PaD 11 /2022 – Hier auch als PDF verfügbar: Pad 11 2022 Die alte weiße Fachkraft geht in Rente
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz ermöglicht seinen Beschäftigten, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren. Das ist erfreulich für die rund 525 Klimaökonomistiker, die ihre Arbeitskraft von zu Hause aus der Wirtschaft und dem Klimaschutz widmen, es ist auch erfreulich, für jene rund 550 sich in familienfreundlicher Teilzeit Befindlichen.
Es ist allerdings offenbar nicht so erfreulich für den Chef des Hauses, Robert Habeck, denn wenn der eine Information braucht, eine Information, die übrigens beim Statistischen Bundesamt in Wiesbaden leicht abzurufen wäre, findet er unter seinen 2187 Mitabeitendenerinnen mit erfüllter 52,5-prozentiger Frauenquote offenbar niemanden, der vor lauter Familienfreundlichkeit dafür noch Zeit fände.
Also hat sich das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) bedient, welches wiederum sein „Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung“ (Kofa) einschaltete, um gegen Honorar wieder einmal herauszufinden, was seit mindestens dreißig Jahren regelmäßig vermeldet wird, dass nämlich der Renteneintritt der Babyboomer ein Loch in die Zahl der aktiv Beschäftigen reißen werde. Die Konturen dieses Loches werden wie folgt beschrieben:
- 22,8 Prozent der Beschäftigten sind aktuell über 55 Jahre alt.
- 7,3 Millionen Menschen werden in den nächsten 10 Jahren aus dem Arbeitsleben ausscheiden.
- 2 Millionen davon arbeiten in Berufen, in denen jetzt schon Fachkräfte fehlen.
Der Kofa-Chef sieht im Ergebnis dieser Studie ein Argument für ein flexibles Renteneintrittsalter. Die alte weiße Fachkraft soll also länger arbeiten, damit es den jungen bunten Kräftchen auch weiterhin an nichts fehlen möge.
Der DGB hingegen setzt am anderen Ende an und verlangt von der Bundesregierung dafür zu sorgen, dass mehr junge Menschen eine berufliche Ausbildung erhalten.
Das studienbeauftragende Ministerium hat nach meiner Kenntnis noch keine Schlüsse aus diesen Zahlen gezogen. Wahrscheinlich hält man es dort für ausreichend, zu wissen, dass sich die Kontinuität der demografischen Entwicklung nicht verändert hat, so dass kein akuter Handlungsbedarf besteht.
Die (Entschuldigung) Erbsenzählerei, wie viele Beschäftigte welcher Branchen wann in Rente gehen werden, wie viele Beschäftigte danach dort noch übrig sein werden und wie viele Nachrücker fehlen, um die lichten Reihen aufzufüllen, ist brotlose Kunst.
Die ersten Schnellschüsse, was man gegen den demografischen Wandel tun könnte, sind so abgedroschen, dass man Mitleid und Erbarmen mit ihren Urhebern empfinden könnte, handelte es sich nicht nur um die verbissen beibehaltenen Rituale ideologischer Verblendung. Die Kapitalseite spricht von ihren älteren Beschäftigten wie von Kraftwerken, deren Laufzeit man verlängern könne, während die Arbeitnehmerseite vom Staat verlangt, er möge die Wirtschaft zwingen, Ausbildungsplätze zu schaffen.
Als noch alte weiße Männer den Unternehmen vorstanden, Männer, deren Interesse nicht dem nächsten Quartalsbericht und dem Börsenkurs galt, sondern der langfristigen Sicherung der Ertragskraft ihrer Unternehmen, war Personalplanung mehr als die Reduktion der Stammbelegschaft auf die allernotwendigsten Erfahrungsträger und geschicktes Jonglieren mit Leiharbeitskräften, Praktikanten, und scheinselbstständigen Subunternehmern. Da war klar, dass man schon heute für die in fünf oder sechs Jahren ausscheidenden Fachkräfte die geeigneten Lehrlinge einzustellen hatte, die nach der Lehrzeit noch zwei, drei Jahre Zeit hatten, sich einzuarbeiten, bevor sie die Aufgabe selbstständig zu erledigen hatten. Und unter diesen Nachwuchskräften hat man langfristig vorher eine Auswahl getroffen für die künftigen Führungskräfte und diese, bei Eignung und Bereitschaft, entsprechend gefördert.
Daraus entstanden homogen gewachsene Belegschaften, die nicht einer von Beratungsunternehmen für teuer Geld übergestülpten Corporate Identy bedurften. Das waren Belegschaften, in denen ein starker Gemeinschaftsgeist lebte, der die Identifizierung mit dem Unternehmen, die Leistungsbereitschaft und die notwendige Leistungsfähigkeit ganz von alleine hervorbrachte.
Eins noch, bevor ich mit dem Abschweifen innehalte:
So, wie man einst beim Personal vorsorgte, hat man sich auch bei den Vorräten verhalten. Die Mindest-Bestände an Material und Zulieferteilen waren so bemessen, dass die Produktion auch beim Ausfall eines Lieferanten problemlos aufrecht erhalten werden konnte, bis es nach menschlichem Ermessen möglich sein würde, Ersatz zu beschaffen. Bei strategisch wichtigen Materialien lag da oft sogar noch bedeutend mehr auf Lager.
Natürlich kostete diese Vorsorge Geld. Seinerzeit wurden diese Mehrkosten genauso betrachtet wie eine Versicherungsprämie. Geld, das man aufwenden muss, um auch mit unvorhergesehenen Problemen fertig zu werden.
Dass die Wirtschaft nun feststellen muss, dass der Arbeitsmarkt, auf dem die gerade nicht benötigten Mitarbeiter ebenso geparkt wurden, wie Material und Teile auf dem LKW der Just-in-Time-Lieferkette, den aktuellen Bedarf an Fachkräften nicht hergibt, ist Folge dieser „Geiz-ist-geil-Mentalität“.
Diese „Geiz-ist-geil-Mentalität“ hat aber noch einen anderen, öffentlich kaum diskutierten Effekt mit sich gebracht.
Alleine in den zehn Jahren von 2011 bis 2020 haben 9,98 Millionen Menschen Deutschland den Rücken zugekehrt und sind dorthin ausgewandert, wo sie sich ein besseres Leben versprachen. Zu einem großen Teil handelt es sich dabei um jüngere, gut ausgebildete Fachkräfte, die im Ausland besser bezahlt und/oder geringer besteuert, auch mit größerer unternehmerischer Freiheit ausgestattet, dahin gezogen sind, wo sich Leistung wirklich lohnt.
Dass die Bevölkerung Deutschlands im gleichen Zeitraum gewachsen ist, ist eine Folge der Zuwanderung.
14.61 Millionen Menschen kamen in diesen 10 Jahren als Zuwanderer nach Deutschland. Zum größten Teil handelt es sich dabei um jüngere, mäßig qualifizierte Personen, die im Arbeitsmarkt – wenn überhaupt – dann im Segment der einfacheren Tätigkeiten einen Platz gefunden haben. Deren Weiterqualifizierung scheitert regelmäßig an unzureichenden Deutschkenntnissen und darüber hinaus an unzureichender schulischer Vorbildung, zum Teil auch an unzureichender Motivation, die Mühen einer mehrjährigen Ausbildung auf sich zu nehmen, weil der Hilfsarbeiterjob auf dem Bau während dieser Zeit deutlich mehr einbringt als der Lohn des Auszubildenden.
Hier haben sich allerdings in letzter Zeit die Einstiegsvoraussetzungen zwischen Zuwanderern und Deutschen angeglichen. Der Erwerb brauchbaren Wissens und nützlicher Fähigkeiten ist unter den Schülern an deutschen Haupt- und Mittelschulen und auch an den Gymnasien so weit zurückgegangen, dass Ausbildungsbetriebe den Bewerbern häufig unzureichende Ausbildungsfähigkeit attestieren, und die Hochschulen das Abitur nicht mehr grundsätzlich als Zeugnis der Hochschulreife ansehen und daher für die Erstsemester, um ihnen zu ermöglichen, den Vorlesungen überhaupt folgen zu können, Nachhilfe-Programme, vor allem in Mathematik, eingerichtet haben.
Hier ist die nächste von der „Geiz-ist-geil-Mentalität“ angerichtet Katastrophe zu besichtigen. Während die Kultusministerien mit Schulreformen und Lehrplanreformen, also weitgehend „kostenlosen“, dafür vor allem ideologisch verbrämten Aktivitäten Unruhe in die Schulen tragen, machen sie jungen Menschen an anderer Stelle deutlich, dass „Lehrer“ in unseren Tagen nicht unbedingt zu den erstrebenswerten Berufen gehört. Nicht nur, dass die Schulen – von der Bausubstanz bis zu den Einrichtungen und Materialien – seit Jahren und Jahrzehnten vernachlässigt werden, auch das Personal selbst wird behandelt wie einst die Wanderarbeiter auf den Plantagen amerikanischer Großgrundbesitzer in den Zeiten der großen Depression. Wer nicht verbeamtet ist – und dieser Anteil ist gestiegen – muss damit rechnen, zu Beginn der Sommerferien die Kündigung zu erhalten und sich beim JobCenter anstellen zu müssen, bis zum Beginn des neuen Schuljahrs die Wiedereinstellung erfolgt. Hinzu kommt die zunehmende Respektlosigkeit der Schüler gegenüber ihren Lehrern, so dass viele bereits die innere Kündigung vollzogen haben und nur noch Dienst nach Vorschrift verrichten.
So spart der Staat bei seinen Ausgaben und kann damit die Steuerbelastung niedrig halten, was wiederum der Exportwirtschaft ermöglicht, im internationalen Wettbewerb mit hohen Gewinnen zu bestehen, obwohl er an anderer Stelle (Energiewende, Migration, Rüstung, Corona) das Geld mit vollen Händen aus allen erreichbaren Fenstern wirft.
Überhaupt sollte in diesem Zusammenhang auch der deutsche Export betrachtet werden. Bei einer Brutto-Wertschöpfung von rund 3 Billionen Euro im Jahr 2020 betrug die Exportquote 43,8 Prozent. Das heißt, 1.3 Billionen Euro dessen, was in Deutschland produziert wurde, stand weder dem inländischen Konsum noch für inländische Sach-Investitionen zur Verfügung, wurde also „nicht in Deutschland“ benötigt. Rechnet man das in erster Näherung auf Arbeitskräfte um, dann kommt über den dicken Daumen heraus, dass die Arbeitskraft von etwa 16 bis 17 Millionen Beschäftigten in Deutschland ausschließlich für den Export verwendet wird.
Dem muss man natürlich die Importe gegenüberstellen. Unglücklicherweise wird in den mir zugänglichen Statistiken nicht danach differenziert, in welchem Umfang Importgüter in Deutschland verbleiben und in welchem Umfang sie nach entsprechender Veredelung doch wieder im Export landen. Das macht es schwer, den tatsächlichen Exportüberschuss zu beziffern, denn die hierzu genannten Zahlen stellen ja nur den Saldo aus der Summe der Exporte und der Summe der Importe dar.
Würde man nur die für den inländischen Bedarf bestimmten Importe berücksichtigen, sollte sich theoretisch ein höherer als der ausgewiesene Exportüberschuss ergeben. Da mir dazu allerdings die Daten fehlen, soll hier nur der für 2021 ausgewiesene Exportüberschuss von 172,9 Milliarden Euro betrachtet werden. Daraus ergeben sich überschläglich immer noch etwa 2,4 Millionen Beschäftigte (aller Qualifikations-Stufen), die theoretisch und beim Streben nach einer ausgeglichenen Handelsbilanz da eingesetzt werden könnten, wo die Fachkräfte für die Produktion von Gütern und Waren für den Binnenmarkt fehlen.
Dass die Folgen dieser langjährigen Fehlsteuerung zu Gunsten des Exports nicht kurzfristig zu beheben sind, ist klar. Ebenso sind die Folgen der langjährigen Fehlsteuerung, die zu einer massiven Auswanderungsbewegung geführt haben, nicht kurzfristig zu beheben.
Jetzt wäre es an der Zeit, zu erkennen, dass es nicht die Verrentung der alten weißen Fachkräfte ist, die zu einem Problem der Wirtschaft und in der Folge auch zu einem Problem der Staatsfinanzierung führen, sondern dass es die unverantwortliche Kurzsichtigkeit der Entscheider in der Politik und in den Vorstandsetagen der Unternehmen war, welche die lange absehbaren Folgen der demografischen Entwicklung praktisch bis zur letzten Minute um des kurzfristigen Vorteils willen ignorierten und in einer unüberbietbaren Naivität darauf vertraut haben, dass man nur die Migration ankurbeln müsse, um auch weiterhin in einem schier unerschöpflichen Potential von Fachkräften schwimmen zu können.
Auch die Naivität in Bezug auf die Entwicklung der Globalisierung, die inzwischen ihre besten Tage gesehen hat, während die Renationalisierung der Volkswirtschaften voranschreitet und sich inzwischen in offenen Handelskriegen manifestiert, spielt bei diesem hausgemachten Problem eine maßgebliche Rolle.
- Der alte weiße Mann wusste noch, dass ein Teil der Ernte für die Aussaat im nächsten Jahr zurückbehalten werden muss.
- Die smarten Vertreter der neokonservativen Lehre haben sich darüber lustig gemacht und die Ernte vollständig verkauft – mit der Begründung, dass der Gewinn dann ausgeschüttet werden muss, wenn er eingetreten ist. Fehlt einem dann im Frühjahr das Saatgut, so die Lehre, könne – ja müsse – man sich einfach nur neu verschulden (als ob die Banken Samenkörner zu verleihen hätten).
- Die jungen bunt-woken Kräfte werden in nicht allzuferner Zukunft bitter darüber klagen, dass ihnen niemand gesagt habe, dass man säen müsse, wenn man ernten will. Sie hätten schließlich im guten Glauben daran gehandelt, dass sich das alles schon irgendwie regeln wird, es habe ja in der Vergangenheit auch immer alles funktioniert.
Mir sind da jene alten weißen Männer eingefallen, die einst als die Kölner Heinzelmännchen im Stillen alle Arbeit taten. Hier der erste und der letzte Vers des Gedichts von August Kopisch, „Die Heinzelmännchen“
Wie war zu Köln es doch vordem
Mit Heinzelmännchen so bequem!
Denn, war man faul, … man legte sich
Hin auf die Bank und pflegte sich:
Da kamen bei Nacht,
Ehe man’s gedacht,
Die Männlein und schwärmten
Und klappten und lärmten
Und rupften
Und zupften
Und hüpften und trabten
Und putzten und schabten …
Und eh ein Faulpelz noch erwacht …
War all sein Tagewerk … bereits gemacht!
O weh! nun sind sie alle fort
Und keines ist mehr hier am Ort!
Man kann nicht mehr wie sonsten ruhn,
Man muss nun alles selber tun!
Ein jeder muss fein
Selbst fleißig sein
Und kratzen und schaben
Und rennen und traben
Und schniegeln
Und biegeln
Und klopfen und hacken
Und kochen und backen.
Ach, dass es noch wie damals wär‘!
Doch kommt die schöne Zeit nicht wieder her!
Das komplette Gedicht ist hier zu finden: http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=6680