Erste Stunde: Sozialkunde (3)

  Für das Leben sollt ihr lernen,
nicht für die Schule.

 

Guten Morgen.

Ich hoffe, ihr habt die Zeit gefunden, das Kapitel über die Demokratie noch einmal zu lesen. Ich darf euch aber verraten, dass die Demokratie in der Prüfung nicht abgefragt wird. Das Kultusministerium ist zu dem Schluss gekommen, dass alle denkbaren Fragemöglichkeiten zur Demokratie, ausgenommen die ganz und gar trivialen, geeignet sind, die Schüler zu verunsichern. Und das ist ja das Letzte, was wir wollen.

Heute beginnen wir damit, die Grundlagen dessen  zu ergründen, was wir „Rechtsstaat“ nennen.

Also, was braucht ein Rechtsstaat? Brainstorming. Alles raus, was euch einfällt. Magst du an der Tafel mitschreiben, Lennard?

„Einen engagierten Kampf gegen Rechts!“

“ … und Gesetze“

„Vor allem Gerechtigkeit!“

„Ein Staat wird definiert durch ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und die staatliche Ordnung. Die staatliche Ordnung ist die Grundbedingung für den Rechtsstaat.“

Nee, nee. Staatliche Ordnung – das gibt es auch im Unrechtsstaat. Gerade da. Zucht und Ordnung.“

„Im Rechtsstaat muss unterschieden werden können zwischen Recht und Unrecht, und dies auf Basis der Menschenrechte. So kann der Unrechtsstaat ausgeschlossen werden.“

„Also braucht es auch Richter, die das überprüfen können, mit den Menschenrechten.“

“ …  und Polizisten und Gefängnisse. Weil sonst hält sich ja niemand dran.“

„Mindestens genauso wichtig sind dann aber auch Rechtsanwälte und Bewährungshelfer und all so was … und so Hilfe-Telefone für Kinder …“

„Ich finde, dass auch ein bedarfsgerechter Mindestlohn dazugehört.“

Einverstanden, das reicht erst einmal. Wenn ich das grob sortiere, dann ergeben sich zwei Kategorien, unter denen sich eure Beiträge zusammenfassen lassen. Das sind einerseits die Gesetze, als ein Teil der staatlichen Ordnung unter Wahrung der Menschenrechte, versteht sich, und andererseits diejenigen, die darauf achten dass die Gesetze eingehalten werden, also Richter, Anwälte und auch die Polizei und die Gefängnisse.

Ihr habt damit die Aufgaben von zwei so genannten „Gewalten“ im Staat angesprochen. Nämlich die gesetzgebende Gewalt, auch Legislative genannt, und die richterliche Gewalt, die auch Judikative genannt wird. Das müsst ihr jetzt nicht mitschreiben. Steht alles im Buch ab Seite 45. Denkt lieber mal drüber nach, welche Regelung besser wäre:
A) Diejenigen, die Gesetze machen, haben auch deren Einhaltung zu überwachen, oder
B) Wer Gesetze macht, soll nicht richten dürfen und wer richtet, soll keine Gesetze machen?

Sonja, was meinst du?

„Also, … ich denke, dass diejenigen, welche die Gesetze machen, auch am besten wissen, warum und wozu sie diese Gesetze gemacht haben und wie sie im Zweifelsfall anzuwenden sind. Also sollten sie zugleich auch am besten geeignet sein, zu richten, wenn jemand gegen das Gesetz verstößt.“

Und du, Jonas?

„Das muss man praktischer sehen. Die kämen ja gar nicht mehr dazu, neue Gesetze zu machen, wenn sie zugleich als Richter arbeiten müssten. Außerdem, wenn ich das richtig erinnere, steht im Buch, dass das Parlament die Gesetze macht. Das sind ja nicht so viele. Richter und Staatsanwälte braucht es viel, viel mehr, also sollte das schon getrennt werden.“

Sophie?

„Außerdem gibt es ja auch ganz alte Gesetze, die im Parlament gar keiner mehr kennt, weil das vor ihrer Zeit war. Und manche bleiben ja auch nur für vier Jahre. Also ich bin auch für die Trennung. Das ist praktischer, da hat Jonas recht.“

Gibt es noch jemand, der das trotzdem lieber zusammengelegt hätte?

„Ja. Absolut. Man muss das doch vom Ende her bedenken. Die vielen Richter, das sind doch diejenigen, die am meisten davon mitbekommen, was sich so tut an Rechtsstreitereien. Die sollten regelmäßig ihre Erfahrungen austauschen und Vorschläge machen, was neu geregelt werden soll, oder wo überhaupt ein Gesetz fehlt, und dann müssten sich halt welche finden, die das dann ausformulieren und dann kann man das wie bei einem digitalen Parteitag machen, dass nämlich alle Richter online über diese Formulierungen abstimmen, und was dann eine Mehrheit hat, das wird Gesetz.“

Interessante Überlegung. Muss ich schon sagen. Doch bevor ich euch noch länger im finsteren Wald herumlaufen lasse: Die offiziell richtige Aussage lautet: Im Rechtsstaat muss strikte Gewaltenteilung herrschen. Richter sind an das Gesetz gebunden und haben selbst keine Gesetze zu erlassen.

„Und die Gesetzgeber, sind die an nichts gebunden?“

Doch natürlich. Die Legislative ist an das Grundgesetz gebunden, und ansonsten sind die Abgeordneten nur ihrem Gewissen verpflichtet.“

„Und Sie sind ganz sicher, dass es sich dabei um die gleichen Abgeordneten handelt, die wir in  der letzten Stunde besprochen haben, für die es immer nur eine einzige Entscheidung gibt, nämlich ob sie mit ihrer Fraktion stimmen oder gegen die eigene Fraktion?“

Ja. Das sind genau die gleichen Abgeordneten. Und so lange sie ihr Verhalten mit ihrem Gewissen vererinbaren können, was sie alle immer wieder beteuern, so lange entsprechen sie damit den Vorstellungen des Grundgesetzes. Da gibt es kein Problem. Jedenfalls herrscht darüber Konsens unter den Beteiligten.

Was euch allerdings bisher überhaupt nicht in den Sinn gekommen ist, das ist die Dritte Gewalt, die Regierung, oder Exekutive genannt. Auch für die gilt der Grundsatz der strikten Trennung. Die Exekutive erlässt keine Gesetzt und die Exekutive spricht nicht Recht. Wenn also weder die Regierung tun kann, was sie will, sondern an Gesetz und Recht gebunden ist, wenn die richterliche Gewalt die Regierung kontrolliert und Rechtsbrüche verhindert und die Abgeordneten bei der Gesetzgebung nicht von der Regierung beeinflusst werden, dann spricht man von Gewaltenteilung. Niemand im Staat soll sich jedes Recht und damit alle Macht aneignen können, alle müssen sich verantworten, und sei es nur vor dem eigenen Gewissen.

„Können Sie uns Beispiele für Staaten nennen, in denen diese Gewaltenteilung existiert?“

Nun, das beste Beipiel liegt doch ganz nahe, unser eigener Staat, die Bundesrepublik Deutschland, ist ein Vorbild in Sachen Gewaltenteilung.

Deutschland hat ein unabhängiges Parlament und unabhängige Richter und eine Regierung, die sich nach den Gesetzen des Parlaments richten muss und vom Parlament und von den Gerichten kontrolliert wird.

„Da waren wir in den ersten beiden Stunden aber schon einmal weiter, oder?“

Wie meinst du das?

„Nun, da war doch was, mit dem Abstimmungsverhalten der Abgeordneten, oder? Die Opposition, hieß es, wird sowieso überstimmt. Also könnte man annehmen, dass die alles bestimmende Mehrheit im Parlament letztlich identisch ist mit der Regierung, oder?

So darf man das nicht sehen. Das wird dir jeder Faktenchecker um die Ohren hauen. Es gilt das Prinzip des Rollenwechsels.

„Verstehe ich nicht.“

Ist doch ganz einfach. Was bist du im Augenblick? Hm? Im Augenblick bist du Schüler und versuchst, die Gewaltenteilung zu kapieren. Heute nachmittag hast du Training. Da bist du Torwart der Jugendmannschaft der TSG und interessierst dich nur für den Ball. Das sind nur zwei deiner Rollen, die absolut nichts miteinander zu tun haben. Und du hast noch mehr Rollen. Du bist Sohn, du bist auch Enkel, auch dazwischen liegen Unterschiede.

Kann jetzt jemand erklären, wie das in der Politik ist?

„Sie meinen wahrscheinlich, dass der Minister, der zugleich als Abgeordneter einer Regierungspartei im Parlament sitzt, einmal nur „Regierung“ und einmal nur „Parlamentarier“ ist, und dass diese beiden Rollen überhaupt nicht miteinander zu tun haben.“

„… und dann macht die Illustrierte eine Homestory, und da ist er treusorgender Ehemann und Vater, ganz privat, und lässt sich auf dem Fahrersitz des Rasentraktors ablichten, wie ein Landschaftsgärtner …“

„Ich glaube, ich habe das jetzt verstanden. Das ist so, wie bei Mr. Jekyll und Mr. Hyde. Die wissen quasi, wenn sie in der einen Rolle stecken, nichts von ihrer anderen.“

„Bleibt noch eine Frage offen: Wie ist das mit den Richtern, mit der ganzen Judikative? Die sitzen doch nicht gleichzeitig im Parlament.“

Auch dazu findet sich ein perfektes Beispiel für den Rollentausch zum Zweck der Gewaltenteilung. Ich nennen da jetzt bewusst keine Namen, aber nehmen wir an, ein Anwalt mit eigener Kanzlei lässt sich ins Parlament wählen, natürlich gehört er der Regierungspartei an, und dann wird ein neuer Vorsitzender für das Bundesverfassungsgericht gebraucht. Da kann es schon einmal vorkommen, dass die Regierung diesen ihren Anwalt vorschlägt und ins Amt hievt. Wenn der dann die rote Robe anzieht, ist er nur noch Richter. Wenn er sie wieder auszieht, kann er zwar nicht mehr Abgeordneter sein, aber immerhin noch der Regierungspartei angehören und sich zwanglos mit den Ministern oder dem Regierungschef austauschen, was denn wohl gut wäre für Deutschland. Zieht er die rote Robe dann wieder an, hat er das natürlich alles wieder vergessen.

„Gibt es denn einen Fachbegriff für diese Rollenspiele?“

Leider nicht. Nicht so direkt. Es gibt einen ähnliche Begriff, dür den Fall, dass jemand von der Politik in die Wirtchaft wechselt oder von der Wirtschaft in die Politik und wieder zurück. Dann spricht man vom Drehtüreffekt. Das soll allerdings eingeschränkt werden, da sollen Wartefristen eingeführt werden, damit da nicht brühwarm Informationen hin und her fließen, wie bei den Bankern, wo es verboten ist, mit Insiderinformationen Geld zu machen.

„Ich hätte da einen Vorschlag. Der Vergleich mit Jekyll und Hyde passt doch ganz gut. Könnte man es nicht Schizophrenie nennen, also Spaltungsirresein?“

Hm. Ich halte mich da lieber raus. Für mich gilt, was im Buche steht. Aber ganz privat gesprochen:

Ich fürchte, dieser Vorschlag ist schon wieder ein Fall für den Faktenchecker. Wenn man das damit korrekt bezeichnen würde, dann wäre ja die ganze Gewaltenteilung ein Fall für die Psychiatrie – und das wäre dann wohl auch das Ende des Rechtsstaats. Merkt euch noch: Ohne Gewaltenteilung kann es keinen Rechtsstaat geben. Das kommt in der Prüfung dran.

Schluss für heute. Lest bis zur nächsten Stunde im Buch ab Seite 45 weiter. Da werden sich eurer letzten Zweifel an  der Gewaltenteilung in Luft auflösen.

Bis nächste Woche.