Der Kanzler der drei Ukraine-Kriegs-Prinzipien

Unser aller Bundeskanzler, nur zur Erinnerung: Olaf Scholz, hat im Hinblick auf den gestern begonnenen Gipfel des Europäischen Rates am Mittwoch im Bundestag eine Regierungserklärung abgegeben.

Das Bundespresseamt hat daraus im Newsletter „Bundesregierung aktuell“ vom 22. März 2024 folgende Nachricht gemacht:

„Am Mittwoch hat der Kanzler zum Europäischen Rat eine Regierungserklärung abgegeben. Er erläuterte seine drei Prinzipien der Ukraine-Politik: Wir unterstützen die Ukraine so lange es nötig ist. Die NATO darf nicht Kriegspartei werden. Und wir werden keinen Diktatfrieden zulasten der Ukraine akzeptieren.“

Das hat Bundeskanzler Scholz zwar schon öfters so gesagt, aber nun sind „Prinzipien“ daraus geworden, und das macht die Sache zu einer interessanten Denksportaufgabe:

Wie sehen die Prämissen aus, auf denen diese Prinzipien aufbauen?

Zur Lösung dieser Aufgabe ist es nützlich, sich die Bedeutung des Begriffs „Prinzip“ zu vergewissern. Wikipedia weiß dazu:

„Das Prinzip stellt eine gegebene Gesetzmäßigkeit dar, die anderen Gesetzmäßigkeiten übergeordnet ist . Im klassischen Sinne steht das Prinzip zwingend an oberster Stelle, im alltäglichen Sprachgebrauch wird dies aber weniger streng gehandhabt.“

Da es sich bei einer Regierungserklärung des Chefs der Exekutive gegenüber den Vertretern des Souveräns nicht um einen Text aus dem alltäglichen Sprachgebrauch handeln sollte, kann davon ausgegangen werden, dass wir es hier tatsächlich mit Prinzipien zu tun haben, die für den Kanzler in Bezug auf sein Handeln in der Ukraine-Frage die obersten Leitlinien darstellen – und eben nicht um eine der Verlautbarungen von Radio Eriwan, die grundsätzlich mit: „Im Prinzip ja, aber …“ zu beginnen pflegen.

(Kennen Sie nicht? Das geht so: Frage an Radio Eriwan – Ist es möglich, auch in einem hochindustrialisierten Land den Sozialismus einzuführen? – Im Prinzip ja, aber es wäre schade um die Industrie. Weitere Beispiele)

Das erste Prinzip

Wir unterstützen die Ukraine so lange es nötig ist.

Die wichtigste Prämisse für dieses Prinzip besteht darin, dass „wir“, und damit kann und darf er nur die Bundesrepublik Deutschland meinen, auch auf völlig unabsehbare Zeit die Ressourcen bereitstellen können, um  die Ukraine unterstützen zu können. Im Extremfall müssten für die Aufrechterhaltung der Unterstützung sogar die Renten gekürzt und die Mehrwertsteuer erhöht werden.

Zur Verdeutlichung:

Wenn der Palliativmediziner die Krankenschwester anweist: „Der Patient bekommt Morphium so lange es nötig ist“, dann ist die Zeitstrecke für den Entfall der Notwendigkeit klar überschaubar und das Kriterium eindeutig.

Kein Problem.

Wenn der Bundeskanzler anordnet: „Die Ukraine bekommt Geld, Waffen und Munition so lange es nötig ist“, liegen die Dinge allerdings anders. Ein Kriterium für den Entfall der Notwendigkeit ist ebensowenig erkennbar wie sich die Zeitdauer bis dahin abschätzen lässt.

Ein erhebliches Problem.

 

Die zweite Prämisse besteht darin, dass die Unterstützungsleistung aus keinem anderen Grund beendet werden kann, als dem Entfall der Notwendigkeit. Da sich an der Notwendigkeit nichts ändert, so lange der Krieg dauert, müsste die Unterstützung auch dann noch geleistet werden, wenn gesicherte Erkenntnisse vorlägen, dass es tatsächlich die Ukraine war, die Nord Stream 2 gesprengt hat, oder wenn Russland ultimativ  verkünden würde, entweder Deutschland hört mit dieser Unterstützung auf oder wir greifen Berlin mit Hyperschallwaffen an.

Ein erhebliches Problem.

Die dritte Prämisse, die sich für die Dauer der Unterstützung im Kontext der beiden weiteren Prinzipien des Bundeskanzlers aus dem „So-lange-es-nötig-Ist“ extrahieren lässt, lautet: Die Ukraine wird – militärisch auf sich allein gestellt – die Russische Föderation letztlich siegreich unterwerfen.

Ist doch klar?

Solange die Ukraine die Russische Föderation nicht besiegen kann, geht der Krieg mit deutscher Unterstützung weiter. Kommt es zu einem Waffenstillstand, ist deutsche Unterstützung nötig, damit der Krieg danach weitergehen kann. Käme es vor dem Sieg der Ukraine zu Friedensverhandlungen, wäre das Ergebnis, selbst im Kompromissfall, zwangsläufig ein Diktatfrieden, weil eben Russland in diesen Verhandlungen bestimmte Mindestforderungen anmelden würde, die – weil davon der Friedensvertrag abhängig gemacht wird – eben nur als russisches Diktat angesehen werden können.

 

Das zweite Prinzip

Die NATO darf nicht Kriegspartei werden.

So sprach der deutsche Bundeskanzler – und die NATO erstarrte vor Ehrfurcht.

Da gibt es überhaupt nur eine Prämisse, nämlich die, dass der POTUS das Pentagon anweist, seine Befehle künftig aus Berlin zu empfangen.
Das wird nicht einmal dann geschehen, wenn der nächste US-Präsident Donald Trump heißen sollte.

Im Übrigen hängt die Frage, ob die NATO Kriegspartei wird, weniger davon ab, ob die NATO beschließt, Russland den Krieg zu erklären, sondern davon, ob Russland auf  Provokationen eines einzigen NATO-Mitglieds, und sei es ein noch so unbedeutender Kleinstaat, mit militärischen Mitteln gegen diesen Staat reagiert. Das wäre die Stunde der Wahrheit und der Einforderung der Beistandspflicht, und es erscheint unvorstellbar, dass ausgerechnet Deutschland  dann den Polen, den Esten oder den Finnen, den Zyprioten oder der Türkei den Beistand versagen würde, den es bis dahin so uneigennützig dem Nichtmitglied Ukraine gewährt hat.

 

Das dritte Prinzip

Wir werden keinen Diktatfrieden zulasten der Ukraine akzeptieren.

Bei den Prämissen gibt es eine interessante Alternative:

  1. Deutschland sitzt mit am Verhandlungstisch und diktiert den Russen die Bedingungen für die Beendigung des Krieges, oder
  2. Sollte die Gefahr bestehen, dass es ohne deutsche Mitwirkung auf ein Friedensdiktat hinausläuft, dem sich die Ukraine zu beugen hätte, dann wird Deutschland stark genug sein,entweder selbst Truppen in die Ukraine zu entsenden, oder eben
  3. im Newsletter des Bundespresseamtes mit markigen Worten zu verkünden, dass Deutschland diesen Friedensvertrag nicht akzeptiert.

 

Nun zum zweiten Teil der Denksportaufgabe:

Was von alledem ist realistisch?

  1. Olaf Scholz ist der real existierende Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.
  2. Deutschlands Ressourcen sind begrenzt, realistisch ist daher: Unterstützung geht nur, so lange es möglich ist, wobei das Ende des Möglichen auch vor dem Ende des Nötigen eintreten kann.
  3. Die absolut bedingungslose Unterstützung, selbst bei aggressiv-schädlichem Verhalten gegenüber dem Geber, ist eine realistische Erwartung an das Verhalten der Bundesregierung.
  4. Der Sieg der Ukraine über Russland ist theoretisch möglich, praktisch erscheint dieser Ausgang derzeit eher unwahrscheinlich.
  5. Die Vorstellung, Deutschland könne die NATO, oder eine Koalition williger NATO-Staaten daran hindern, Kriegspartei zu werden, ist illusorisch. 
  6. Die Vorstellung, Deutschland könne Russland am Verhandlungstisch die Bedingungen für einen Friedensvertrag diktieren, ist illusorisch.
  7. Dass die Bundeswehr in den Krieg eintritt, um einen Diktatfrieden für die Ukraine abzuwenden, ist illusorisch.
  8. Dass Deutschland erklären wird, einen als Diktatfrieden aufgefassten Friedensvertrag nicht zu akzeptieren, ist realistisch, aber folgenlos.

Im Endeffekt bleibt die Erkenntnis übrig, dass Olaf Scholz sicherlich nach diesen Prinzipien handeln möchte, das will ich ihm gar nicht abstreiten, doch ob er es so weit kommen lässt, wie es Fred Endrikat in seinem Gedicht „Prinzipienreiter“ beschrieben hat, das sehe ich eher nicht kommen.

Der Prinzipienreiter

Ein altes Prinzip sagte zu seinem Reiter:
»Steig ab, o Herr. Ich kann nicht mehr weiter.
Verschone mich endlich. Es wäre mir lieb,
du suchtest dir ein neues, beßres Prinzip.«
Der Reiter aber meinte mit ernstem Gesicht:
»Schon aus reinem Prinzip geht so was nicht.
Ich reite dich weiter – ganz einerlei –
und sei es – bis in die Abdeckerei.
Meine Prinzipien sind prinzipiell
bis auf die Knochen – bis auf das Fell.«
So sprach der Reiter zu seinem Prinzip,
gab ihm die Sporen und auch einen Hieb.
Prinzip ist Prinzip – ganz unbestritten.
So werden Prinzipien zu Tode geritten.
Aber was ein richtiger Prinzipienreiter ist,
der wirft selbst ein totes Prinzip nicht auf den Mist.
O nein – er läßt es gerben und stopft es aus
und reitet es als Steckenpferdchen nach Haus.
Ja, wozu wären sonst die Prinzipien da?
O, Santa Konsequentia. –

Fred Endrikat