Wenn der Verfassungsschutz verfassungswidrig ist

Das Bundesverfassungsgericht hat dem bayerischen Verfassungsschutzgesetz von 2016 nach immerhin acht Jahren der Wirksamkeit die teilweise Verfassungswidrigkeit attestiert, jedoch – mangels anderer verfügbarer Regelungen – eine eingeschränkte Weitergeltung bis Mitte  2023 gestattet.

SPIEGEL Online berichtet.

Ich habe die vor acht Jahren aufgeflammte Diskussion um dieses Gesetz nur noch ziemlich nebulös im Hinterkopf. Die Frage, ob die damit ermöglichten Grundrechtseingriffe mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Einklang zu bringen sind, war seinerzeit jedoch von mehreren Seiten gestellt worden. Nichtsdestowenigertrotz hat die CSU mit ihrer Landtagsmehrheit das Gesetz beschlossen – und das bayerische Landesamt für Verfassungsschutz danach vorgehen lassen.

Nach meiner Einschätzung  haben wir es mit einem ausgemachten Skandal mit gleich mehreren skandalösen Facetten zu tun.

  1. Der erste Skandal besteht darin, dass sich die CSU in Bayern überhaupt dazu entschlossen hat, ein derart umstrittenes und zugleich fragwürdiges Gesetz  zu verabschieden. Gab es denn im bayerischen Innenministerium nicht genug Expertise, um die darin enthaltenen, verfassungswidrigen Elemente erkennen und folglich im Gesetzestext zu vermeiden oder zumindest die Voraussetzungen für bestimmte geheimdienstliche Eingriffe und Maßnahmen so zu beschreiben, dass sie einer höchstrichterlichen Würdigung standhalten könnten? Falls nicht, dann muss von einem Ausmaß an Dilettantismus ausgegangen werden, das einer Landesregierung und ihrer Parlamentsmehrheit eigentlich nicht zugestanden werden kann. Falls doch, dann hat es sich wieder einmal um einen Akt gehandelt, bei dem schlicht und einfach erst einmal abgewartet werden sollte, ob sich überhaupt Widerstand regt und zu einer Verfassungsklage führen wird, und falls ja, weiter abgewartet werden sollte, bis ein Spruch aus Karlsruhe auf dem Tisch liegt, woraufhin man sich wieder Zeit nehmen kann, eine Nachbesserung zu verabschieden, die aber nicht unbedingt so gestaltet sein muss, dass sie den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts entspricht, weil – wenn nicht wieder geklagt wird – der Spruch „Zähigkeit geht vor Fähigkeit“  wieder einmal seine Gültigkeit bewiesen hat.
    Ein solches Vorgehen ist zwar nach den Spielregeln möglich, dennoch moralisch zutiefst verwerflich, weil hier die Schwäche des Rechtsstaats, auf Verfassungsverstöße nicht schnell und wirksam reagieren zu können, schamlos ausgenutzt wird.
  2. Der zweite Skandal besteht darin, dass erst acht lange Jahre eines verfassungswidrigen Zustandes vergehen mussten, bis es zu dem heute ergangenen Spruch aus Karlsruhe kommen konnte.
    Hier muss die Frage erlaubt sein, wo denn die so genannten „demokratischen Kräfte“ der Republik über diese lange Zeit gewesen sind, was sich die Regierungschefs der anderen Bundesländer angesichts des bayerischen Vorstoßes zur weitgehenden Ermächtigung der bayerischen Verfassungsschützer gedacht haben mögen, was sich die CDU und die SPD als Regierungsparteien im Bund, und die Oppositionsparteien in Bund und Ländern gedacht haben? Herrschte allgemein Zustimmung zum bayerischen Vorstoß? Wollte man unter Umständen den Bayern nacheifern, und hat deshalb stillgehalten?
    Wenn heute die CSU von Karlsruhe gerügt wurde, dann muss diese Rüge gleichermaßen auch an alle anderen etablierten politischen Parteien adressiert werden, die sich eben nicht dafür eingesetzt haben, dass auch die Bayern den vollen (noch existenten) Schutz des Grundgesetzes für sich beanspruechen können.
  3. Der dritte Skandal besteht darin, dass es eines Vereins bedurfte, nämlich der „Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V.“ (GFF), um das skandalöse Gesetz überhaupt zur Überprüfung auf den Tisch der Karlsruher Robenträger zu legen. Dieser Verein hat es übernommen, die Beschwerden mehrerer Personen, die Funktionsträger und Mitglieder von jenen Organisationen sind, die im bayerischen Verfassungsschutzbericht Erwähnung finden, zusammenzufassen und Prof. Dr. Matthias Becker mit der Formulierung der Verfassungsbeschwerde zu beauftragen. Gäbe es die GFF nicht, das in weiten Teilen verfassungswidrige Gesetz würde in voller Schönheit in Bayern weiterhin zur Anwendung kommen können.
  4. Der vierte Skandal besteht darin, dass die Formulierung und Verabschiedung verfassungswidriger Gesetze und Verordnungen, bei denen Grund für die Vermutung besteht, dass den Urhebern die Verfassungswidrigkeit bewusst gewesen sein musste, zumindest aber Zweifel bestanden haben müssen, die auch von Kritikern vernehmbar artikuliert wurden, für die Urheber keinerlei Konsequenzen nach sich zieht. Alleine die Vorstellung, dass es 2016 nicht zu diesem Gesetz gekommen wäre, sondern dass unter den bayerischen Sicherheitskräften eine geheime Vereinbarung getroffen worden wäre, sich gegenseitig bei der Nutzung von verfassungswidrigen Methoden der Erkenntnisgewinnung zu unterstützen und zu decken, genauso, wie es im Gesetz erlaubt wurde, wirft doch die Frage auf, mit welchen Konsequenzen diese Personen hätten rechnen müssen, sei ihr verfassungswidriges Treiben aufgedeckt und juristisch gewürdigt worden. Es kann davon ausgegangen werden, dass einige davon hätten zurücktreten müssen, während andere mit strafrechtlichen Konsequenzen hätten rechnen müssen. Der vierte Skandal besteht also darin, dass verfassungsfeindliches Handeln ohne Konsequenzen bleibt, wenn die „Verschwörer“ offen vorgehen und sich den Anschein der demokratischen Legitimation ihres Handelns geben.

Der Genralskandal besteht aber darin, dass alle demokratischen Spielregeln, alle mit der Gewaltenteilung eingebauten Sicherungen vollständig und über lange Jahre der stillschweigenden Duldung versagt haben. Dies wiederum hat auch sehr viel damit zu tun, dass es reichweitenstarke Medien, die sich solcher Skandale annehmen und sie in die Schlagzeilen heben, bevor das Verfassungsgericht gesprochen hat, einfach nicht mehr gibt.

Noch ist über die konkreten Inhalte des Urteils nur sehr pauschal berichtet worden. Wundern würde ich mich jedoch nicht, wenn sich nach Würdigung der schriftlichen Urteilsbegründung herausstellen sollte, dass das Bundesverfassungsgericht damit den Weg frei gemacht hätte, die Befugnisse der übrigen Landesämter und des Bundesamtesamtes für Verfassungsschutz insgesamt auszuweiten und damit einige noch gehegte verfassungsrechtliche Bedenken vom Tisch zu wischen.