Kursk

PaD 30 /2024  – Hier auch als PDF verfügbar: Pad 30 2024 Kursk

Die nach meinem Eindruck am meisten vom Bellizimus belebte deutsche Tageszeitung, die Frankfurter Rundschau, wird nicht müde, vom Schlachtfeld auf russischem Boden zu berichten und die strategische Klugheit des ukrainischen (Gegen-) Angriffs zu loben.

„Putin wütet wegen Kursk-Offensive gegen den Westen“

findet sich als Überschrift über einer Art von Zusammenfassung der Ereignisse aus westlich-ukrainischer Sicht, wobei das Blatt den Beleg für das „Wüten“ Putins allerdings nicht nur schuldig bleibt, sondern im Kleingedruckten ganz andere Formulierungen wählt. Nur ein Zitat:

„Der Westen bekämpft uns mit den Händen der Ukrainer“, erklärte Putin. Über das mutmaßliche Ziel der Offensive sagte der Kreml-Chef, die Ukraine versuche „mit Hilfe ihrer westlichen Herren“, ihre Position im Vorfeld möglicher Gespräche zu verbessern. Weiter drohte er: „Der Feind wird mit Sicherheit die Antwort bekommen, die er verdient, und alle unsere Ziele werden ohne Zweifel erreicht.“

(Erklären, sagen und drohen bedeuten eben nicht das Gleiche wie wüten.)

Ein Versuch,
die Lage in der russischen Grenzregion Kursk
auf Basis von Fakten zu beurteilen

Unabhängig überprüfte Fakten gibt es nicht, doch was einigermaßen gesichert erscheint, weil es von keiner Seite lautstark dementiert wird, ist Folgendes:

  • Ukrainische Truppen haben im Gebiet Kursk auf einer Breite von 40 bis 50 Kilometern die russische Grenze überschritten und sind im Laufe einer Woche zwischen 12 und 20 Kilometern tief auf russisches Gebiet vorgedrungen.
  • Die Stärke des ukrainischen Kontingents wird mit rund 12.000 Mann angegeben.
  • Russland hat seit Beginn der Aktion 120.000 Zivilisten aus der Kampfzone evakuiert und will noch weitere 60.000 Personen in Sicherheit bringen.

Die Ukraine hat – nach ihren Angaben – etwa 1.000 Quadratkilometer erobert, mit einer Truppendichte von 12 Mann pro Quadrakilometer. Nach russischen Angaben wurden nur 500 Quadratkilometer besetzt, was einer Truppendichte von 24 Mann pro Quadratkilometer entspräche. Die Frontlinie dürfte nach ukrainischen Angaben rund 90 Kilometer lang sein, nach russischen Angaben etwa 65 Kilometer, was durchschnittliche eine bis zwei ukrainische Kompanien pro Kilometer bedeutet.

Die Tatsache, dass auf russischer Seite eine großangelegte Evakuierungsaktion läuft, die wohl bis Ende der Woche mit der Evakuierung von 180.000 Personen abgeschlossen sein dürfte, deutet darauf hin, dass die Ukraine keineswegs die Kontrolle über das Gebiet erringen konnte, sondern sich lediglich entlang der im Vormarsch entstandenen Frontlinie festsetzen konnte, wobei der Vormarsch offenbar zum Stillstand gekommen ist, ohne dass das Kernkraftwerk Kursk erreicht, geschweige denn besetzt werden konnte.

Die von der Ukraine genannte Zahl von mehr als 70 eingenommenen Ortschaften ist nach meiner Einschätzung damit zu erklären, dass die Dörfer nach der Evakuierung schlicht aufgegeben wurden, weil mit ihrer Rückeroberung kein militärischer Nutzen verbunden gewesen wäre. Stattdessen erscheint es sinnvoller, die Spitzen der ukrainischen Verbände an der Kontaktlinie zurückzudrängen.

Nach russischen Angaben gelingt das inzwischen, während das Oberkommando der ukrainischen Streitkräfte gestern noch von „Fortschritten“ auf einer Fläche von 40 Quadratkilometern berichtete.

Zusammenfassend komme ich zu dem Schluss, dass sich an der militärischen Situation der Ukraine nichts geändert hat. In allen anderen Frontabschnitten rückt das russische Militär ungeachtet der ukrainischen Offensive in der Region Kursk weiter vor. Der Versuch, eine ähnliche Operation im Bereich Belgorod zu starten ist wohl gescheitert oder noch vor Beginn wieder abgeblasen worden. Mit der Heranführung russischer Reserven an den neuen Frontabschnitt wird sich das ukrainische Expeditionskorps mit hoher Wahrscheinlichkeit unter hohen Verlusten ebenfalls zurückdrängen lassen müssen.

In psychologischer Hinsicht mag es Selenski gelungen sein, dem eigenen Militär und vor allem den frisch eingezogenen Kräften mit den Anfangserfolgen der Offensive Mut und Zuversicht zu vermitteln und die Stimmung der Bevölkerung in den vom Krieg – abgesehen von Energieproblemen – weitgehend verschonten Gebieten zu verbessern.

Auf russischer Seite dürfte man niemanden ernsthaft beeindruckt haben. Der „Husarenstreich“ ohne nennenswerte militärische Bedeutung hat zwar sicher keine Freude ausgelöst, sondern wird als eine törichte Frechheit des Feindes betrachtet, mit der kein vernünftiger Mensch zu rechnen brauchte, und dem daher mit der gebotenen Härte zu begegnen ist.

Was sollte das also?

Wäre die Ukraine belagert und eingekesselt, was sie nicht ist (die Nachschublinien aus dem Westen sind ebenso offen, wie die Fluchtwege in Richtung Westen), könnte man diese Offensive als den Versuch eines Ausfalls der Belagerten ansehen. Den Augenblick verminderter Aufmerksamkeit des Feindes ausnutzend, um mit möglichst vielen Kämpfern dem Kessel zu entkommen. Dumm nur, dass dieser Ausfall nicht in freies, offenes Gelände führt, wo man sich ausruhen und neu sortieren könnte, sondern mitten in das Gebiet des Gegners hinein, der schnell in der Lage ist, seine Verteidigung zu organisieren. Weil auch den ukrainischen Strategen bekannt sein muss, dass Offensivkräfte eine mehrfache zahlenmäßige Überlegenheit brauchen, um erfolgreich zu sein, dürfte ihnen klar gewesen sein, dass der Vorstoß – nach dem Verpuffen des Überraschungsmoments – relativ bald gestoppt und unter erheblichen Verlusten wieder zurückgedrängt werden dürfte.

Sollten hier also 12.000 Mann für nichts als einen kurzfristigen psychologischen Effekt  geopfert werden?

Selenski äußerte sich so, dass mit diesem Vorstoß der Druck auf Moskau erhöht werden sollte, sich auf Friedensverhandlungen einzulassen, wobei die besetzten russischen Gebiete als Verhandlungsmasse im Tausch gegen russisch besetzte ukrainische Gebiete eingesetzt werden sollten.

Ich verfüge weder über Mikrofon noch Kamera in den Räumen des ukrainischen Generalstabs und kann daher die Überlegungen, die zu diesem Schachzug und seinem erwarteten Ergebnis geführt haben nicht nachvollziehen.

Von daher kann ich aus Selenskis Worten nur entnehmen, dass der Glaube an einen Sieg der Ukraine dem Hoffen auf ein Ende des Krieges durch einen Friedensvertrag gewichen ist. Da die Lage der Ukraine praktisch täglich ungemütlicher geworden war und ein Friedensschluss nur zu russischen Bedingungen überhaupt noch möglich erschien, mag der Gedanke aufgekommen sein, sich unter Aufbietung aller noch verfügbaren Kräfte noch ein Faustpfand für die Verhandlungen zu sichern.

In solchen Situationen bleibt es nicht aus, dass sich die Beteiligten gegenseitig bestärken, dass Risiken abgetan und gute Chancen selbst noch da gesehen werden, wo sie sich in Verhältnissen von 1 zu 100 und noch ungünstiger bewegen. Die Idee, dies sei die letzte Chance, setzt sich fest und lässt alle Vorsicht vergessen.

Was herauskommt, wenn jemand bereits mit dem Rücken zur Wand steht und sich sagt: „Entweder jetzt, oder nie – alles, oder nichts!“, kann sich jeder selbst ausmalen. Todesmutige Befreiungsschläge gelingen nur selten. Das Misslingen hingegen bedeutet unausweichlich das Ende.

Nach meiner Einschätzung ist die schon heute als gescheitert anzusehende ukrainische Offensive nicht auf dem Mist der westlichen Unterstützer gewachsen, denn gegen deren Interessen wird sie – und das war vielleicht sogar der unausgesprochene Hintergedanke der ukrainischen Führung – das Ende des Krieges massiv beschleunigen.

Das Sterben an der Front im Raum Kursk dient nur noch der Herstellung der öffentlichen Gewissheit der Aussichtslosigkeit und dem Nachweis, wirklich alles getan zu haben, um den russischen Sieg noch abzuwenden.

Die Fanfaren der Nachkriegs-Heldenverehrung sind im Hintergrund bereits zu hören.

Wanderer kommst du nach Sparta,
verkündige dorten,
du habest uns hier liegen gesehen,
wie das Gesetz es befahl.