EWK außer Gefecht (Tag 6)

Introduction
Sich in ärztliche Obhut zu begeben, bedeutet oft auch, sich aus der häuslichen Umgebung zu entfernen.

Weil das in meinem Fall planbar war, konnte ich vorarbeiten und für Sie eine Reihe von Beiträgen reaktivieren, die ich vor 22 Jahren – im August und September 2002 – erstmals veröffentlicht habe.

Bin gespannt, ob Sie sich noch an die damaligen Ereignisse und die mit den Ereignissen verbundenen Namen erinnern  können.

Aus technischen Gründen kann ich leider nur diesen ersten Beitrag per Newsletter ankündigen. Schauen Sie also morgen einfach wieder hier vorbei.

Nach der Wahl:
Politik im Labyrinth


Der deutsche Sonderweg, ein Ausweg?

Essay von Egon W. Kreutzer
27. September 2002

Große Herausforderungen!

So tönt es feierlich-staatsmännisch aus den Reihen der Regierung und die gleichen Worte, angereichert mit dem Charme vorauseilender Schadenfreude, verwendet die Opposition, wenn sie offenbart, wie unlösbar die Aufgaben sind, zumindest für den wiedergewählten Kanzler und sein Team.

Das klingt irgendwie so, wie immer nach der Wahl, doch die sich steigernden Mißtöne lassen diesmal Schlimmeres befürchten. Die Republik, eingebettet in ein Europa, das für eine gemeinsame eigenständige Politik – nach Innen wie nach Außen – bisher weder Maß noch Ziel, weder Form noch Inhalt gültig gefunden hat, ist in einem bedauernswerten Zustand, der sehr wohl an den gefesselten Gulliver des Jonathan Swift erinnert. Zwischen Kommissionsmacht und parlamentarischer Ohnmacht greift Brüssel – ohne letzte demokratische Legitimation – immer öfter und immer tiefer in Recht und Gesetz der Mitgliedsstaaten ein und fällt auch immer wieder einmal den Vertretern nationaler Exekutiven in den Arm.

Es sind nicht nur die im Inland umzusetzenden EU-Richtlinien, nicht nur die Eingriffe von Wettbewerbskommissaren in unsere Vorstellungen von national sinnvoller Wirtschaftspolitik, es ist nicht nur die hausgemachte Urteilsflut, mit der der Europäische Gerichtshof und das Bundesverfassungsgericht in der letzten Legislaturperiode endlich begonnen haben, die Fehler und Sünden aus 16 Jahren Kohl -kostentreibend- zu würdigen, es stehen weitere Menetekel an der Wand, die uns vor wenigen Jahren noch als erstrebenswerte Segnungen und Siege, als Erfolge von Kontinuität und Verläßlichkeit, als sicheres Fundament für eine weitgehend sorgenfreie Zukunft angepriesen wurden.

Großes Unheil droht vom Euro,

jener von den zögerlichen Deutschen nach einer aufwendigen Werbekampagne in preußischer Pflichterfüllung angenommenen Währung, deren Wertschätzung als „Teuro“ inzwischen zeigt, daß die vollmundige Werbung für Telekom-Aktien und die ebenso vollmundige Werbung für den Euro von der Bevölkerung in bitterer Enttäuschung ebenso gleichgesetzt werden, wie die jeweils beworbenen Produkte.

Fakt ist, daß wir nicht nur die DM gegen den Euro eingetauscht haben – Fakt ist, daß wir die Währungshoheit für unser Staatsgebiet aufgegeben haben, ohne dafür auch nur den Hauch einer Gegenleistung erhalten zu haben; es sei denn, die Gerüchte, die immer wieder gestreut wurden, daß nämlich die Aufgabe der DM Voraussetzung für die Zustimmung Englands und Frankreichs zur deutschen Wiedervereinigung gewesen sei, stellten sich am Ende doch als die traurige geschichtliche Wahrheit heraus. Als eine Wahrheit, die hinter dem voreiligen Geschwafel von blühenden Landschaften, hinter Treuhandmanipulationen und Solidaritätsabgaben vor dem Volk beiderseits der Mauer verborgen wurde, bis die Fakten geschaffen waren, die Hans Eichel in diesen Tagen in die Knie zwingen.

Wer in seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik auf das Wohlwollen einer Europäischen Zentralbank angewiesen ist, deren Satzung zwar der Satzung der ehemaligen Deutschen Bundesbank ähnelt, die sich aber ganz wesentlich dadurch unterscheidet, daß es eben nicht Aufgabe der EZB ist, die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands zu fördern und die Wirtschaftspolitik der deutschen Regierung zu unterstützen, der ist wie ein narkotisierter Patient auf dem OP-Tisch davon abhängig, daß ein freundlich gesinnter Assistenzarzt sich rechtzeitig darum kümmert, Blutverluste durch die Gabe von Blutkonserven auszugleichen.

In den Adern des Wirtschaftskreislaufes kreist das Geld. Doch der Wirtschaftskreislauf unserer Volkswirtschaft ist gestört. Es herrscht Blutarmut, Geldmangel.

Wir sehen riesige Berge sinnvoller Aufgaben vor uns. In Schulen von maroder Bausubstanz fehlen Lehrer und Lehrmittel gleichermaßen, Krankenhäuser müssen wegen Geldmangel geschlossen werden, Rentner und Sozialhilfeempfänger führen ein Leben am Rande des Existenzminimums, Theater und Museen werden ebenso geschlossen, wie Freibäder und Jugendtreffs. Die Ausrüstung der Bundeswehr ist veraltet, weite Teile des Großgeräts werden zugunsten weniger noch einsatzfähiger Exemplare als Ersatzteillager verwendet und ausgeschlachtet, die Bahn legt eine Strecke nach der anderen still und das Sparen nimmt kein Ende, weil nirgends mehr das Geld ankommt, das der Wirtschaftskreislauf bräuchte, um wieder zufriedenstellend zu funktionieren.

Gleichzeitig stehen vier Millionen Menschen vor den Toren der Arbeitsämter und weitere 1,5 bis 3 Millionen – je nach Schätzung – suchen eine Arbeit, ohne dafür die Unterstützung Gersters zu beanspruchen.

Die potentielle Leistungsfähigkeit der Arbeitslosen läßt sich – ganz, ganz niedrig geschätzt – mit einem Betrag von etwa 100 Milliarden Euro pro Jahr beziffern. Damit könnte vieles von dem, was fehlt, geschaffen, vieles von dem was kaputt ist, repariert werden, hätte nur irgend jemand den Mut, dieser volkswirtschaftlichen Leistungsreserve die für ihre Aktivierung erforderlichen Geldmittel zur Verfügung zu stellen. Zwangs-Leiharbeit im Niedriglohnsektor ist allerdings der falsche Weg.

Wenn das Geld heute in weiten Teilen nicht im Kreislauf der realen Wirtschaft pulsiert, sondern stattdessen in spekulative Engangements abgetaucht ist, dem Wirtschaftskreislauf also fehlt, ihm vorenthalten wird, dann ist es die Pflicht einer verantwortungsbewußten Geldpolitik, zusätzliches, frisches Geld bereitzustellen – genauso wie es im umgekehrten Fall die Pflicht ist, überschießende Geldmengen vom Markt zu nehmen. Ob dabei der weitergehende Gedanke, frisches Geld als „verlorenen Zuschuß“ für „positive, förderungswürdige Projekte“ in den Markt zu geben, verfolgt wird, anstatt in der konservativen Mimik: „Geld gibt es nur als Kredit gegen Zinsen“ zu verharren, sei dabei zunächst einmal dahingestellt.

Eine deutsche Bundesbank, ohne die Fesseln der Maastricht-Kriterien, könnte uns heute leichter helfen, den Geldmangel zu beheben, als das eine ferne Brüsseler Behörde vermag, die es möglicherweise gar nicht will.

Nach allem, was sich an finsteren Schatten über der Zukunft abzeichnet, werden wir, um überhaupt noch Geld zu haben, weitere Ausgaben kürzen müssen. Schließlich muß nach geltenden Vereinbarungen derjenige Mitgliedstaat, der die Schuldenkriterien verfehlt, kräftige Geldstrafen bezahlen, was die Misere noch einmal verschärft.

Weitere Ausgabenkürzungen führen aber unweigerlich zu einem weiteren Schrumpfen des volkswirtschaftlich sinnvollen Leistungsprozesses, denn selbst wenn sich durch Ausgabenkürzungen gleichzeitig die von den Unternehmern geforderten Kosteneinsparungen realisieren ließen, würden diese ja nicht den besseren Absatzchancen im Inland dienen, sondern (fast) ausschließlich der Wettbewerbsfähigkeit auf globalen Märkten. Wir stehen längst im Wettbewerb des Lohndumpings mit Vietnam und Südkorea, um auf dem Weltmarkt Produkte und Leistungen anbieten zu können, die ohne Rücksicht auf die produzierende Volkswirtschaft nur erzeugt werden, um den Gewinn derjenigen Unternehmen zu steigern, die sich als Global Player rühmen, aus ihren Gewinnen, die sich in deutschen Bilanzen wundersamerweise als Verluste niederschlagen, keinen Cent an den deutschen Fiskus abzuführen.

Es ist eine wichtige und richtige Aufgabe, die sich Hans Eichel gestellt hat, die Staatsverschuldung abzubauen. Doch wenn eine reiche Volkswirtschaft, so wie die Bundesrepublik Deutschland, hilflos vor einer Insolvenzwelle nie gekannten Ausmaßes steht, weil die Geldversorgung massiv gestört ist, dann können nicht auch noch die letzten frei beweglichen Euros aus den konsumptiven und investiven Posten der Haushalte herausgestrichen werden.

Euro und fehlende geldpolitische Souveränität werden die Regierung in den nächsten vier Jahren zu einigen innovativen Schachzügen zwingen, die bis zur Androhung der Aufkündigung der uns strangulierenden Währungsunion führen könnten.

Noch aussichtsloser ist allerdings die Lage an der Friedensfront.

Die USA, repräsentiert durch George W. Bush, haben offiziell und unmißverständlich eine neue Doktrin ihrer Außenbeziehungen verkündet, die sich verkürzt auf den Nenner bringen läßt: „Wer nicht für uns ist und dies nicht immer neu durch Taten beweist, ist gegen uns und wird von uns dann sehr schnell im „Nation-Ranking“ zum Schurkenstaat herabgestuft, gegen den wir uns jederzeit einen Präventivkrieg vorbehalten. Nie wieder sollen die USA in eine Situtation gelangen, in der sie angreif- und verwundbar werden. Die jetzige Vormachtstellung soll mit allen Mitteln, auch präventiv, gegen alle und jeden verteidigt werden.“

Diese Haltung macht Jahrhunderte völkerrechtlicher Entwicklung zunichte und wirft uns in der Konsequenz global auf das alleinige Recht des Stärkeren zurück, mit allen schlimmen Ableitungen, die von daher zu treffen sind.

Daß wir Deutschen damit nichts zu tun hätten, weit davon entfernt seien, als „Schurken“ eingestuft zu werden, kann seit Mitte September nicht mehr ohne Einschränkungen angenommen werden. George W. Bush will uns dazu zwingen, seinem geplanten Angriffskrieg auf den Irak zuzustimmen. Daß dies nicht im ersten Anlauf gelungen ist, führt ohne jeden Umschweif dazu, daß aus US-amerikanischen Regierungskreisen von einer „vergifteten Stimmung“ gesprochen wird, daß einfachste Formen diplomatischer Höflichkeit vergessen, ja bewußt demütigend durchbrochen werden. Ein US Botschafter, der im Gastland die dortige Regierung öffentlich hart kritisiert, ein Präsident und ein Außenminister, die dem neugewählten Kanzler ostentativ nicht zur Wiederwahl gratulieren, das sind Verhaltensweisen, die sehr gewöhnungsbedürftig und eher dazu angetan sind, Gräben aufzureißen, als Freundschaften zu vertiefen.

Wenn Herta Däubler Gmelin, im Hinterzimmer einer Gastwirtschaft vor gerade einmal dreißig mäßig bekannten Gewerkschaftlern im Nebensatz und ohne böse Absicht einen Vergleich gezogen haben sollte, dann kann und darf der amerikanische Koloß dadurch nicht ins Wanken geraten. Tut er es trotzdem, dann darf vermutet werden, daß der Anlaß willkommen war. Warum auch immer.

Auch in dieser Frage stehen wir nun – wie mit dem Euro – gefesselt da, in einer EU, in der Tony Blair (der allerdings ohne Euro) die uneingeschränkte Solidarität zur militärischen Führungsmacht eines inzwischen den Globus umspannenden „Westens“ erklärt hat und in der alle anderen Mitglieds-Staaten, bis auf die halsstarrigen Nein-Deutschen, sich irgenwie durchzuwuseln versuchen.

Europa schaut gebannt zur UN und hofft, dort möge eine Resolution geschmiedet werden, der man ohne Gesichtsverlust zustimmen kann, während Bush und Blair ihre Resolution bereits vorbereitet und eingebracht haben, welche die UN und den Weltsicherheitsrat, sollte sie so verabschiedet werden, als Parteigänger der Bush-Republikaner ausweisen würde, womit – frei nach Bush – die Relevanz der UN für die USA zu erkennen wäre. Andernfalls sei die UN eben ohne Relevanz für Amerika. Starker Tobak!

Was auch immer Kanzler Schröder zur Irak Frage in den verbleibenden Wochen bis zum Angriff auf Bagdad tun, sagen und entscheiden wird – es kann zunächst einmal nur falsch sein, was nicht schlimm ist, denn diese Aussicht macht den Entscheider wunderbar frei, die richtige Entscheidung – um ihrer selbst willen – zu treffen!

Denn Bush wird einmarschieren, wird Hussein und seine Doppelgänger unschädlich machen, wird die Erträge der Ölquellen für die Multis aus USA und Großbrittanien reklamieren und mit dem Ersatz verbrauchter Kriegswaffen und der wirschaftlichen Vorherrschaft in einem riesigen Wiederaufbau-Programm die eigene und die englische Wirtschaft zu neuen Wachstumshöhen führen. Der Krieg kann militärisch nicht verloren gehen und die Kriegsfolgen sind absehbar: Neue und weitere Kriege in der Region samt Wiederaufbau sind ein willkommener Treibsatz für die eigene Wirtschaft.

Wir werden daneben stehen und die Opposition wird unserem Land immer mehr rote Laternen anhängen, bis wir aussehen, wie das ganze verdammte Rotlichtviertel einer beliebigen europäischen Hafenstadt.

Außerdem werden alle zukünftigen Handelsbeziehungen zu den USA und zu allen Staaten, die sich stärker an die USA anlehnen werden, durch die Verweigerung der Waffenbrüderschaft beeinträchtigt, so daß ein weiterer Niedergang des deutschen Außenhandels zu gewärtigen ist.

Schlägt sich Schröder jedoch, mittels in letzter Minute vorgelegter Beweise für die drohende Gefahr, die von Saddam Hussein ausgeht, gerade noch rechtzeitig auf die Seite der kriegsführenden Allianz, hat nicht nur der Kanzler, sondern mit ihm auch die gesamte deutsche Politik, auf deren Durchhalten derzeit nicht zuletzt die demokratische Opposition in den USA selbst hofft, für viele Jahre jegliches Vertrauen – zu Hause und in der ganzen Welt – verspielt. So starken Ankündigungen kann kein Rückzug folgen, weder in heroischer Pose, noch klammheimlich.

So steht die deutsche Politik im Labyrinth. Schier aussichtslos scheint der Versuch, einen Ausweg zu finden, bevor die bereits losgetretene Problemlawine über uns hereinbricht. Es allen Recht zu machen, ist wohl nicht mehr möglich.

Was also spricht dagegen, nach einem deutschen Weg zu suchen? Nach einem Weg, der unter Achtung internationaler Vereinbarungen nicht nur unseren Interessen dient, sondern auch unserem Wertekanon zur Geltung verhilft?

Nicht alles, was nicht zu den im „weltpolitischen Augenblick“ vorherrschenden Meinungen anderer Nationen paßt, ist wirklich schon ein Sonder-Weg! Hätte das Auszählungschaos der letzten amerikanischen Präsidentenwahl das Pendel zuletzt zu Gunsten von Al Gore ausschlagen lassen, die ganze Welt würde uns Deutsche für verrückt erklären, wollten wir jetzt einen Angriffskrieg gegen den Irak erzwingen!

Auch die Entscheidung für den Euro und in der Folge die klaglose Unterwerfung unter einen, im Interesse der Volkswirtschaft nicht mehr haltbaren, Stabilitätspakt, mag einem Außenstehenden eher als Ausdruck von Verwirrung und Willenschwäche erscheinen, als als das Ergebnis sinnvoller Politik für die Menschen und ihren Staat.

Wenn uns ein deutscher Weg, meinetwegen auch ein Sonderweg, also helfen sollte, dem drohenden Schlamassel zu entgehen, dann wäre das weit mehr als nur ein Kanzlerweg, es wäre wohl der Königsweg!

Egon W. Kreutzer