Was auch immer im Vorfeld des CDU-Parteitags kolportiert wurde, es drehte sich um die Frage, ob Friedrich Merz, wenn schon nicht die Herzen, so doch zumindest die Stimmen der 1001 Delegierten mehrheitlich auf sich vereinen können wird. Wüst und Günther werden als Merkelianer herausgehoben, die den Anschein erwecken, als wollten sie Merz verhindern. Gelegentlich ist auch von Markus Söder und dessen wechselnden Ambitionen berichtet.
Man kann zu dem Eindruck gelangen, der ganze Parteitag sei nichts anderes als eine Casting-Show, DSDS, Demokraten suchen den Superdemokraten, oder so.
Dabei haben sich die Delegierten heute eingefunden, um der CDU ein neues Grundsatzprogramm zu geben.
Bisher liegt ja nur der in rund zweijähriger Arbeit geschaffene Entwurf dafür vor, und obwohl zwei Jahre daran gearbeitet wurde, obwohl in Regionalkonferenzen diskutiert und eine zentrale Mitgliederbefragung durchgeführt wurde, soll die Zahl der Änderungsanträge schon wieder unüberschaubar groß sein. Doch die Parteitagsregie wird schon dafür sorgen, dass das Papier morgen mit kleinen Änderungen angenommen werden wird,.
Ich habe mich nicht intensiv mit den 72 Seiten beschäftigt, aber ich habe sie wenigstens einmal im Schnelldurchgang gelesen. Dabei musste ich mir immer wieder selbst vor Augen halten: „Es ist ein Grundsatzprogramm. Das soll ein paar Jahre halten. Da verbieten sich allzu konkrete Aussagen von selbst.“ Im Großen und Ganzen nichts weltbewegend Neues. Die Leitkultur als Integrationspflicht ist mir aufgefallen, und auch das trutzige Bekenntnis zur Atomkraft (wir können auf die Option nicht verzichten). Ansonsten viel „sowohl als auch“ und sehr viel Redundanz um die Begriffe Freiheit und Sicherheit.
Dabei hat sich mir der Vergleich mit der sogenannten Hydrokultur aufgedrängt. Sie kennen das: Pflanzen, die nicht in der Erde wurzeln, sondern in wannenartigen, wassergefüllten Gefäßen, in welchen ein Substrat poröser Kügelchen aus gebranntem Ton gerade genug Halt gibt, um die Pflanzen vor dem Umfallen zu bewahren. Das Ergebnis sind ausgesprochen pflegeleichte Zimmerpflanzen. Es genügt, wenn alle paar Wochen wieder mit Flüssigdünger versetztes Wasser nachgegossen wird, bis die Wanne voll ist. Der Entwurf des Grundsatzprogramms läuft auf die Beschreibung von Wanne und das Substrat hinaus. Ob die Flasche mit dem Flüssigdünger dann ein grünes oder rotes Etikett haben wird, bleibt ebenso offen, wie die Art der Pflanzen, die in der Freiheit der Wanne gedeihen sollen.
Diese Analogie hat sich bei mir gleich am Anfang des Dokuments eingenistet, wo es in den zusammenfassenden Sätzen heißt:
„Voraussetzung für Freiheit ist Sicherheit.“
So eine Zimmerpflanze entspricht ja eher der Henne in der Legebatterie, als einem Baumriesen im Regenwald oder einem Greifvogel, der sich von der Thermik in den Himmel tragen lässt. Klar, die wasserdichte Wanne und das darin befindliche Wasser schützt die Wurzeln vor Wühlmäusen, aber die Freiheit, neue Wurzeln zu bilden und sie quasi als Fühler auszustrecken, die bietet sie nicht. Auch die Freiheit der artgemäßen Vermehrung ist arg eingeschränkt, und selbst wenn die Zimmerpflanze im Innenraum, in den sie verfrachtet wird, vor Sturm und Hagel und Wildverbiss geschützt ist: Sollte sie frei in die Höhe und in die Breite wachsen wollen, dann kommt garantiert auch jemand mit der Schere und schneidet ab, was sich da in vermeintlicher Freiheit zu entwickeln versuchte. Ist das Freiheit?
Ein paar Seiten weiter hinten, im ausführlicheren Text, wird diese These nochmals aufgegriffen und so erläutert:
Freiheit und Sicherheit sind zwei Seiten derselben Medaille.
Sicherheit ist eine Vorrausetzung für Freiheit.
Kernaufgabe des demokratischen Rechtsstaates ist es,
ein Leben in Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten –
in der analogen wie in der digitalen Welt.
Wir wollen einen starken Staat,
der die Menschen in Deutschland schützt
und ihnen so viele Freiräume wie möglich lässt.
Sicherheit
– von der es gerade aus Politikermund so oft heißt, absolute Sicherheit sei nicht zu gewährleisten –
ist Voraussetzung für überhaupt nichts.
„Sicherheit“ als Begriff, ist eine abstrakte Idee, aber nichts, was sich tatsächlich beschreiben lässt. Man kann sich vor Dieben schützen, indem man die Fenster vergittert und eine massive Haustür einbaut. Ist das Sicherheit? Man kann sich gegen alles Mögliche, sogar gegen Covid19 impfen lassen. Ist das Sicherheit? Man kann im Leopard 2 in den Krieg ziehen. Ist das Sicherheit? Man kann zulassen, dass die gesamte Kommunikation aller Bürger vorsorglich abgehört wird. Ist das Sicherheit?
Sicherheit ist ein unhaltbares Versprechen.
Was versprochen werden kann, ist ein gewisses Maß an Schutz, das eine gewisse Wahrscheinlichkeit bietet, von einem bestimmten Riskiko nicht getroffen zu werden. Wobei wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Risiko überhaupt eintritt, zwar mathematisch einigermaßen zutreffend für eine bestimmte „Gruppe“ prognostiziert werden kann, aber eben nicht für den Einzelnen.
Die Vorausstzung für Freiheit kann also nicht Sicherheit sein. Die Voraussetzung für Freiheit ist einzig und allein Freiheit.
Nur von dieser Freiheit aus gibt es die freie Entscheidung, zu Gunsten eines wie auch immer gearteten Schutzes, bestimmte Einschränkungen der Freiheit freiwillig hinzunehmen. Das ist das Gegenteil dessen was im Entwurf des CDU-Grundsatzprogrammes festgehalten wurde: Ein starker Staat, der entscheidet, welche Freiräume er den Menschen lässt. Das erinnert sehr an die Gewährung von Freiheiten für Geimpfte, und ich glaube durchaus, dass die CDU sich unter „Freiräume lassen“ immer noch exakt das Gleiche vorstellt.
Daran wird auch nichts besser, wenn die CDU über die Rolle des Staates schreibt:
Wir wollen einen dienenden Staat.
Der Staat ist nicht für sich selbst,
sondern für die Bürger gegründet.
Er darf die Bürger nicht bevormunden,
sondern er muss ihre Freiheit schützen,
ihnen Sicherheit bieten
und die Grundversorgung sicherstellen.
Wir streben konsequent nach einem Staat,
der den Bürgern mehr ermöglicht, als er verhindert.
In unserem Staat trägt dabei jeder Einzelne als Bürger
immer auch Verantwortung für das Ganze.
Wenn ich das wörtlich nehmen wollte, und im Vertrauen auf die CDU annähme, ich trüge die Verantwortung für das Ganze, dann könnte ich mich doch gleich aufhängen. Wo soll denn meine Verantwortung für das Ganze herkommen, wenn die Kompetenz für das Ganze derzeit bei Bundeskanzler Olaf Scholz angesiedelt ist, und nirgends sonst? Und wie soll ich verantwortlich sein, in einem Staat, von dem es im Arbeitszeugnis heißen würde: „Er hat sich stets bemüht …“, weil er konsequent bestrebt ist, mir (eines Tages vielleicht) mehr zu ermöglichen als er verhindert?
Und überhaupt: Wie passt das denn zusammen mit dieser knackigen Aussage:
Wir stärken unsere Sicherheitsbehörden
und dulden keine rechtsfreien Räume.
Keine rechtsfreie Meinungsfreiheit, keine rechtsfreie unverletzliche Wohnung, kein rechtsfreies Telekommunikationsgeheimnis, kein rechtsfreier Raum für die Versammlungsfreiheit? Das haben wir doch alles schon, und nun bekundet die CDU, dieses Erbe der 75-jährigen Geschichte der Demokratieentwicklung in Deutschland bewahren und mit gestärkten Sicherheitsbehörden noch weiterentwickeln zu wollen.
Zur Stärkung der Sicherheitsbehörden gehört sicherlich auch dieser Passus im Entwurf des Grundsatzprogramms:
Die Bundeswehr muss bei Bedarf auch im Inland eingesetzt werden dürfen.
Bereits heute sieht das Grundgesetz vor, dass die Bundeswehr für
bestimmte Aufgaben auch im Landesinneren herangezogen werden kann.
Der Rahmen ist jedoch zu eng definiert.
Das wollen wir zum Schutz der Bevölkerung ändern.
Bei besonderen Bedrohungslagen, in denen nur dieBundeswehr
über die spezifischen Fähigkeiten zur Gefahrenabwehr verfügt,
muss sie auch eingesetzt werden dürfen.
Die Sache mit dem Abschießen von Verkehrsflugzeugen ist ja eigentlich durch. Das geht nicht. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon 2007 entschieden. Bleibt eigentlich nur noch Aufstandsbekämpfung.
Bin gespannt, wie die endgültige Fassung des Grundsatzprogramms am Dienstagabend aussehen wird.