Am 1. August dieses Jahres habe ich am Ende meines Paukenschlages zur Eskalation des israelisch-palästinensischen Krieges diese Sätze geschrieben:
Der Iran muss – schon zur Gesichtswahrung – einen Gegenschlag unternehmen.
Das Gefährliche daran ist:
Israel wird daraus möglicherweise die Rechtfertigung für einen massiven Präventivschlag gegen den Iran ableiten.
Was danach auch immer folgen sollte: Israels verkorkster Militäreinsatz im Gaza-Streifen wird dann kein Thema mehr sein.
Noch am Wochenende formulierte ich für die aktuelle Ausgabe von „EWK – Zur Lage“ diese Aussage:
Der Ausgang dieser Auseinandersetzung hängt davon ab, inwieweit Israel noch weiter auf Eskalation setzt und nun seinerseits den Iran angreift. Dies stellt für Israel ein schwer kalkulierbares Risiko dar, denn die Generalprobe eines massiven Angriffs mit Raketen und Marschflugkörpern auf Israel mit Überlastung der israelischen Luftabwehr hat kürzlich ja bereits erfolgreich stattgefunden.
Ein direkter Angriff auf den Iran dürfte einen Gegenschlag von noch größerer Dimension auslösen, der dann wirklich ernsthafte Schäden mit sich bringen dürfte. Von da an wäre es nur noch eine Frage der Munitions-Logistik. Der, dem zuerst die Raketen ausgehen, hat verloren. Es sei denn, er hat noch einen letzten, atomaren Trumpf im Ärmel.
Kurz vor Redaktionsschluss:
Der Bodenkrieg gegen den Libanon hat offenbar in der Nacht von Sonntag auf Montag begonnen und die Amis schicken Unterstützungstruppen. Hat der Bogen bisher auch noch gehalten, die Anzeichen von Überspannung mehren sich in bedrohlicher Weise.
Der Raketenangriff des Iran auf Ziele in ganz Israel war dann das Thema des gestrigen Abends.
Wie bei jedem Krieg unterschieden sich die Kommentare der Kontrahenten ganz erheblich.
Aus dem Iran war zu hören, es sei gelungen, den Iron Dome zu überwinden und dabei 20 Kampfflugzeuge der neuesten Generation vom US-Typ F35 (am Boden?), sowie eine größere Ansammlung israelischer Panzer im, bzw. an der Grenze zum Gaza-Streifen zu vernichten. Nicht genannt wurde diesmal das Mossad-Hauptquartier im Norden von Tel Aviv. Zudem wurde erklärt, dass man nicht beabsichtigt habe, Zivilisten zu treffen, und, dass ein israelischer Gegenschlag für diesen Vergeltungsschlag eine Erwiderung von noch größerem Umfang zur Folge habe.
Aus Israel war zu hören, die Raketen seien abgefangen worden. Es habe zwei Leichtverletzte gegeben, und im Westjordanland sei ein Palästinenser von herabfallenden Trümmerteilen erschlagen worden. Die Armee werde weiterhin alles Erforderliche tun, um die Bevölkerung zu schützen.
Heute morgen gab es keine neuen Meldungen aus Israel. Erst recht keine Bilder. Die Qualitätsmedien blieben einfach still. Nichts, was nicht gestern Abend schon berichtet worden wäre, und davon nicht gerade viel. Ein Sack Reis, der in China umgefallen war, hat da schon mal mehr Aufmerksamkeit gefunden. Dass der Vormarsch Israels im Libanon weitergeht, das wurde gemeldet.
Es gab gestern Abend einige wenige, kurze Videos im Netz, die ich mir aufmerksam angesehen habe. Das weitgehend gleichartige Szenario:
- Stockfinsterer Nachthimmel,
- sich ziemlich gleichförmig bewegende Cluster von Lichtpunkten,
- einige davon aufleuchtend und verschwindend,
- andere am entfernten Horizont, bzw. dahinter, einschlagend und rot-oranges Explosionsleuchten verursachend.
Ich kann weder beurteilen, ob es sich bei den Aufnahmen um aktuelle Aufnahmen handelte, noch ob sie überhaupt aus Israel stammten, und schon gar nicht, ob hier nicht die KI geholfen hat, einen Raketenangriff vorzutäuschen.
Unterstellt, diese Aufnahmen seien echt und authentisch, kann daraus nur der Schluss gezogen werden, dass die meisten Raketen von der Luftabwehr nicht eliminiert werden konnten.
Wer über Spionagesatelliten verfügt, kennt die tatsächliche Wirkung des iranischen Raketenangriffs. Alle anderen müssen sich mit Spekulationen abgeben, die – wie schon Flaubert in seinem „Wörterbuch der Gemeinplätze“ hätte festhalten können, „stets haltlos“ zu sein haben.
Da uns die Fakten nicht zugänglich sind und Spekulationen nicht weiterführen, wäre es nun an der Zeit, sich stattdessen über die moralischen Implikationen der jüngsten Ereignisse auszulassen.
Auch da sind die Qualitätsmedien nicht hilfreich.
- Die Süddeutsche fragt hinter der Bezahlschranke „warum Iran Israel angegriffen hat“ und antwortet scheinlogisch, dass der Iran nicht hinnehmen könne, „dass Israel gerade die Hisbollah überflügelt“.
- Der Tagesspiegel schließt sich dem an und behauptet erklären zu können, „was Teheran will und was nicht!“.
- BR24, ein Sender der ARD, verkündet nüchtern: „Iran greift Israel mit Raketen an – Vergeltung angekündigt“
- BILD lässt wissen: „Israel plant massiven Gegenschlag auf Iran“
Anders sieht es in deutschen Politikerkreisen aus. Da wird moralisch gewertet.
- Frau Baerbock erinnert an „Wir haben Iran vor dieser gefährlichen Eskalation eindringlich gewarnt“ und verurteilt die Raketenangriffe daher, und zwar mit mehr als lediglich der gebotenen Schärfe, sondern, unüberbietbar, auf das Allerschärfste.
- Auf den Punkt brachte es Michael Roth von der SPD, als er – offenbar in metaphysischer Wallung – auf X zum Besten gab: „Das Böse schlägt wieder zu.“
Lassen Sie es mich so formulieren:
Es breitet sich ein Hauch des Erschreckens aus und lähmt die alten, antrainierten Reflexe wohlfeiler moralischer Wertungen.
Das hat nichts mehr mit dem glorreichen 6-Tage-Krieg von 1967 zu tun.
Israel steckt in der Klemme, hat sich „in die Ecke gepinselt“, den Iran provoziert, der über unerwartete Fähigkeiten verfügt und muss sich nun entweder in Bezug auf Palästina mäßigen, um wieder in Frieden leben zu können, oder den Kampf gegen den Iran aufnehmen, der sich von Israels Atomwaffen nicht mehr abschrecken lässt, weshalb Israel sich gezwungen sehen könnte, sie einzusetzen.
Das traditionelle nahöstliche Spiel mit dem Feuer, das bisher immer wieder noch rechtzeitig gelöscht werden konnte, hat diesmal eine neue, vorher nie gekannte Dimension erreicht. Die Situation ist außer Kontrolle geraten – und es gibt keine Indizien dafür, dass die USA Israels Aktionen noch wirksam beeinflussen könnten.
Soll dieser Brand nicht die ganze Welt entzünden, muss dieser Stellvertreterkrieg den Stellvertretern jetzt alleine überlassen und das Ergebnis akzeptiert werden.
Ich fürchte nur, dass es anders kommt.