Über den „Kritischen Pfad“ beim Projekt „Grüner Wasserstoff“

Nachdem die Bundesregierung beschlossen hat, im Rahmen dessen, was sie „Kraftswerks-Strategie“ zu nennen beliebt, zunächst grünes Licht für vier neue Gaskraftwerke mit je 2,5 Gigawatt Nennleistung geben zu wollen, falls sich Investoren und Betreiber dafür finden lassen, verkündet die gleiche Bundesregierung in ihrer Verlautbarung „Bundesregierung aktuell“ Folgendes:

Damit die Industrie bis 2045 Stahl, Zement oder andere energieintensive Produkte ohne CO2-Ausstoß herstellen kann, werden neue wasserstofffähige Gaskraftwerke gebaut.

Natürlich meint die Bundesregierung nicht „bis 2045“, sondern „ab 2045“.

Ich halte diese Aussage dennoch für – gelinde gesagt – verwegen.

Ich halte sie selbst dann noch für verwegen, wenn ich unterstelle, dass Robert Habeck oder ein vergleichbarer grüner Experte für die nächsten 21 Jahre als Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz fungieren und diese Strategie unbehindert verfolgen können sollte.

Selbst wenn man unterstellt, dass sich die Welt und Deutschlands Rolle in dieser Welt bis 2045 nicht nennenswert verändern sollten, was ziemlich unwahrscheinlich ist, bleibt die Ansage, dass ab 2045 nicht nur die Gebäudeheizungen und die Fahrzeuge, sondern auch alle Wirtschaftsunternehmen, einschließlich der energieintensiven Industrie, ausschließlich mit Strom aus Windkrafträdern und Solarzellen versorgt werden werden könnten, das, was man früher „das-Blaue-vom-Himmel- herunter-versprechen“ nannte.

Lassen Sie mich ganz einfach, geradezu trivial damit beginnen, dass auch die komplexesten Projekte durch zwei markante Meilensteine determiniert sind, nämlich durch den Anfangstermin A, an dem noch keine der erforderlichen Arbeiten begonnen wurde, und den Endtermin E, an dem alle erforderlichen Arbeiten abgeschlossen sind und das „Projekt“ in den Nutzbetrieb überführt ist.

Betrachtet man die Zeit zwischen den Terminen A und E, stellt sich heraus, dass der für die Projektarbeit erforderliche Ressourceneinsatz Geld kostet, das bei schrittweiser Inbetriebnahme über die Zeit in steigenden Quantitäten zurückfließt, bis im Endausbau die maximalen Erlöse aus der Investition in das Projekt selbst, bzw. an die Investoren zurückfließen können.

Die erste Aufgabe der Projektanten müsste also darin bestehen, abzuschätzen, wie sich Kosten und Erlöse im Zeitverlauf entwickeln, daraus abzuleiten, ob sich die Investition vor dem Ende der Nutzungsfähigkeit amortisiert haben wird, also ob das hineingesteckte Geld über die Erlöse vollständig wieder erwirtschaftet werden kann.

Weil es sich hier um ein Projekt von volkswirtschaftlichen Dimensionen handelt, darf dabei nicht nur die Kosten- und Ertragssituation der Betreiber der gesamten Wasserstoffkette betrachtet werden, es müssen ebenso die Belastungen des Staatshaushalts durch die Zinslasten der erforderlichen Netto-Neuverschuldung in Ansatz gebracht werden, sowie die  Veränderungen der Energiepreise sowohl für die Wirtschaftsunternehmen als auch für die Endverbraucher.

Schon bei dieser immer noch unterkomplexen Überlegung sollten den Makro-Ökonomen die Haare soweit zu Berge stehen, dass vom Erscheinungsbild her akute Verwechslungsgefahr mit Urban Priol eintritt.

Schließlich soll nichts anderes geschehen, als ein funktionierendes System mit durchaus noch langen Restlaufzeiten durch gleich drei Systeme zu ersetzen, von denen das eine nachts und bei Flaute in die Knie geht und das zweite in eben diesen Fällen einspringen soll. Damit das zweite System diesen Job übernehmen kann, muss das erste System aber so weit überdimensioniert werden, dass die Stromüberschüsse an windreichen Sonnentagen nachdem sie durch das dritte System unter erheblichen Verlusten in Wasserstoff umgewandelt wurden, noch ausreichen, um zusammen mit Wasserkraftwerken und Biogasanlagen den Strombedarf vollständig zu decken.

Dass Wind und Sonne keine Rechnung schicken, stimmt dabei natürlich. Es stimmt aber ebenso, dass auch Kohlelagerstätten und Ölfelder, ja nicht einmal Natururan-Vorkommen eine Rechnung schicken. Die Kosten entstehen in allen Fällen erst bei der Nutzbarmachung, und da sieht das Energieversorgungskonzept, aus dem diese Kraftwerkssstrategie entwickelt wurde, gar nicht gut aus, was wiederum die internationale Wettbewerbsfähigkeit beschädigt und den Wohlstand in der Breite der Bevölkerung schwinden lässt.

Die Ampel manövriert das Land mit dieser Strategie in einen kritschen Systemzustand, sollten die Pläne denn aufgegehen. Doch zwischen der Strategie und ihrem Erfolg steht auch noch die Detailplanung – und da steckt der Teufel im Detail.

Noch ist nicht einmal der Zeitpunkt A des Projekts erreicht, denn die Bundesregierung verkündetet mit Pressemitteilung vom 5. Februar (hier auszugsweise wiedergegeben):

… haben Bundeskanzler Olaf Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner (…) vereinbart, dass die Arbeiten an dem zukünftigen Strommarktdesign umgehend weiter vorangebracht und insbesondere Konzepte für einen marktlichen, technologieneutralen Kapazitätsmechanismus erarbeitet werden, die bis spätestens 2028 operativ sein sollen.

Eine politische Einigung darüber soll innerhalb der Bundesregierung bis spätestens Sommer 2024 erzielt werden. Darüber hinaus legt das BMWK unter Berücksichtigung der Plattform Klimaneutrales Stromsystem im Sommer 2024 auch ein Optionenpapier für eine politische Einigung unter Einbeziehung der Fraktionen über das zukünftige Strommarktdesign vor.(…) Die Kraftwerksstrategie schafft den Rahmen für Investitionen in moderne, hochflexible und klimafreundliche Kraftwerke, die in der Lage sind, zukünftig Wasserstoff nutzen zu können. (…) Um eine no regret Menge an Kraftwerken schnell zu realisieren, wird mit der Kraftwerksstrategie unverzüglich ein vorgezogener Zubau von Kraftwerken angereizt. Die Ausschreibungen im Rahmen der Kraftwerksstrategie werden so ausgestaltet, dass die neuen Kraftwerke in den zukünftigen Kapazitätsmechanismus vollständig integriert werden. (…) Es wurde darüber hinaus beschlossen, dass bestehende Hemmnisse für die Errichtung und den Betrieb von Elektrolyseuren ohne Einschränkung abgebaut und alle Möglichkeiten genutzt werden sollen, um insbesondere den Zubau von Elektrolyseuren zu beschleunigen, die systemdienlich betrieben werden sollen. (…) Die gefundene Einigung zur Kraftwerksstrategie wird mit der EU-Kommission in Brüssel beraten und anschließend mit der Öffentlichkeit konsultiert. (…)

Mit etwas Glück stimmt die EU-Kommission zu (und zwar der staatlichen Förderung der Maßnahmen, die zwingend notwendig ist, weil ohne Förderung weder Investoren noch Betreiber eine Rendite einfahren könnten), statt – wie so gerne, wenn Deutschland industriepolitische Maßnahmen erwägt, von unzulässigen Beihilfen zu schwadronieren, um den nächsten Kuhhandel zu Gunsten Brüssels einzufädeln.

Dann stehen wir bestenfalls Anfang 2025, wahrscheinlich aber erst im Sommer 25 an dem Punkt, an dem wirklich angefangen werden kann, diese ersten 10 Gigawatt H2-ready Gaskraftwerke auszuschreiben. Dass diese Strommenge gerade ausreicht, um die „normale“ Lücke zwischen dem Stromverbrauch ohne massiven Ausbau der E-Mobilität, ohne massiven Ausbau der Wärmepumpen, ohne den Prozesswärme-Bedarf der Industrie einerseits und der Leistung der Erneuerbaren an Tagen mit durchschnittlichem Ertrag zu decken, sei nur am Rande erwähnt. Das eigentliche Problem ist jetzt die Zeit. Grundsätzlich gilt, dass es zwischen den unterschiedlichen Arbeitsschritten in der Ausführung von Projekten gewisse Abhängigkeiten gibt. Manche können parallel erledigt werden, manche können erst begonnen werden, wenn andere erledigt sind, manche dürfen erst fertiggestellt werden, wenn der Folgeschritt beginnen kann.

Um es zu illustrieren: Man kann an unterschiedlichen Standorten gleichzeitig Fundamente herstellen, aber man kann das Kraftwerksgebäude nicht errichten, bevor die Fundamente gegossen sind, so wie Strom auch erst erzeugt werden kann, wenn der Anschluss an das Netz erfolgt ist.

So entsteht aus tausenden von Einzelaktivitäten ein Netz, dass sich zwischen Zeitpunkt A und Zeitpunkt E in großer Breite entfaltet und innerhalb dieses Netzes kristallisiert sich in der Regel eine sonderbare Abfolge von Einzelschritten heraus, die für das gesamte Projekt zeitbestimmend sind. Das ist der so genannte „Kritische Pfad“.

Der Bau der Gaskraftwerke alleine wird wohl eher nicht zeitbestimmend sein, vorausgesetzt die erforderlichen Kapazitäten im Bausektor und im Maschinenbau sind für die Errichtung von mindestens 50, eher 60 neuen Gaskraftwerken nach Ausschreibung und Vergabe, Standortbestimmung und Genehmigungsverfahren  verfügbar.

Viel dramatischer sieht es bei der Beschaffung des für ihren Betrieb ab 2045 erforderlichen, grünen Wasserstoffs aus – und ob bis dahin ausreichend LNG beschafft werden kann, ist überdies ebenfalls fraglich.

Im Zuge der Arbeit an meinem Buch „Links abgebogen“ habe ich eine Reihe von Berechnungen angestellt, die ich dort – ab Seite 120 – dargelegt habe. Danach sind für eine einigermaßen ausfallsichere Stromversorgung mit dem Speichermedium Wasserstoff mindesten 800.000 Windkraftanlagen erforderlich, zusätzlich, zu den in Deutschland bereits installierten. Es geht ja um den Ersatz des kompletten Primärenergie-Einsatzes durch so genannte Erneuerbare, und da wiederum um Speicherkapazitäten zur Überbrückung von in Deutschland durchaus möglichen Dunkelflauten von sieben Tagen und mehr. Das erfordert die Vorratsspeicherung von 260 Terrawattstunden. Bei 3 kWh pro Kubikmeter Wasserstoff ergibt das ein erforderliches Speichervolumen von 90 Millionen Kubikmetern, es sei denn, man kühlt den Wasserstoff auf minus 253 Grad herunter und hält ihn bei dieser Temperatur flüssig.

Aber, was soll’s, für 800.000 Windkraftanlagen ist in Deutschland sowieso kein Platz. Wir verfügen ja, einschließlich aller bereits anderweitig genutzen Flächen nur über rund 360.000 Quadratkilometer.

So ist es nicht verwunderlich, dass das Wirtschaftsministerium nach anderen Quellen für grünen Wasserstoff sucht, und das vorzugsweise in Afrika, wo große sonnenbeschienene Flächen ohne große Vegetation zur Verfügung stehen, um gigantische Fotovoltaik Plantagen zu errichten.

Sprechen wir aber nicht von den Problemen, denen die Fotovoltaik in Wüstengebieten trotzen müsste, ohne dass die Oberflächen von gelegentlichen Sandstürmen in nur noch halbdurchlässiges Milchglas verwandelt werden, oder von den Windradflügeln, die ebenfalls erheblichen Erosionskräften ausgesetzt würden.

Sprechen wir stattdessen vom Wasser. Grüner Wasserstoff soll ja aus Wasser hergestellt werden, wobei für ein Kilogramm Wasserstoff mindestens neun Liter Wasser benötigt werden, aber nicht einfach irgendein Wasser, sondern reines Wasser, fast so rein, wie destilliertes Wasser.

Weil da, wo die Fotovoltaik ertragreich erscheint, leider kein Überfluss an sauberem Wasser herrscht, ergibt sich die nächste Notwendigkeit, nämlich Meerwasserentsalzungsanlagen zu errichten. Die brauchen auch ein bisschen Strom, einmal für den reinen Pumpenbetrieb zum Wassertransport, und zum anderen für den Druckaufbau in der so genannten Umkehrosmose.

Die können allerdings erst in Betrieb genommen werden, wenn  genügend Strom zur Verfügung steht, also die Fotovoltaik- und ggfs. Windkraftanlagen in Betrieb gehen können. Dazu müssen wiederum Leitungen zwischen der Küste und den Stromernteregionen errichtet werden, wobei auch in Afrika aus dem Flatterstrom von Wind und Sonne kein kontinuierlicher Stromertrag zu erwarten ist.

Eine Meerwasserentsalzungsanlage kann man natürlich vom Netz nehmen, wenn nachts der Wind nicht weht, nicht aber eine Elektrolyseanlage. Die nimmt Unterbrechungen übel, schlimmstenfalls kommt es zur Selbstzerstörung per Knallgasexplosion. Um den kontinierlichen Elektrolyse-Betrieb sicherzustellen, bräuchte es also schon wieder einen Stromspeicher.

Die Absichtserklärnungen, die Habeck über die enge Zusammenarbeit bei grünem Wasserstoff jüngst in Südafrika und Algerien unterzeichnet hat, sind eben leider nicht mehr als Absichtserklärungen. Die Probleme werden nicht erst beginnen, wenn es an die Verträge geht. Aber wenn es so weit kommt, steht dann wieder die Frage im Raum, wer die Investitionen finanzieren wird?

Werden sich private Investoren finden? Wird Deutschland Kredite gewähren? Wer wird den Preis des Wasserstoffs bestimmen? Was wird der Wasserstoff kosten, wenn er in Deutschland angekommen ist? Was wird er kosten, wenn er aus den ebenfalls erforderlichen Großspeichern entnommen wird? Aus Südafrika wird er wohl als Schiffsfracht unterwegs sein sollen. Aus Algerien soll er über bestehende Pipelines transportiert werden, die dazu jedoch noch ertüchtigt werden müssen. Wie das gehen soll, ist nach meinem Wissen noch unklar. Wasserstoff ist ja insofern tückisch, als seine Atome so klein sind, dass sie in andere Materialien eindringen können. Stahl versprödet dann …

Die 20 Jahre bis 2045 erscheinen als eine lange Zeit.

Ich gebe dazu drei Einschätzungen ab:

  1. Die derzeit als Bedarf angenommenen 50 neuen Gaskraftwerke können bis 2045 durchaus errichtet werden.
  2. Grüner Wasserstoff wird nach Lösung aller noch offenen technischen Probleme ab 2045 in geringen Mengen in Deutschland selbst erzeugt und in ebenfalls geringen Mengen importiert werden können. Der wesentliche Betriebsstoff der Gaskraftwerke wird auch 2045 immer noch Erdgas sein, ganz unabhängig davon,  woher es bezogen wird.
  3. Die Kosten der Dekarbonisierung über die Wasserstofftechnologie werden Deutschlands Industrie weitgehend zerstören, die Bürger verarmen und dabei die Staatsverschuldung so weit in die Höhe treiben, dass das grüne Projekt „Netto Null“, sich noch vor 2035 als definitiv unbezahlbar erweisen wird.

Hoffen wir, dass diese Einsicht schon deutlich früher um sich greift und sich jemand findet, der den Mut hat, die „Strategie“ nach den nächsten Bundestagswahlen in die grüne Tonne zu treten.