German Lockdown: So, wie ein bisschen schwanger …?

Aus aktuellem Anlass, heute wollen die Ministerpräsidenten der Länder schließlich die Verlängerung des Lockdowns beschließen, während zugleich Zehntausende von Gastronomen und Einzelhändlern sich unter der Parole „Wir machen auf!“ geschworen haben, den Lockdown einseitig am 11. Januar aufzuheben, ist es angesagt, Argumente und Zielvorstellungen beider Seiten zu beleuchten.

Stellen wir uns eine beliebige Infektionskrankheit vor. Es muss ja nicht immer Corona sein.

Dabei haben wir mit dem Begriff „Infektion“ bereits akzeptiert, dass es Krankheitserreger gibt, die Lebewesen infizieren.

Die Symptome der Krankheit entstehen dadurch, dass die Krankheitserreger sich im Körper festsetzen, sich dort unter günstigen Bedingungen vermehren, und auf die eine oder andere Weise das betroffene Gewebe schädigen.

Infektiös wird ein Mensch dann, wenn die Vermehrung der Krankheitserreger so weit fortgeschritten ist, dass sie massenhaft vom Körper wieder ausgeschieden werden. Das kann auf verschiedenen Wegen geschehen. Zur Verhinderung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten ist es nützlich, die Übertragungswege zu blockieren. Das funktioniert zum Beispiel bei Geschlechtskrankheiten recht gut, indem die Geschlechtspartner eine Isolationsschicht, nämlich ein Kondom, verwenden, um den Kontakt mit möglicherweise infektiösen Körperflüssigkeiten des Partners zu vermeiden.

Bei anderen Infektionskrankheiten stellt sich das Problem der Verhinderung der Ausbreitung deutlich komplexer dar, weil die Übertragungschnittstelle sehr viel breiter ist.

Die Idee, die Weitergabe der Krankheit durch Kontaktsperren zu verhindern, ist seit ewigen Zeiten bewährt. Sie führte unter anderem dazu, dass Lepra-Kranke in streng abgeschirmten Bereichen untergebracht wurden. Es handelt sich dabei um die ersten Formen der Kontaktsperre per Quarantäne im Einsatz gegen eine bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts unheilbare Krankheit. Mit diesem Vorgehen haben sich die Gesunden geschützt und den Kranken zumindest noch eine Art „Gemeinschaftserlebnis“ verschafft, auch wenn es zynisch klingen mag, die Verbannung in eine Leprakolonie als Gemeinschaftserlebnis zu bezeichnen.

Ob nun Kondom oder Leprakolonie, die Wirksamkeit ergibt sich aus dem hermetischen Einschluss der ausbreitungswilligen Erreger in ein abgegrenztes Areal.

Dass die Lepra dennoch nicht ausgestorben ist, mag daran gelegen haben, dass Erkrankte, auch wenn sie schon erste Symptome zeigten, nicht zwingend als solche zu erkennen waren und sich auch – aus Angst vor der Leprakolonie – solange irgend möglich nicht als solche zu erkennen gaben.

Damit nähern wir uns der Problematik der Corona-Krankheit an. Infizierte, die bereits infektiös sind, sind nicht ohne weiteres zu erkennen, und wer mit ersten Symptomen auf seine Selbstheilungskräfte vertraut und die Krankheit mit einem milden Verlauf übersteht, wird auch nicht unbedingt scharf darauf sein, sich freiwillig in Quarantäne zu begeben.

Es reicht also nicht aus, lediglich die eindeutig Erkrankten zu isolieren, was ja geschieht, es reicht auch nicht aus, alle erforschbaren Kontaktpersonen in Quarantäne zu stecken, zumal sich eine vollständige Nachverfolgung inzwischen als unmögliche Aufgabe herausgestellt hat: Die Krankheit wird sich so lange weiter verbreiten, wie sich unerkannte Infektiöse in der Gesellschaft ungehindert bewegen können.

Ein Lockdown, der lediglich darauf abhebt, „private“ Kontakte zu unterbinden, während Schulen und Betriebe, Polizei und andere Behörden, sowie der Lebensmittel-Einzelhandel geöffnet bleiben, kann nicht funktionieren, auch dann nicht, wenn die Maskenpflicht hunderprozentig befolgt würde und alle Hygienemaßnahmen peinlich genau beachtet würden.

Ich halte es an dieser Stelle der Erörterung für notwendig, den so genannten R-Wert kritisch zu hinterfragen. Der R-Wert, nur zur Erinnerung, soll ausdrücken, wie viele weitere Personen ein Infizierter im Verlauf seiner Erkrankung infiziert. Die Grundlage dafür sind die Zahlen der jeweils jüngsten positiven Testergebnisse, die ins Verhältnis gesetzt werden zu einer „geschätzten“ Zahl von Infektiösen, die sich aus dem zeitlichen Vorlauf frührer Testergebnisse ergibt.  Es ist inzwischen unbestritten, dass ein positiver PCR-Test nicht zuverlässig darauf hinweist, dass die positiv getestete Person infektiös ist, infektiös war oder infektiös sein wird, obwohl diese Zahlen nach wie vor als „Neuinfektionen“ bekannt gegeben werden. Es bleibt daher unklar, wieviele echt Positive anfänglich vorhanden waren und wie viele echt Positive unter den so genannten „Neuinfektionen“ zu finden sind.

Dass bei einer gewissen Konstanz falsch positiver Testergebnisse die Relation zwischen den deutlich geringeren Zahlen der richtig positiven Alt-Infektionen und der richtig positiven Neu-Infektionen ebenfalls einigermaßen konstant sein wird, darf meines Erachtens unterstellt werden. Daher kann eingeräumt werden, dass der R-Wert eine gewisse Tendenz der Ausbreitungsgeschwindigkeit anzeigen kann. Weil sich die Testungen allerdings auf immer neue Kohorten von Getesteten beziehen, derzeit ca. 1 Million täglich, bleibt der Einfluss der überhaupt nicht getesteten Infizierten unbekannt.

Es ist ja nicht so, dass es die anfangs Getesteten waren, welche in der kurzen Frist zwischen der Aufnahme des Virus und dem positiven Testergebnis (mit anschließender Quarantäne) die aktuell Getesteten infiziert haben.Die meisten „Neuinfektionen“ dürften von nicht getesteten, unerkannten Infizierten mit leichter oder fehlender Symptomatik ausgegangen sein.

Die aus den täglich genommenen Stichproben von ca. 1 – 1,5% der Bevölkerung gewonnenen „Infizierten-Zahlen“ dürften nur dann auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet werden, wenn der Inzidenzwert im ganzen Lande einigermaßen identisch wäre und alle Grenzen in beiden Richtungen geschlossen wären.

Die aus den Testungen heraus gewonnenen statistischen Werte zur Ausbreitungsdynamik der Krankheit sind daher nicht geeignet, die Wirksamkeit von Maßnahmen einigermaßen korrekt anzuzeigen.

Die Wirksamkeit eines Lockdowns sollte daher unabhängig von den fehlerbehafteten „Messergebnissen“ der Testungen anhand der verfügbaren Daten zur Bevölkerungsstruktur und Mobilität unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in einem statistischen Modell, das die Wahrscheinlichkeit für riskante Kontakte ermittelt, vorhergesagt werden, statt sie auf Basis ungenügender und falscher Testergebnisse hinterher messen zu wollen.

Ich kann hier nur eine grobe Vorstellung von dem abliefern, wie ein solches statistisches Modell beschaffen sein sollte, hoffe allerdings, dass dies ausreicht, um den Ansatz zu verstehen. Ich beziehe mich dabei auf die Ausgestaltung des Lockdowns, wie sie vor Beginn der vorgezogenen/verlängerten Weihnachtsferien beschlossen war.

 

Zentrale Komponente des Lockdowns in Deutschland ist der Begriff „Haushalt“,
der verschmolzen wurde zu „5 Personen aus zwei Haushalten“, die untereinander Kontakt haben dürfen – und zwar innerhalb der vier Wände auch ohne Maske.

2019 gab es in Deutschland rund 41 Millionen Haushalte, die sich wie folgt unterteilen lassen:

17.557.000 Ein-Personen Haushalte
13.781.000 Zwei-Personen Haushalte
 4.952.000 Drei-Personen Haushalte
 3.783.000 Vier-Personen Haushalte
 1.434.ooo Fünf-und-mehr-Personen Haushalte.

Die zulässige Zahl von 5 aus 2 wird also von den Fünf-und-mehr-Personen Haushalten bereits erreicht, ohne dass ein zweiter Haushalt dazukommen darf. Die Vierer können sich mit einem Single zusammentun, die Dreier mit einem Pärchen aus den Zwei-Personen Haushalten.  Lassen wir alle übrigen, nicht die Zahl fünf erreichenden Kombinationen weg, ergeben sich insgesamt 10.169.000 Haushaltspaarungen mit insgesamt 50.845.000 Kontaktpersonen.

Angenommen, zu Beginn des Lockdowns war eine von 10.000 Personen jeweils für den Zeitraum einer Woche infektiös, und nehmen wir weiter an, die zulässigen 5 aus 2 Paarungen würden durchschnittlich einmal pro Woche intensiv wahrgenommen, also für mehrere Stunden in geschlossenen Räumen ohne Maske und bei relativer körperlicher Nähe, und unterstellen wir zudem eine natürliche Immunität bei 20% der Bevölkerung, dann sollten am Ende der Betrachtungswoche zu den 5.084 ursprünglich Infizierten 10.168 Neu-Infinzierte hinzugekommen sein. Vollkommen unabhängig davon, ob diese durch Tests richtig, falsch oder gar nicht erfasst werden.

  • Etwa die Hälfte der Bevölkerung ist erwerbstätig. Angenommen 10% davon sind Alleinselbständige oder arbeiten im Home-Office, dann werden in der nächsten Woche 4.087 frisch infektiös Gewordene an bis zu fünf Tagen mehr oder minder intensiven Kontakt zu mehreren Kollegen und Kunden haben, etliche davon werden auch im öffentlichen Personennahverkehr Kontakt zu völlig Fremden nicht vermeiden können. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass aus diesen Kontakten der Berufstätigen mehr als eine echte Neu-Infektion pro bereits Infiziertem erfolgen wird. Rechnen wir mit rund 5.000.
  • Etwa ein Sechstel der Bevölkerung ist schulpflichtig oder besucht Kindertagesstätten.
    Trotz Klassensplittung und teilweisem Heimunterricht sind dabei ebenfalls an fünf Tagen in der Woche Kontakte mit mindestens 10 Personen in geschlossenen Räumen nicht zu vermeiden. Es werden also 847 frisch Infizierte auf 7626 (Zehnergruppen!) noch nicht Infizierte treffen, von denen wiederum 20% immun sind, so dass 6101 in Gefahr stehen, infiziert zu werden. Maske, Lüften und Hygiene können diese Gefahr reduzieren, aber etwa 30% der Gefährdeten, rund 2.000 Kinder und Schüler wird es treffen. Ein Effekt, der in den Messungen nur deshalb nicht in Erscheinung tritt, weil Kinder die Infektion in der Regel ohne Symptome überstehen, obwohl sie durchaus infektiös sind.
  • Mindestens einmal wöchentlich wird aus jedem Haushalt (aus allen 41 Millionen) mindestens eine Person mindestens einen Supermarkt besuchen. Bei Verweilzeiten von weniger als 30 Minuten, Einlassbeschränkungen, Maskenpflicht und weiteren Maßnahmen der Betreiber zum Infektionsschutz, werden die 10.168 Neu-Infizierten aus den 5 aus 2 Haushalten uner den rund 100.000 Kontaktpersonen, denen sie im Supermarkt begegnen, wohl nur 5 %, also 5.000 Personen infizieren.

Am Ende dieser Woche sind die anfänglichen 10.168 nicht mehr infektiös. Doch es gibt unter den 50 Millionen betrachteten Kontaktpersonen 12.000 Neu-Infektiöse. Hier beginnt der Reigen von Neuem. Die Zahl der tatsächlich Infektiösen ist – trotz Lockdown – gestiegen.

 

Natürlich handelt es sich bei meinem Zahlenwerk um nichts als Annahmen.
Es spricht nichts dafür, dass diese Werte exakt so zutreffen.
Bessere Informationen sollten jedoch bei den Statistikern und bei dem Epidemiologen vorliegen.

Doch – überspitzt formuliert – es spricht auch nichts für die dem Lockdown zugrunde liegende Annahme, dass das Virus strikt zwischen verbotenen und gestatteten Kontakten unterscheiden wird.

Die vom Lockdown besonders getroffenen Einzelhändler, die Gastronomen und die Eventindustrie argumentieren gerne damit, dass die Hauptansteckungsquelle die Familie sei. Das ist sogar richtig. Ist die Familie doch jener Ort, in den das Virus sowohl von den Berufstätigen als auch von den Kindern und den Einkaufenden hineingetragen wird – und wo es dann in den geschlossenen Räumen viele Stunden lang Gelegenheit hat, sich neue Opfer zu suchen.

Würden die Außenkontakte stärker eingeschränkt, könnten auch die Familien nicht im beobachteten Maße als Corona-Brutkasten fungieren. Das Virus entsteht ja nicht in der Familie, nicht in den beiden Haushalten, die sich treffen dürfen. Es wird von den aktiven Familienmitgliedern draußen eingefangen und dann dorthin eingeschleppt, wo es beste Verbreitungsmöglichkeiten vorfindet.

Das soll aber nicht in einem Plädoyer für einen schärferen Lockdown enden.

Man kann nicht für sechs Wochen wirklich alles dichtmachen. Das wäre aber erforderlich, um das Virus mit einiger Sicherheit auszurotten. Allerdings würden Staat und Gesellschaft daran zerbrechen, weil sie darüber ihre materielle Basis verlieren würden.

Daher stellt sich umgekehrt die Frage, wie viel mehr echte Neuinfektionen zu erwarten wären, wenn man den Lockdown aufhebt, Gastronomie, Einzelhandel und Kulturveranstaltungen mit den längst entwickelten Hygiene-Konzepten einfach wieder machen lässt.

Ergäben sich daraus tatsächlich noch viele zusätzliche riskante Kontakte,
oder würden sich die Kontakte nur verlagern?

Wenn sich so ein Haushalt, statt zu Hause am eigenen Herd die Ravioli aus der Dose aufzuwärmen, zum Italiener um die Ecke begibt, um dort am Vierertisch – mit Abstand zum nächsten Tisch – endlich wieder etwas Gutes zu essen, dann ist das in erster Linie eine räumliche Verlagerung der sowieso gegebenen Kontakte.

Ein Kino-Besuch der gleichen Familie, mit Abstand zu den nächsten besetzten Sitzen, fast überall mit den Computersystemen für die Platzreservierung leicht zu bewerkstelligen, wäre auch kaum mehr als eine räumliche Verlagerung der gleichen, unvermeidlichen Kontakte.

Messen, ausschließlich für registrierte Fachbesucher, auch kein Problem. Denn wenn 500 Interessenten nicht zur Messe kommen, kommt halt der Firmenvertreter zu 500 Interessenten, um seine Neuheiten zu bewerben. Ließe sich gut so organisieren, dass keine zusätzlichen riskanten Kontakte entstehen müssten.

Beim Frisör, der Termine vergibt und die auch einhält, ist der Mensch m.E. immer noch besser vor einer Infektion geschützt als im Wartezimmer des Arztes, wo die Patienten dichtgedrängt um 11.30 immer noch auf die Wahrnehmung ihres für 10.00 Uhr vereinbarten Termins warten.

Der Non-Food-Einzelhandel kann mit Begrenzung der Personenzahl pro m² auch sehr viel dafür tun, riskante Kontakte gar nicht erst entstehen zu lassen.

 

Tausend Betrunkene im Bierzelt sind allerdings ein anderes Kaliber.


Das, und vergleichbare Vergnügungen, sollten weiterhin nicht zugelassen werden. Hier gibt es keine Verlagerung der riskanten Kontakte, sondern eine massive Ausweitung.

Ich plädiere dafür, jenen Lockdown, bei dem alles dichtgemacht wird, was für den Export nicht erforderlich ist, aufzuheben, und einen neu durchdachten und passgenau gestalteten Lockdown light zu installieren, bei dem trotz erweiterter Bewegungsfreiheit nur eine vernachlässigbare Menge zusätzlicher riskanter Kontakte entsteht.

Das entspräche nämlich – den schrägen Vergleich kann ich mir nicht verkneifen – dem vernünftigen Umgang mit den schon am Anfang dieses Aufsatzes erwähnten Kondomen:

Man trägt ein Kondom doch nicht prophylaktisch
7 Tage die Woche 24 Stunden lang.
Man streift es nur da und dann über,
wo und wann es tatsächlich etwas zu verhüten gilt.

 

Infos zu „Wir machen auf!“