Die Verfassung und ihre Schützer

Wir, die wir schon länger hier – und zwar in den alten Bundesländern – wohnen, befinden uns seit 1950 unter der Obhut eines Inlandsgeheimdienstes, der als „Bundesamt für Verfassungsschutz“ firmiert, aber mit dem Schutz der Verfassung im engeren Sinne kaum mehr zu tun hat als der Zitronenfalter mit dem Falten von Zitronen.

In den ersten Jahren, genauer gesagt bis 1955, entsprach der eigentliche Auftrag sogar ganz offiziell der von den Alliierten genehmigten „Einrichtung einer Stelle zur Sammlung und Verbreitung von Auskünften über umstürzlerische, gegen die Bundesregierung gerichtete Tätigkeiten“.

Als Teile eines föderalen Konstruktes unterhielten natürlich auch die Bundesländer der alten Bundesrepublik ihre eigenen Inlandsgeheimdienste und seit dem Beitritt der neuen Bundesländer haben wir neben dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Militärischen Abschirmdienst noch 16 weitere, den Ländern unterstellte Geheimdienste, die – teils als eigenständige Landesämter, teils als Abteilungen der Innenministerien – damit beschäftigt sind, Bestrebungen zu erkennen, die auf das hinauslaufen, was die jeweils amtierenden Regierungen als Bedrohung der freiheitlich demokratischen Grundordnung anzusehen belieben.

Es würde jetzt zu weit führen, auf die grundsätzlichen Probleme einzugehen, die bei der Inanspruchnahme von Geheimdiensten entstehen, von den speziellen, die auftreten, wenn in einer Demokratie die Regierungsparteien wechseln, ganz zu schweigen, doch sollte wenigstens einmal das Wörtchen „Loyalität“ erwähnt werden, das zumindest erahnen lässt, dass sie, die Loyalität, wo sie einmal entstanden ist, durch einen Regierungswechsel nicht unbedingt beschädigt werden muss.

Nein, spannender als die Probleme, die man sich mit Geheimdiensten einhandeln kann, ist der Nutzen, den eine Regierung und die sie tragenden Parteien aus den Erkenntnissen eines Geheimdienstes ziehen können, wenn die Loyalität des Pitbulls „Geheimdienst“ zu seinem Halter, dem Innenminister, erst einmal mit hinreichender Gewissheit gesichert zu sein scheint. (Ganz genau kann man es nie wissen …)

Noch besser allerdings, wenn der Pitbull sich einzig dem Regierungschef verpflichtet fühlt und der Innenminister nur als formal zwischengeschaltete Instanz fungiert. Was heißt, dass selbst der eigentliche Dienstherr – ohne es zu ahnen – zum Beobachtungsobjekt der aus seinem eigenen Etat bezahlten Schlapphüte wird.

Tomaten von der Größe, wie sie jemand auf den Augen haben müsste, um überzeugt zu sein, der Verfassungsschutz sei ein unabhängiges Organ des Staates, vielleicht so unabhängig, wie es die Bundesbank ihrem Auftrag nach einmal hätte gewesen sein sollen, wurden noch nicht einmal in den größten niederländischen Treibhäusern gesichtet.

Lassen wir also den frommen Schulbuch-Scheiß einfach beiseite und betrachten den Verfassungsschutz als das was er ist, nämlich als eines der Instrumente des Machterhaltes, dann dürfen wir durchaus konstatieren, dass die einstige Loyalität des Verfassungsschutzes, die seit dem Amtsantritt Helmut Kohls als Bundeskanzler dem konservativen Flügel der CDU galt, also dem, was heute als „harter Kern“ in der Werte-Union übrig geblieben ist, mit der Ernennung von Thomas Haldenwang zum Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz – vom Kopf her – umgepolt wurde.

Wem dessen Loyalität jetzt gilt, ist schwer zu beantworten.

Betrachtet man die Vita des Thomas Haldenwang, soweit sie bei Wikipedia offengelegt ist, galt sein vorwiegendes Interesse – nach dem Jura-Studium und dem Referendariat am OLG Düsseldorf – volle 19 Jahre lang dem Dienst- und Laufbahnrecht der Beamten. In der freien Wirtschaft hätten ihn solche Interessen womöglich in eine Stabsstelle des Arbeitgeberverbandes geführt, womöglich aber auch über emsige Betriebsratsarbeit bei einem Großkonzern zum Vorsitzenden einer der DGB-Gewerkschaften.

Als er 2009 seinen Dienst beim Bundesamt für Verfassungsschutz begann, war auch diese Verwendung „fernab“ der eigentlichen Tätigkeit dieses Vereins angesiedelt. Als Chef der Abteilung Z (Zentrale Dienste) durfte er sich um alles kümmern, was die Schlapphüte so brauchten, ich denke mir, dass dies von der Beschaffung von Dienstfahrzeugen bis zur Beauftragung eines Reinigungsdienstes reichte und von der Anmietung von Gebäuden bis zur Preisverhandlung mit Lieferanten von  Observations- und Kommunikationstechnik.

Ich spinne weiter, und das ist jetzt wirklich spekulativ: Weil irgendein hohes Tier (ob in Deutschland oder in den USA) noch Großes mit Thomas Haldenwang vorhatte, durfte er nach gut drei Jahren diesen Beamtensessel  verlassen und in das Büro des Vizepräsidenten des Verfassungsschutzes umziehen.

Wie viel der frisch installierte Vizepräsident von der operativen Arbeit des Dienstes in den folgenden fünf Jahren mitbekommen hat, das weiß, außer dem damaligen Präsidenten, Hans-Georg Maaßen, wahrscheinlich niemand.

Die Umstände, unter denen Haldenwang im November 2018 die Nachfolge Maaßens antreten durfte, lassen darauf schließen, dass das „Band der Freundschaft“ zwischen beiden nicht allzu fest gewebt gewesen sein kann, was wiederum darauf hindeutet, dass der Vizepräsident durchaus vom einen oder anderen Vorgang vorsorglich ausgeschlossen worden war.

Wie gesagt, ich spekuliere hier im luftleeren Raum herum und muss jeglichen Beweis für meine Vermutungen schuldig bleiben, doch sagt mir meine persönliche Erfahrung aus einer Vielzahl vergleichbarer Situationen in Großunternehmen, die ich aus der Nähe miterleben konnte, in einigen Fällen auch als selbst Beteiligter, mal in dieser, mal in jener Rolle, dass es kaum anders gewesen sein kann. Die Naivität, sich immer und überall eine arglose und vertrauensvolle Zusammenarbeit der Verantwortlichen zum Nutz und Frommen der Allgemeinheit vorstellen zu wollen, trifft ab einer gewissen „Rang-, bzw. Fallhöhe“ voll ins Leere.

Um an den Anfang des Gedanken zurückzuspringen: Haldenwang ist Jurist mit einem Hang, sich beruflich mit Dingen zu beschäftigen, die zwar wichtig sind, aber neben den eigentlichen Aufgaben als – nun ja: zweitrangig – in den Hintergrund treten. Dienst- und Laufbahnrecht, sowie die Verwaltung Zentraler Dienste, haben mit den primären Aufgaben des deutschen Beamtenapparates, einschließlich der Aufgaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz nichts zu tun.

So vorbereitet dürfte es jedem schwerfallen, von sich aus Prioritäten zu setzen, wenn ihm plötzlich der Hut der Hüte aufgesetzt wird. Es ist die ganz normale Reaktion, auf einem neuen Sessel mit erweiterter Verantwortung sitzend, erst einmal vorzufühlen, was denn nun von einem erwartet wird.

Dazu gehörte im Falle Haldenwang selbstverständlich zunächst einmal, dass er a) seinem Vorgänger keine Träne nachweinte, und b) verinnerlichte, dass das, was Angela Merkel und Steffen Seibert gesagt und gesehen haben, als amtliche Wahrheit anzuerkennen sei, während c) anders lautende Informationen des Dienstes ggfs. so lange verifiziert werden müssten, bis das Interesse daran endgültig erloschen ist.

Die „Hetzjagden“ von Chemnitz, für die es bis heute keinen einzigen anderen Nachweis gibt, als ein im Grunde urkomisches Video (Hase, du bleibst da!), das von einer bis heute unaufgeklärten Person oder Gruppe „Antifa Zeckenbiss“ online gestellt wurde, lösten jedoch einen neuen Schub eines Kampfes gegen rechts aus, in dessen ersten Tagen auch die Reputation des damaligen Präsidenten des Verfassungsschutzes öffentlich zerstört werden musste, um das Narrativ von der Gefahr des Rechtsextremismus in Deutschland aufrecht erhalten zu können.

(Wie übrigens auch heute die Faktenchecker der ARD schon wieder genüsslich daran arbeiten, den Inhalt eines vorsorglich als „geheim“ eingestuften Berichts von Europol, die Terrorismusgefahr in Europa betreffend, so hinzudrehen, dass die deutsche Hauptkampflinie im Antiterrorkampf deshalb nicht verschoben werden muss.)

Haldenwang war inzwischen im Sinne seines Auftrags fleißig und konnte gestern der Presse verkünden, er habe in Höcke und Kalbitz eindeutig zwei Rechtsextremisten erkannt und werde daher den ganzen so genannten „Flügel“ der AfD unter Beobachtung stellen.

Ich meine, in dem kurzen Schnipsel, das die Tagesschau von seinem diesbezüglichen Statement sendete, statt der Betroffenheit über den Sumpf, in den sein Dienst da schauen musste, in seiner Mimik etwas ganz anderes, nämlich eine Spur von tiefer Genugtuung darüber zu erkennen, dass es ihm gelungen war, die beiden mit dem Extremismusvorwurf verbal zur Strecke zu bringen und seinen ersten großen Auftrag zur vollsten Zufriedenheit zu erfüllen.

Ob die Hoffnung aufgeht, dass diese Geheimdienstaktion kurz nach dem Wahldebakel der CDU in Thüringen dazu führen wird, dass jene 25 Prozent, die in Thüringen die AfD wählten, bei den für 2021 angesetzten Neuwahlen reumütig zur CDU zurückkehren werden, wird die Zeit zeigen.

Dass die Regierung einer westlichen Demokratie zur Bekämpfung des zu stark gewordenen politischen Gegners darauf setzt, die fehlende Zustimmung zur eigenen Politik durch den Einsatz des Inlandsgeheimdienstes gegen die Opposition zu kompensieren, erinnert an ganz andere Verhältnisse. So etwas musste einst von den staatsnahen Medien pseudodemokratischer Diktaturen so lange als gewaltiger Fortschritt auf dem Weg in die glorreiche Zukunft des Sozialismus gepriesen werden, bis es alle Untertanen bei jeder Gelegenheit fehlerfrei aufsagen konnten.

Das ist gottseidank vorüber. Das Volk der Dichter und Denker braucht solche dumpfe Propaganda nicht mehr.

Wie ein Mann marschieren Kirchen und Gewerkschaften, Sportfunktionäre und Leitartikler, die Abgeordneten aller demokratischen Fraktionen, Bürgermeister und Gemeinderäte, die Arbeiterwohlfahrt (trotz aller eigenen Skandale) und selbst der ADAC hinter Angela Merkel her, die nicht müde wird, uns auf den Weg zur Sonne, zur Freiheit, zurückzuführen, der so lange verschüttet war.

Wer gegen diesen Strom zu schwimmen wagt, wird überrollt und weggeschwemmt, wie auch Maaßen, der sich an der Sicherungsleine seiner Freunde ins Wasser wagte, weggeschwemmt worden ist, als die vermeintlichen Freunde ihn fallenließen.

Man tut auch heute noch gut daran, die Psychologie der Massen zu Rate zu ziehen, wenn man die Kraft dieses Stromes und die Basis der Macht der Beherrscher der Massen verstehen will. Ich kann von Gustave Le Bon hier nur einige wenige Sätze zitieren:

Die Einseitigkeit und Überschwänglichkeit der Gefühle der Massen bewahren sie vor Zweifel und Ungewissheit.

Wenn die Massen geschickt beeinflusst werden, können sie heldenhaft und opferwillig sein.

Zuweilen gibt es einen intelligenten und gebildeten Führer, das schadet ihm in der Regel mehr als es ihm nützt. Die Intelligenz, die die Verbundenheit aller Dinge erkennt, die Verstehen und Erklären ermöglicht, macht nachgiebig und vermindert die Kraft und Gewalt der Überzeugungen erheblich, die die Apostel nötig haben.  Die großen Führer aller Zeiten, die der Revolution hauptsächlich, waren sehr beschränkt und haben deshalb den größten Einfluss ausgeübt.

Franz Josef Strauß hat aus dem Problem seiner für einen Führer zu großen Intelligenz die Devise geschmiedet:

Man muss einfach reden, aber kompliziert denken – nicht umgekehrt.

Über allem aber thront, der Gewissheit, in postfaktischen Zeiten zu leben, zum Trotz, die normative Kraft des Faktischen. Schade, dass Gustave Le Bon diesen exemplarischen Satz nie gehört hat:

„Nu sind sie halt mal da“

Was hätte er daraus nicht alles ableiten können.