Lehrermangel? Daran kann es eigentlich gar nicht liegen.

Als ich 1955 eingeschult wurde, saß ich zusammen mit 37 anderen Knaben in einer Klasse. Die Lernleistung entsprach in etwa der Gauß’schen Normalverteilung: 2 bis 3 Spitzenschüler, 9 bis 10 gut, ungefähr ein Dutzend  befriedigend, 9 bis 10 schwach, 2 bis 3 Sitzenbleiber – und das wiederholte sich von Klassenstufe zu Klassenstufe.

Diese Leistungsverteilung war spätestens ab der dritten Klasse auch für jeden Schüler klar zu erkennen. Es war aber auch klar zu erkennen, dass schwache Leistungen nur in ganz geringem Umfang mit Faulheit zu tun hatten, so wie starke Leistungen nur in ganz geringem Umfang mit höchster Anstrengung zu tun hatten. Den einen ist es, wie es damals hieß: „einfach zugeflogen“, die anderen waren trotz allen Bemühens, wie es damals hieß: „einfach zu dumm“.

Unsere Eltern, die meisten Mütter zwischen 20 und 30 Jahren alt, hatten allesamt den Krieg erlebt und das Schulsystem des Dritten Reichs durchlaufen. Sie waren also sowohl als Problemlöser in lebensgefährlichen Situationen bewährt als auch an äußerste Disziplin gewöhnt. Das haben sie uns mitgegeben. Die Schüler verhielten sich während des Unterrichts still, diszipliniert und folgten dem Unterricht ganz überwiegend aufmerksam und konzentriert – und wenn es zuhause bei den Hausaufgaben einfach nicht klappen wollte, dann waren es nicht am nächsten Morgen die Lehrer, sondern es waren am Abend die Eltern, die unbarmherzig die Wiederholung forderten und dies nicht selten mit dem wohlgemeinten Rat begleiteten: „Da muss du jetzt die Zähne zusammenbeißen, auch wenn es noch so schwer wird. Irgendwann hast du es dann kapiert.“

Wenn ich also heute lese, dass an  der Gräfenauschule in Ludwigshafen-Hemsdorf 40 Erstklässler – das entspricht heute zwei ganzen Klassen – wahrscheinlich die erste Klasse wiederholen müssen, dann stellen sich mir die Nackenhaare steil auf. Hier wird ganz offensichtlich versucht, Nägel mit dem Schraubenzieher einzuschlagen. Im Vergleich zu 1955 kann von Lehrermangel keine Rede sein. Doppelt so viele Lehrkräfte können sich intensiv um ihre halb so großen Klassen kümmern – und außerdem gibt es an dieser Schule noch zusätzlich Förderlehrer (8 Vollzeitstellen), die mit Sprachförderung und Lernförderung versuchen, das Niveau von unten her abzustützen.

Das hat „diesmal“ nicht funktioniert, heißt es in dem oben verlinkten Artikel.

Das kann auch gar nicht funktionieren, wenn dies die Ursachen sind: Die können noch nicht stillsitzen, die wissen nicht, wie man einen Bleistift hält, die können nicht mit einer Schere umgehen und sie sprechen halt dummerweise auch nicht deutsch.

441 von 450 Schülern der Gräfenauschule sind Migrantenkinder.

Für deren Integration müsse alles getan werden, koste es, was es wolle, wird im verlinkten Artikel gefordert. Ich zitiere:

  • Generell müssen wir feststellen, dass mehr Menschen zu uns kommen, die eine stärkere Unterstützung brauchen, um zu verstehen, wie wichtig unser Bildungssystem ist.
  • Die Grundschulen allein schaffen das personell nicht mehr.
  • Der GEW-Vorsitzende unterstützt deshalb die Forderung der Schulleiterin in Ludwigshafen, Grundschulklassen künftig mit zwei Lehrkräften zu besetzen. Oder auch mit einer zweiten Fachkraft, die als Dolmetscherin beim Deutschlernen unterstützen könne.
  • Auch die Kitas müssten stärker unterstützt werden, „damit wir es schaffen, diese Kinder mitzunehmen und sie in der Lage sind, in der Schule mitzukommen“.
  • Zudem ist ein Quartiersmangement ganz wichtig, mit Fachkräften, die auf die Familien zugehen und ihnen klarmachen, wie wichtig es sei, dass die Kinder die Schule regelmäßig besuchen.
  • Schließlich brauche es genug Sozialarbeiter in den betroffenen Stadtvierteln und Schulen.
  • Wenn das Land es nicht schafft, die betroffenen Kinder in den Grundschulen zu integrieren, wird ihnen das ein Leben lang Probleme bereiten, etwa auch einen guten Beruf zu finden.

UND: Deshalb sei es wichtig, frühzeitig gute Konzepte vor Ort mit allen Beteiligten zu entwickeln. Da dürfe man keine Spargedanken im Kopf haben, sondern da muss wirklich Geld fließen, damit die Schulen ihre Arbeit machen können.

Was für ein dummes Gedöns!

Wenn allein an einer Grundschule 40 Erstklässer in den sprichwörtlichen Brunnen fallen, dann hat man es versäumt, frühzeitig die guten Konzepte zu entwickeln.

Stattdessen ist man auf der realitätsfremden Idee der Integration durch Inklusion so lange herumgeritten, bis auch der dümmste Lehrervertreter und abgehobenste Kultusministeriale erkannt haben sollte, dass es so nicht funktionieren kann. Aber soweit sind sie noch nicht. Jetzt heißt das neue Credo: „Nachdem ein Schraubenzieher anscheinend nicht ausreicht, um den Nagel einzuschlagen, müssen wir eben einen zweiten zur Verfügung stellen und eventuell sogar noch einen dritten. Dann wird das schon. Geld darf dabei keine Rolle spielen!“

1955 Eingeschulte, die sich nach acht Jahren Beschulung kaum mehr Wissen und Fähigkeiten angeeignet hatten als sie als Erstklässler in die Schule mitgebracht haben, denen konnte man danach als Hilfsarbeiter auf dem Bau, als Straßenkehrer oder als Faktotum in den Fabriken wieder begegnen, die einen mit braungebranntem nacktem Oberkörper mit Schaufel und Pickel ausgestattet, die anderen im schmuddeligen Kittel mit dem breiten Besen und der Kehrschaufel, Letztere, meist ein Wägelchen vor sich her schiebend, in den Gängen und Fluren, irgendwelche Besorgungen und Botengänge erledigend. Aufstiegschancen: Null!

Das wussten unsere Eltern und haben uns, die wir es noch nicht wissen konnten, an diesen Beispielen vor Augen geführt, wo es hinführt, wenn man sich beim Lernen nicht anstrengt – und wenn es in den immer noch kriegsleeren Straßen einmal einen schönen Pkw zu bewundern gab, dann hieß es, dass man lernen muss, damit man eine gut bezahlte Arbeit bekommt, wenn man sich so ein Auto leisten will.

Seither ist viel Zeit vergangen. Ein „Wirtschaftswunder“ hat sich ereignet. Vollbeschäftigung und Soziale Marktwirtschaft. Deutschland wurde nach dem Krieg schnell wieder ein reiches Land –  doch seit etwa drei Jahrzehnten zehren wir in zunehmendem Maße von der Substanz (Straßen, Brücken, Schienen, Schulen, Bundeswehr, usw.) während zugleich die internationalen Bildungsvergleiche ein Abrutschen des schulischen Bildungsniveaus in Deutschland aufzeigen, die schrecklichen Berichte aus den so genannten Brennpunktschulen nicht mehr unter der Decke gehalten werden können und die Wirtschaft in inzwischen fast allen Branchen einen erheblichen Fachkräftemangel beklagt.

Gestatten Sie, dass ich mich – obwohl noch viele weitere Aspekte zu beleuchten wären – in diesem Beitrag einzig auf den Fachkräftemangel konzentriere.

Es gibt da drei Ursachenbündel, die alle in die gleiche Richtung wirken.

  • Erstens der Renteneintritt der so genannten Baby-Boomer, die mit dem Basiswissen aus der Schule und den in der Ausbildung erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten noch das Rüstzeug hatten, sich zu Fachkräften, Spezialisten und Experten zu entwickeln.
  • Zweitens die Republikflucht jüngerer Fachkräfte, die es trotz schwierigerer Bedingungen geschafft haben, sich Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen, die im Ausland gefragt sind, dort aber deutlich besser bezahlt und deutlich geringer besteuert werden als in Deutschland.
  • Drittens die Schulabgänger, die in viel zu großem Umfang nicht mehr die Eingangsvoraussetzung für eine anspruchsvolle Berufsausbildung oder ein Studium mitbringen.

Am Renteneintritt der Babyboomer lässt sich kaum etwas ändern. Den Brain-drain zu bremsen wäre theoretisch möglich, doch die Bedingungen in Deutschland so zu ändern, dass sich die Richtung umdreht und Fachkräfte nicht nur  zurückkommen, sondern auch hochqualifizierte Ausländer sich nach Deutschland aufmachen, kommt einer Herkulesaufgabe gleich, die unter den herrschenden politischen Verhältnissen unmöglich zu bewältigen erscheint.

Die beste Chance, den Fachkräftemangel zu beheben, liegt in den Schulen, Universitäten und Ausbildungsbetrieben.

Die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich die benötigten Fachkräfte heranzubilden, ändert sich allerdings je nach dem Förderungsansatz. Wer die Förderung der Schwächsten priorisiert, dem kann es mit hohem Aufwand (drei Schraubenzieher) gelingen, statt einem potentiellen Dauer-Transferleistungsempfänger einen Paketboten oder einen Betonstahlbinder in die Berufswelt zu entlassen. Wer den gleichen Aufwand in die Guten und sehr Guten investiert, wird  die Fakultäten (nicht nur) der MINT-Fächer füllen und jene Experten und Spezialisten heranziehen, deren Fehlen beim Fachkräftemangel bisher die schmerzhaftesten Lücken hervorruft. Auch die Förderung derjenigen, die im oberen Mittelfeld – befriedigend – abschneiden, ist wichtig, denn hier warten die künftigen Meister und Gesellen im Handwerk, die qualifizierten Bediener von CNC-Maschinen, die Verwaltungsfachkräfte des mittleren und gehobenen Dienstes darauf, auf ihren Job vorbereitet zu werden.

Mit Klassengemeinschaften, in denen der Anteil der Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten, mit unzureichenden Sprachkenntnissen oder gravierenden körperlichen und geistigen Behinderungen über zehn Prozent liegt, sind die anspruchsvollen Lernziele, die wieder gesetzt werden müssen, um tatsächlich Fachkräfte in der erforderlichen Zahl heranzubilden, kaum zu erreichen.

Von daher plädiere ich dafür, einen allgemeinen, verpflichtenden, mehrstündigen Einschulungstest einzuführen, der, wo es möglich ist in Gruppen, wo es erforderlich ist im Einzeltest, von erfahrenen Pädagogen durchgeführt wird, um die Schulreife im Allgemeinen (Konzentrationsfähigkeit, Belastbarkeit, Auffassungsgabe, Interesse), die feinmotorischen Fähigkeiten (Zeichnen nach einfachen Vorlagen, einfache Bastelarbeiten, einfache sportliche Übungen) und die Beherrschung der altersgemäßen Sprachkenntnis und -fertigkeit (Wortschatz, Textverständnis, Grammatik, Artikulation) feststellt. Wer diesen Test besteht, also alle geforderten Kriterien erfüllt, wird eingeschult. Dies garantiert die notwendige Homogenität der Klasse, die ein gemeinsames, etwa gleich schnelles Auffassen des Stoffes ebenso möglich macht, wie die erfolgreiche Durchführung des  Unterricht von 20, 25 oder 30 Schülern in einer Klasse durch nur eine Lehrkraft.

Am Ende eines jeden Schuljahres entscheiden dann die erreichten Leistungen über das Vorrücken bzw. den Übergang an weiterführende Schulen.

Wer den Einschulungstest nicht besteht, wird ebenfalls eingeschult, jedoch in spezielle Förderklassen, die gezielt darauf hinarbeiten, den Kindern jenes Wissen und jene Fähigkeiten zu vermitteln, die zum Einstieg in der erste Klasse der Grundschule erforderlich sind. Jedes Schuljahr schließt mit einem erneuten Einschulungstest ab. Wird dieser bestanden, wird das Kind regulär eingeschult. Wird er nicht bestanden, bleibt das Kind ein weiteres Jahr in der Förderklasse. Kinder, die auch nach zwei Jahren spezieller Förderung den Einschulungstest nicht bestehen, wechseln an für sie geeignete sonder-  oder heilpädagogische Schulen.

Das große, empörte Aufheulen über den unmenschlichen Umgang mit den armen, armen Kindern, denen das ganze Leben schon mit dem Einschulungstest verbaut wird, höre ich schon, während ich diesen Vorschlag noch niederschreibe. Wie überall, wo nichts als eine hochgezüchtete Gesinnungsethik vorzufinden ist, sollte sich davon niemand beeindrucken lassen. Die Spur der Verwüstung, die von der reinen „Gutmenschlichkeit“ durchs Land  gezogen wird, ist längst breit genug, um nicht mehr übersehen werden zu können. Wahre Verantwortung verlangt es, die unausgegorenen Irrwege zu verlassen. Hier liegt die Entscheidung zwischen Gleichberechtigung mit Eigenverantwortung und Gleichstellung mit umfassender staatlicher Bevormundung.

Glückliche Schüler sind nicht diejenigen, denen man die Mühe des Lernens abnimmt und ihnen gute Noten ohne entsprechende Leistung quasi schenkt, wie es in Deutschland üblich zu werden scheint, sondern jene, die beim Lernen echte Erfolgserlebnisse haben, weil sich ihre Motivation, das nächste und übernächste Lernziel auch noch zu schaffen, aus einer permanenten, geringfügigen Überforderung und ehrlicher, anspornender Beurteilung speist. Das gilt übrigens nicht nur für Schüler, sondern für alle Berufstätigen, gleichgültig ob Angestellte, Selbständige oder Chefs.

Wegen der Bereitstellung stets neuer Herausforderungen sollte – im Sinne der Begabtenförderung – auch das Überspringen von Klassen möglich sein und die Hochbegabtenförderung an speziellen Schulen ausgebaut werden.