Erste Stunde: Sozialkunde (2)

  Für das Leben sollt ihr lernen,
nicht für die Schule.

 

Guten Morgen.

In der letzten Stunde haben wir damit begonnen, uns mit dem Wesen der Republik zu beschäftigen. Ich hoffe, ihr habt euch das zugehörige Kapitel – ab Seite 21 im Buch – inzwischen durchgelesen. Ja?

Gut. Dann können wir uns jetzt mit der Demokratie beschäftigen. Sir Winston Churchill, zu seiner Zeit ein bekannter britischer Politiker, hat über die Demokratie gesagt: „Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.“

Was meint ihr, könnte Churchill damit gemeint haben? Ja, du da hinten?

„Ich verstehe den Satz nicht. Wenn ich zum Beispiel der schlechteste Schüler dieser Klasse wäre …“

Streber! Du bis der beste Schüler dieser Klasse. Nur wenn man uns andere nicht betrachtet, wärst du der Schlechteste. Ausgenommen alle anderen!“

„Das ist aber doch Blödsinn. Zu einem Vergleich braucht man mindestens zwei, und wenn man vom Besten reden will, dann braucht es eigentlich sogar drei, sonst ist es nicht der Beste, sondern nur der Bessere.“

Hallo! So viel Logik am frühen Morgen. Erstaunlich. Gehen wir einfach davon aus, dass Churchill genau das erreichen wollte, eine Diskussion in Gang bringen, in der Staatsformen vergleichend nebeneinander gestellt werden, mit dem Ergebnis, dass die Demokratie keineswegs vollkommen ist. So etwas wie der Einäugige unter Blinden.

„Ja. Und außerdem hat er damit zugegeben, dass ihm auch noch nichts Besseres eingefallen ist.“

Glaubst du  denn, dass es etwas Besseres geben könnte als die Demokratie, also die Volksherrschaft. Volksherrschaft, das ist doch Selbstbestimmung, statt Diktat, das ist Freiheit, statt Gehorsamspflicht. Wo gibt es das sonst?

„Bla, bla, bla!“

Geht das vielleicht auch in einem verständlichen Satz?

„Also, wenn das so wäre, dann würde ich jetzt nicht hier sitzen, sondern mit meinen Freunden Fußball spielen. Statt dessen: Pflicht. Schulpflicht.“

Hm. Du meinst, das Wesen der Demokratie besteht darin, dass jeder machen kann, was er will? Das nennt man nicht Demokratie, sondern Anarchie! In der Demokratie wird gemacht, was die Mehrheit will. Damit ist sichergestellt, dass immer die Meisten zufrieden sind.

„O.K., dann zeige ich Ihnen jetzt mal, was ‚rauskommt, wenn man das ernst nimmt. He! Klasse! Stimmen wir ab! Wer von euch will eigentlich gar nicht in diesem muffigen Klassenzimmer sitzen, sondern lieber draußen sein, und machen, worauf er Lust hat? Arme hoch!“

Gut, gut, gut.

Was ihr hier veranstaltet, das hat doch mit Demokratie nichts zu tun. Man kann doch nicht einfach das, was einem nicht passt, mit einer Abstimmung vom Tisch wischen. Schon gar nicht, wenn diejenigen, die abstimmen, nicht reif genug sind, um die Auswirkungen ihrer Entscheidungen zu überblicken. Niemand von euch käme bis zum Abitur, würde ich euch jetzt einfach gehen lassen, nur weil ihr meint, euer Jux sei so etwas, wie eine demokratische Abstimmung. Es gibt da einen schönen Spruch, habt ihr vielleicht schon mal gehört: Wenn man den Sumpf trockenlegen will, darf man nicht die Frösche fragen! Da denkt mal drüber nach.

„Quaaak! Quaak!

Bleibt bitte ernst. Hat jemand einen konstruktiven Beitrag?

„Sie meinen also, Demokratie ist, wenn man die Betroffenen von den Entscheidungen ausschließt?“

„Genau! Das ist doch die geübte Praxis.“

„Nicht immer. Wenn sich zum Beispiel die Abgeordneten die Diäten erhöhen, da werden überhaupt nur die Frösche gefragt.“

„Quatsch nicht. Du musst noch unterscheiden lernen, zwischen Betroffenen und Begünstigten! Betroffen sind die Steuerzahler, und die werden in diesem Fall gar nicht befragt. Die müssen die Kohle nur aufbringen.“

„Mir kommt es so vor, als ob es zwei Sorten von Fröschen gäbe. Solche, die man fragt, und solche die man nicht fragen darf. Wer teilt die Frösche denn ein, in diese Kategorien?“

Darf ich dazu auch mal wieder etwas sagen?

Danke.

Frösche, das sind diejenigen, die sich aus egoistischen Motiven weigern, persönlichen Verzicht zu leisten und sich deshalb guten Absichten entgegen stellen, die für das Gemeinwohl wichtig sind. Natürlich werden die genauso gefragt, wie alle anderen, nur hilft ihnen ihr Protest nichts, wenn die anderen in der Mehrheit sind.

„Aha. Jetzt verstehe ich aber nicht mehr, warum es dann in der Demokratie noch einen Minderheitenschutz braucht, wenn grundsätzlich gemacht wird, was die Mehrheit will.  Und das ist ja nicht nur ein Minderheitenschutz, sondern gleich ein paar Dutzend (heißt das im Plural eigentlich Schütze?).

Damit sind wir wieder bei Churchill. Es ist natürlich nicht gut, wenn es in einer Bevölkerung Minderheiten gibt …, falsch: Es nicht gut, wenn Minderheiten in einer Bevölkerung von der Mehrheit in praktisch allen entscheidenden Fragen überstimmt werden. Diese Minderheiten haben ja oft ihre eigenen Vorstellungen, ihre eigenen Werte, ihre eigene Kultur, das heißt, sie sind als Angehörige von Minderheiten relativ einfach erkennbar. Weil die niemals gegen die Mehrheit etwas ausrichten könnten, muss der Minderheitenschutz ihnen helfen, ihre Besonderheiten zu bewahren. Ich habe da ein Beispiel: Die Beschneidung männlicher Knaben ist in Deutschland als vorsätzliche Körperverletzung verboten. Für die Angehörigen der jüdischen und muslimischen Minderheiten in Deutschland gilt jedoch, dass Eltern das Recht haben, an ihren Söhnen die rituelle Beschneidung vornehmen zu lassen. Und das ist übrigens demokratisch entschieden worden, am 12. 12. 2012 vom Deutschen Bundestag.

„Ich dachte, in der Demokratie gilt gleiches Recht für alle.“

Grundsätzlich ja. Es steht ja jedem frei, zum Islam zu konvertieren. Gar kein Problem. Und Katholiken und Evangelische wollen ihr Kinder ja gar nicht beschneiden lassen. Einen solchen Ritus gibt es nicht. Also wird auch niemandem ein Recht genommen. 

Jetzt aber Schluss mit der Abschweifung. Kommen wir zurück zum Wesentlichen. Mit eurer Jux-Abstimmung vorhin, habt ihr ein Beispiel dafür gegeben, was herauskommt, wenn man Leute in demokratische Entscheidungsfindungen einbindet, die nicht in der Lage sind, die Folgen ihrer Entscheidungen richtig einzuschätzen. Dagegen gibt es in unserer Demokratie Regeln, die das gleich an mehreren Stellen, quasi eskalierend, verhüten sollen. Wer kann dazu etwas sagen?

Ja, Lisa.

„Soweit ich weiß, sind deswegen Volksabstimmungen auf Bundesebene verboten.“

Jonas.

„Außerdem muss man achtzehn sein, um überhaupt wählen zu dürfen.“

Und du, Larissa?

„Am besten ist es, dass man mindestens fünf Prozent der Stimmen braucht. Wer die nicht zusammenbringt, das kann man wohl so sagen, der ist wahrscheinlich ein Spinner.“

Schön, schön. Aber ist euch eigentlich schon aufgefallen, dass die Wähler gar nichts zu entscheiden haben? Das ist die große Stärke unserer Demokratie. Alle Entscheidungen werden im Parlament getroffen.

„Und wie wird geprüft, ob die ins Parlament Gewählten die Folgen ihrer Entscheidungen überblicken können?“

Nun, davon wird einfach ausgegangen, dass die Parteien schon niemanden aufstellen, der die Folgen seiner Entscheidungen nicht überblicken kann. Zumal es für den Abgeordneten im Bundestag sowieso immer nur eine einzige Entscheidungsmöglichkeit gibt. Die lautet bei jedem Handheben im Plenum immer so: Stimme ich mit meiner Fraktion oder stimme ich nicht mit meiner Fraktion? Wer nicht mit seiner Fraktion stimmt, wird bei den nächsten Wahlen nicht mehr aufgestellt. Das ist so ein Selbstreinigungsprozess der Demokratie, und ihr könnt sicher sein, dass jeder Abgeordnete die Folgen dieser Entscheidung ganz genau kennt.

„Sie meinen, dass die Abgeordneten eigentlich gar nicht zu wissen brauchen, wofür oder wogegen sie stimmen?“

Für die Abgeordneten der Opposition trifft das zu hundert Prozent zu. Es ist ja egal, wofür sie stimmen. Sie werden sowieso überstimmt. Also stimmt man mit der Fraktion und behält die Chance, im nächsten Bundestag wieder mit dabeizusein. Für die Abgeordneten der Regierungsfraktionen ist es zweckmäßig, zu wissen, wofür sie gestimmt haben, denn irgendwann werden sie dies ihre Wählern erklären und begründen müssen. Aber notwendig ist es nicht. Besser ist es, sie verlassen sich darauf, dass die Leute an der Spitze ihrer Partei schon wissen, worauf es ankommt. Das sind letztlich keine zehn Leute, die da in der Ampel bestimmen, was gemacht wird. Beschäftigt euch mal mit den Lebensläufen von Olaf Scholz, Saskia Esken, Lars Klingbeil, Ricarda Lang, Omid Nouripour, Robert Habeck, Annalena Baerbock und Christian Lindner. Das ist die crème de la crème an Kompetenz, Erfahrung und Intelligenz, das Sahnehäubchen auf dem Bundestag sozusagen. Denen kann kein anderer Abgeordneter das Wasser reichen. 

„Weil die Stunde gleich zu Ende ist: Gibt es im Lehrplan auch ein Kapitel über Räterepubliken?“

Nein, bedaure. Wir behandeln in diesem Schuljahr nur Regierungsformen, die es in der EU aktuell noch gibt.

Lest bis zur nächsten Stunde im Buch ab Seite 32 weiter. Dann seid ihr auch über das informiert, was heute aus Zeitgründen zu kurz gekommen ist.

Bis nächste Woche.