestag weiterhin nicht in der Lage sieht, das Wahlrecht so zu reformieren, dass die Zahl von 598 Sitzen für alle Gewählten ausreicht, meine ich, einen Vorschlag vortragen zu dürfen, der den Gedanken der beiden Wahlsysteme beibehält, aber diesen wirklich konsequent zu Ende denkt.

Dazu könnte beschlossen werden, die Zweitstimmen-Verhältnisse ausschließlich auf die zweite Hälfte der Sitze anzuwenden, während die andere Hälfte nach wie vor über Direktmandate besetzt wird.

Punkt, aus, Feierabend.

Die massive Verschiebung der Sitzverteilung mag auf den ersten Blick erschrecken. Auf den zweiten Blick wird man feststellen, dass ein so ausgestaltetes Wahlrecht durchaus auch Vorteile hätte, die weit über die bloße Einhaltung der Maximalgröße des Bundestages hinausgingen.

Selbst wenn man unterstellt, dass sich das Wahlverhalten nicht verändern würde, tritt als erster Vorteil in Erscheinung, dass Parteien, deren Vertreter in der Bevölkerung großen Zuspruch erfahren, die man kennt und denen man vertraut, massiv gewinnen, was – nach meiner Einschätzung – den Wählerwillen durchaus besser zum Ausdruck brächte als die bisherige Sitzverteilung.

Dies wiederum, das zeigen die Zahlen, erleichtert die Regierungsbildung und macht ggfs. erforderliche Koalitionsvereinbarungen einfacher.

Allerdings wohnt auch dieser Methode ein systematischer Fehler inne.

Die Sitzverteilung wird nämlich auch in diesem System dadurch verfälscht, dass für den Gewinn eines Wahlkreises niemals 100% der Erststimmen erforderlich sind, sondern dass ein Direktmandat unter Umständen schon mit 25 oder 30 Prozent der Stimmen gewonnen werden kann, wenn mehrere Kandidaten mit vergleichbaren Chancen an den Start gehen.

Es muss also bei der endgültigen Verteilung der Sitze eine Korrektur vorgenommen werden, welche die Stimmenanteile aus den Erststimmen berücksichtigt. Man nehme dazu die prozentualen Erststimmen-Anteile und ordne sie den Zweitstimmen der Parteien zu, was in der Regel einfach ist, weil kaum einmal ein Erststimmenkandidat keiner Partei zugeordnet werden kann.

Setzt man nun die Summen der Parteien aus Erst- und Zweitstimmen zueinander ins Verhältnis, ergeben sich daraus die Soll-Anteile der Sitze für den Bundestag.

299 Sitze sind bereits fest vergeben. Die Sitzzahl von Parteien, die aus den Erststimmen bereits mehr Sitze erhalten, als ihnen nach ihrem Anteil an Erst- und Zweitstimmen zustünden, ist durch die Direktmandate begrenzt.

Die Sitze, die nach dem Abzug der Direktmandate verbleiben, werden nach dem Verhältnis der Gesamtstimmen auf die übrigen Parteien verteilt. Das können durchaus auch weniger als 299 sein.

Im folgenden Zahlenbeispiel, beruhend auf dem Ergebnis der Bundestagswahl von 2017, hätten der Union nach dem Verhältnis der Gesamtstimmen 215 Sitze zugestanden. Da sie 231 Direktmandate und damit 16 Sitze mehr erhalten hat, als ihr dem Verhältnis nach zustünden, werden auf die übrigen Parteien nur noch 283 Sitze nach dem Stimmenverhältnis verteilt. Die Differenz zwischen den hier ausgewiesenen Sitzen und der Sollstärke von 598 Sitzen erklärt sich aus Rundungsdifferenzen. Aber ich kann hier nicht auch noch das D’Hondt-Verfahren anwenden.

 

(Diese Tabelle enthielt ursprünglich zum Teil falsche Zahlen. Ich habe das am 15.04.2020 13.30 Uhr korrigiert)

Nach diesem Verfahren ist sichergestellt, dass es immer nur 598 Abgeordnete im Bundestag geben kann. Das Verhältniswahlrecht büßt – zu Gunsten der Partei mit „Überhangmandaten“ an Gewicht ein. Dafür werden die Erststimmen der Wahlkreis-Verlierer in die Wichtung aufgenommen.

Daraus dürfte sich eine Änderung des Wahlverhaltens ergeben, weil nun, im Gegensatz zum bisherigen Verfahren, keine Erststimme mehr verschenkt wird, wenn der Wunschkandidat keine Mehrheit erringt.

Anhänger kleinerer Parteien werden folglich ihre Erststimme nicht mehr an das „nächstkleinere Übel“ vergeben, sondern, so wie die Anhänger der größeren Parteien ihre beiden Stimmen bei ihrer bevorzugten Partei abgeben. Das erachte ich, neben der Begrenzung der Sitze, für den wichtigsten Fortschritt in der Weiterentwicklung des Wahlrechts, und bin überzeugt, dass die kleineren Parteien im Bundestag – gegenüber der Beispielrechnung – dadurch im nennenswerten Umfang zusätzliche Sitze gewinnen würden.

Das was nach dem gültigen Wahlrecht unlösbar ist, nämlich eine Sitzverteilung herzustellen, wenn eine Partei 100% der Erststimmen, aber nur 0% der Zweitstimmen auf sich vereint, ergibt nach diesen Regeln schlicht 50% der Sitze für die Partei mit den 100% Erststimmen. Ein solches Ergebnis wird jedoch noch unwahrscheinlicher, wenn alle Erststimmen in die Sitzverteilung eingehen.

Sitzbemessung Listenplätze für Parteien ohne Überhangmandate:

((Ep + Zp)/2) *((598-Ü)/100)-DMp
Ep=Erststimmenanteil der jeweiligen Partei, Zp=Zweitstimmenanteil der jeweiligen Partei,Ü=Überhangmandate aller Parteien, DMp=Direktmandate der jeweiligen Partei