Paukenschlag an diesem Tag

Der NDR hat schon gestern, am Gedenktag der Psychiatrietoten, damit begonnen, einen Live-Ticker über die Vorfreude auf den ersten Donnerstag im Oktober einzurichten, wo darauf aufmerksam gemacht wird, dass es „Abgeordnete zum Anfassen“ gäbe und außerdem die Zurschaustellung des Geräts von Feuerwehr und Technischem Hilfswerk, und dies für interessierte Feiertagsbegehende quasi ebenso zum Anfassen wie die anwesenden Abgeordneten.

PaD 36 /2024 – Hier auch als PDF verfügbar: Pad 36 2024 Paukenschlag an diesem Tag

Ach, ich vergaß: Ort der Handlung ist Schwerin.  Schwerin ist nicht etwa ein gegendertes „Schwerer“, wie die Jüngeren spontan vermuten könnten, sondern eine Stadt, die zwar nicht in Vorpommern liegt, wohl aber in Mecklenburg, also quasi gleich nebenan. Zu sehen geben soll es neben den anfassbaren Abgeordneten und dem Gerät der Feuerwehr und des Technischen Hilfswerkes an zwei Abenden gemütsbewegend Erhellendes, nämlich eine Lichtschau mit dem Titel „Lichtshow“. Zu hören gibt es auch etwas, nämlich eine Kapelle die sich „Band Juli“ nennt.

Es gibt noch mehr, unter anderem eine Blaulichtmeile, eine Einheitsmeile, die Verfassungsorgane, alles irgendwie auf 1,5 Kilometern begehbar eingerichtet, damit der Tag auch gut begangen werden kann.

Ich bin hinlänglich sicher, dass irgendwann, an diesem unseren Donnerstag in diesem unserem Schwerin auch ein Festakt stattfinden wird, so mit Bundespräsident, Ehrengästen und dem großen symphonischen Blasorchester der Bundeswehr, doch im vom NDR veröffentlichten Programm konnte ich diesen Event nicht finden. Womöglich unterliegt dieses Herzstück der Feierlichkeiten wegen erhöhter Terrorgefahr der Geheimhaltung, so dass womöglich selbst die Teilhabenden und Teilnehmenden noch gar nicht informiert werden konnten.

Andererseits tut man natürlich auch gut daran, solche Festakte nicht ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, weil weite Teile der Öffentlichkeit einfach noch nicht reif sind für die verständige Adaption  eines – igitt! – National-Feiertages. Deshalb ist dies aus gutem Grund – wie auch bei guten Büchern üblich – nur der Untertitel (deutscher Nationalfeiertag), während der Verkaufstitel als „Tag der deutschen Einheit“ sperrig genug daherkommt, um keine nationalen Lustgefühle zu erwecken.

Der gemeine Deutsche, wie auch die gemeine Deutsche, erwarten sich nichts von diesem Tag. Gut. Da braucht man nicht zur Arbeit zu gehen, da kann man die liegengebliebene Hausarbeit verrichten. Aber sonst? Ja, wenn da die Eurofighter der Bundeswehr im Formationsflug über den Tierpark rauschen und die Landesfarben in den Himmel malen würden, während sich unten auf der Straße wildfremde Menschen überglücklich in die Arme fallen, da hätte das schon eine gewisse Anziehungskraft, da kämen leicht mehrere Hunderttausend alleine in Berlin zusammen. Aber das ist ja nicht.

Es reicht ja gerade noch für eine Lichtshow. Anderswo sind Nationalfeiertage Anlass genug, das größte vorstellbare Feuerwerk in den Himmel zu malen, was dort dann auch als berauschend schön wahrgenommen wird. In Deutschland stehen die Lärmschutzverordnung und die Feinstaubverordnung und die CO2-Abgabe auf Feuerwerkskörper solchen rauschhaft-vergänglichen Massenvergnügungen so mächtig im Wege, dass schon gar nicht mehr daran zu denken ist. Doch der unerschütterliche Glaube daran, dass die Welt unserem Vorbild schon noch nacheifern wird, macht glückselig genug.

Als ich Kind war, als die Großväter und Großonkel noch lebten, die schon 14/18 mit dabeiwaren und von 39 bis 45 gleich wieder, war die Ankündigung „wir machen heute einen deutschen Tag“,  die es glücklicherweise selten öfter als  einmal pro Jahr zu hören gab, mit der Gewissheit verbunden, spät nachts sturzbesoffene, sangesfreudige Männer in der Nähe der Haustüre einsammeln und möglichst unfallfrei ins  Bett bugsieren zu müssen. Beides, das Einsammeln und das Bugsieren verlief kaum einmal problemlos. Aber, und das  war das Wichtigste: Am nächsten Tag waren die alle wieder nüchtern.

Diese Besäufnis-Rituale waren – so reime ich mir das heute zusammen, womöglich verzweifelte Akte der Psychohygiene, des gemeinsamen Wegsaufens der quälenden Erinnerungen an zwei verlorene  Kriege, an verlorene Kameraden, an verlorenes Hab und Gut, an verlorene Lebenszeit und Lebensglück. Dies „einen deutschen Tag“ zu nennen, mag dann so etwas wie eine Beschwörungsformel gewesen sein, mit der Augenblicke des Triumphes, der Stärke, des Mutes neu belebt werden sollten, und vielleicht ist es ja für eben diese Augenblicke auch gelungen, nur wollten die Augenblicke, so schön sie auch waren, leider nicht verweilen. Mephisto und Faust. Es nimmt kein Ende.

Inzwischen sind alle tot, und die wenigen derer, die noch von 39 bis 45 ihren Krieg verloren haben, hoch in den 90ern heute, die saufen nicht mehr.

Die Lebenden sind allesamt friedensgewohnt, was auch bedeutet, dass ihnen die großen Emotionen des Überlebenswillens, die nur im Krieg entstehen können, frend geblieben sind. Was ist das schon für ein Spannungsbogen, der sich mit „Kreißsaal – Hörsaal – Plenarsaal“ verlustfrei auf den Punkt bringen lässt? Bitte jetzt nicht zu früh freuen.  Es gibt auch die Abfolge „Schule – Arbeit – Rente“, oder jene, die von der Kindheit über Ehe und Scheidung direkt ins Seniorenheim führt. Was wäre wohl die passende Überschrift, über diese Leben ohne andere Höhen und Tiefen als die allgemein verbreiteten, lebenstypischen Entwicklungs- und Reifeschritte? Passt vielleicht „egal“?

Warum sollen also  die Deutschen heute feiern? Was sollen sie heute feiern? Ist das nicht alles egal? Waren die meisten Deutschen denn nicht auch 1989 nur Zuschauer auf ihren gebührenfinanzierten Stammplätzen im wind- und wetterfesten Wohn-Theater? Ja – alle haben sinnleer „Wahnsinn!, Wahnsinn!“ gerufen. Jeder wollte ein Stückchen Beton aus der Mauer für das heimische Setzkästchen. Dann kam die Ernüchterung. Der Osten war ein Fass ohne Boden, und der Westen war nicht das Gelbe vom Ei, wie es im Westfernsehen angepriesen wurde.

So ist die so genannte Wiedervereinigung, die technisch als Beitritt der neuen Länder, samt ihrer Bewohner, realisiert wurde, nicht als das lange ersehnte Freudenfest ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Es hat sich, aus der Distanz betrachtet, eher so abgespielt, wie die Übernahme einer Aktiengesellschaft durch eine andere Aktiengesellschaft, mit anschließender Bereinigung doppelt angelegter Funktionen zur Nutzung der vorhandenen Synergie-Effekte. Für die Mitarbeiter – die nach der Fusion bleiben durften – hat sich einiges geändert, vor allem die alten Gewohnheiten sind einer neuen Unternehmenskultur zum Opfer gefallen, aber es gab nicht mehr Geld, es gab nicht mehr Urlaub, im Grunde nur hier und da einen neuen Chef, an dessen Macken  und Marotten man sich anpassen musste.

Es hat in manchen Lebensläufen ein bisschen geruckelt. Manche sind die Treppe nach oben gefallen, manche fanden sich mit Gehirnerschütterung im Keller wieder, für  die meisten blieb es, nachdem die Fernsehbilder wieder verschwunden waren, nur beim alten, gewohnten Trott. Ist es das, woran man einen Nationalfeiertag festmacht? Feierlich erinnern können sich doch nur jene, die als Architekten des Beitritts die Großtat ihres Lebens vollbracht haben, und wo auch die schon nicht mehr unter uns weilen, ist die Erinnerungskultur auf ihre Erben übergegangen, die mangels Gelegenheit nicht in der Lage sind, zu erwerben, was sie ererbt von ihren Vätern, und daher nur die Reden verlesen können, die für sie vorbereitet wurden.

Schwerin. Nichts gegen Schwerin. Nichts gegen Mecklenburg-Vorpommern. Aber das ist nicht der Ort für die zentrale Feier des Nationalfeiertages. Wenn ein Nationalfeiertag zelebriert werden muss, dann in der Hauptstadt – und dann im ganzen Land.

So sieht es aus, als würden wir unseren Nationalfeiertag schamhaft jedes Jahr in einem anderen Winkel des Landes vor der Öffentlichkeit verstecken, weil die Frage, was wir Deutschen da eigentlich zu feiern haben, nicht wirklich zu beantworten ist. Feiern heißt, Freude zu zeigen. Feiern an Gedenktagen heißt, Freude wieder lebendig werden zu lassen. Ja. Da gab es eine theoretische Freude im Westen. Es gab eine reale Freude im Osten. Es gab einen Rausch, einen Freudentaumel, der sich mit Rauschschwaden aus  Zweitakter-Abgasen für ein paar Tage, allenfalls für ein paar Wochen, in die westlichen Grenzgebiete ausbreitete, aber mit dem Ende des Begrüßungsgeldes auch schnell wieder zu Ende gegangen war.

Die theoretische Freude im Westen wurde schnell von praktischen Problemen verdrängt, und die reale Freude im Osten wich bald der Sorge um die Zukunft, die für viele nicht mehr absehbar war.

Que sera, seraWhatever will be, will beThe future’s not ours to seeQue sera, seraWhat will be, will be

Es gibt auch in der Erinnerung an die Jahre nach dem Mauerfall bis heute nichts, was in den Deutschen erhebende nationale Gefühle auslösen könnte. Im Gegenteil: Von 1990 in die Gegenwart zieht sich eine Linie des sich allmählich beschleunigenden Niedergangs, und dies nicht nur wirtschaftlich, sondern auch mental. Das hat nichts mit der Wiedervereinigung zu tun, wirklich nicht. Die Wiedervereinigung fällt nur mit dem Zeitpunkt zusammen, ab dem erkennbar wurde, dass wir als Volk unseren Zenit überschritten und nicht mehr die Kraft haben, aus diesem quasi neu gegründeten Deutschland eine neue Qualität zu erschaffen, die weit mehr hätte sein können, als die Summe seiner Teile. Stattdessen wurde treuhänderisch abgewickelt.

Ich bin nicht unglücklich, dass der heutige Tag, für den der einst sommerlich-fröhlich begangene 17. Juni der Wessis aus dem Feiertagskalender weichen musste, weitgehend abgeschirmt vor der Weltöffentlichkeit  in diesem Jahr in Schwerin „veranstaltet“ wird. Es ist kein Nationalfeiertag, der sich auf ein Ereignis bezieht, dass sich tief im kollektiven Gedächtnis des Volkes eingegraben hat. Es ist ein Nationalfeiertag aus der gefühlten Pflicht heraus, als Staat, der auf sich hält, einen Nationalfeiertag haben zu müssen.

Herausgekommen ist das:

Eine „Einheitsfeier“ die sich „erstreckt“
und zwar mit vielfältigem Programm
auf eine ganze Bundeslandeshauptstadt.

Das stelle sich jemand in Frankreich vor.

Oder in Australien,
oder in Irland,

oder sonstwo auf der Welt …