Orban auf Abwegen – der Krieg der Vernünfte

Was wäre jetzt vernünftig?

Doch. Den Plural gönn‘ ich mir.

Vernunft als ein unteilbares, allgemeingültiges und unveränderliches Prinzip anzusehen, das zugleich als Messlatte dient, um die individuellen Grade der Unvernunft festzustellen, führt garantiert in den Irrtum und in unauflösliche Konflikte.

Zu unterscheiden ist zwischen der individuellen Vernunft und der kollektiven Vernunft.

Die individuelle Vernunft

ist eine Eigenschaft, die sich in jedem individuellen System von Werten und Zielen auf der Basis von Wissen und Erfahrung entwickelt und eingesetzt wird, um den gesetzten Zielen näherzukommen. Nehmen wir als Beispiel die Notwendigkeit der Entscheidung für oder gegen eine Impfung mit mRNA-Impfstoffen.

  • Natürlich war es eine vernünftige Entscheidung, sich impfen zu lassen, um vor einer schweren, möglicherweise tödlichen Krankheit geschützt zu sein.
  • Selbstverständlich war es ebenfalls eine vernünftige Entscheidung, sich impfen zu lassen, um weitgehende Einschränkungen der persönlichen Freiheit zu vermeiden.
  • Und genauso war es eine vernünftige Entscheidung, sich wegen des unzureichenden Wissens über Wirksamkeit und Nebenwirkungen nicht impfen zu lassen.

Allerdings sagt die vernünftige Begründung einer Entscheidung nichts darüber aus, ob es denn auch die richtige Entscheidung gewesen sein mag. Es liegt im Wesen der Entscheidungssituation, dass nicht alle zur Beurteilung erforderlichen Informationen bekannt sind. Von daher geht hier die Vernunft den Weg, sich an Wahrscheinlichkeiten zu orientieren.

Wir finden im mRNA-Beispiel zwei sehr ähnliche Überlegungen, allerdings mit absolut konträrem Ausgang. Beide entsprechen dem Versicherungsgedanken, denn sie lauten: „Es könnte mich mit großer Wahrscheinlichkeit treffen, also schütze ich mich.“ Nur dass eben A überzeugt ist, es bestünde eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit sich anzustecken und dann einer schlimmen Krankheit ausgeliefert zu sein, während B überzeugt ist, es bestünde eine relative hohe Wahrscheinlichkeit für schlimme Nebenwirkungen. A schützt sich, indem er die Spritze annimmt, B schützt sich, indem er sie verweigert.

Rückblickend wissen wir, dass das Gros der Geimpften die Pandemie unbeschadet überstanden hat, während einige Geimpfte dennoch schwer erkrankten und einige Geimpfte unter schweren Nebenwirkungen zu leiden hatten. Wir wissen ebenso, dass das Gros der Ungeimpften die Pandemie unbeschadet überstanden hat, während einige schwer erkrankten, aber keiner unter Nebenwirkungen zu leiden hatte. So steht am Ende die Erkenntnis, dass zumindest alle, die heil durch die Pandemie gekommen sind (und das ist die ganz überwiegende Mehrheit), ob geimpft oder nicht, auch nachträglich überzeugt sein können, eine vernünftige Entscheidung getroffen zu haben.

Ist das nicht verrückt? Es ist verrückt.

 

Die kollektive Vernunft

entspringt dem mehrheitlichen „Fürwahrhalten“ bestimmter Annahmen, das Wohlergehen des Kollektivs in seiner Gesamtheit betreffend. Diese Annahmen können aus übereinstimmenden, bzw. ähnlichen Werten und Zielen der Mitglieder hervorgehen, sie können aber auch von „Propheten“ verkündet und mittels gruppendynamischer Prozesse im Kollektiv verankert werden.

Nehmen wir als Beispiel das Bündnis der kollektiven Verteidigung, die NATO, mit dem sich die westlich-kapitalistischen Staaten vor Angriffen feindlich gesinnter Staaten schützen. Ohne das mehrheitliche Fürwahrhalten einer real existierenden Bedrohung durch feindliche Staaten und ohne das mehrheitliche Fürwahrhalten der Annahme, nur im Kollektiv jeder Bedrohung von außen gewachsen zu sein, wäre die NATO nicht zusammenzuhalten.

Die kollektive Vernunft beruht aber nicht nur auf dem Fürwahrhalten beider Aspekte, sie wirkt sich zwingend stabilisierend auf die für wahr gehaltenen Annahmen aus und erzwingt darauf aufbauend den steten Um- und Ausbau der militärischen Fähigkeiten. Weil aber das Kollektiv die Verteilung der Lasten auf viele Schultern ermöglicht, ist es wiederum die kollektive Vernunft, die auf die Aufnahme neuer Mitglieder hinwirkt, während sie gleichzeitig dafür sorgt, dass niemand auf die Idee kommen sollte, aus der NATO wieder auszutreten.

Die kollektive Vernunft verbietet den Mitgliedern des Kollektivs, überhaupt noch auf die Hinweise ihrer „national-individuellen“Vernunft zu achten. Hält es das Kollektiv zum Beispiel für richtig, von sich aus eine Konfrontation mit Russland zu suchen, dann ist die Mitwirkung dabei vernünftig, weil sonst Abstriche bei der Teilhabe an der kollektiven Sicherheit gemacht werden müssten.

Vorausschauend können wir ahnen, dass sowohl das Ausbleiben einer bewaffneten Auseinandersetzung mit der NATO als auch ein heißer Krieg mit der NATO, nur die kollektive Vernunft des Misstrauens und des Aufrüstens bestätigen wird.

  • Hätten wir uns nicht zusammengerottet und aufgerüstet, der Russe hätte uns überfallen.
  • Hätten wir uns nicht zusammengerottet und aufgerüstet, wir wären längst besiegt worden.

Ist das nicht verrückt? Es ist verrückt.

 

Victor Orban

Ungarns Regierungschef hat mit seiner überraschenden Reisediplomatie die Leitplanken der kollektiven Vernunft der EU durchbrochen. Das aufgeregte Getöse aus Brüssel beweist eigentlich nur, dass die „NATO-Vernunft“ dort so massiv verankert und zum Bestandteil der „EU-Vernunft“ geworden ist, dass eine Besinnung auf so etwas wie eine eigene EU-Vernunft in den Außenbeziehungen, Grund genug ist, um von einem beispiellosen Eklat zu sprechen.

Erstaunlich dabei, dass die NATO Orbans Rundreise

– Kiew – Moskau – Peking – ? – NATO –

unaufgeregt neutral kommentiert und auf Orbans Berichterstattung gespannt ist. Es heißt, Orban habe seine Reise gegenüber der NATO angekündigt, jedoch nicht gegenüber der EU. Was da an Nicklichkeiten und Eifersüchteleien eine Rolle spielen mag, soll hier nicht behandelt werden.

Die Frage lautet:

Ist Orbans eigenmächtige diplomatische Offensive ein Akt der Vernunft?

Rein äußerlich betrachtet, wurde er von Selenski, von Putin und Xi zu ausführlichen Gesprächen empfangen. Er wurde also in einem Maße ernst genommen und respektiert, das in letzter Zeit längst nicht alle Berliner Auslandsreisenden so erleben durften. Insofern war die Idee: „Ich fliege da mal hin und versuche zu vermitteln“, sicherlich nicht unvernünftig. Was im Detail besprochen wurde, werden wir wohl so schnell nicht erfahren, doch wissen wir, dass es bei seinen Besuchen nicht zu einem Eklat gekommen ist.

Wer darauf hofft, dass mit diesen ersten Schritten ein Friedensprozess eingeleitet werden könnte, der der Verwüstung und dem Sterben in der Ukraine ein Ende setzen könnte, wird geneigt sein, Orban zu attestieren, er habe sich – gegen das Kollektiv – von seiner (individuellen) Vernunft leiten lassen.

Es gibt allerdings auch Stimmen, die – wenn auch nicht in dieser verbalen Deutlichkeit – zum Ausdruck bringen, Orbans Alleingang sei falsch, unvernünftig und dumm.

Natürlich ist auch das ein Ergebnis von Vernunft. Auch dahinter stehen bestimmte Systeme von Werten und Zielen, wobei befürchtet wird, Orban könne diese Werte verletzen und Ziele unerreichbar werden lassen. Ich muss diese Werte und Ziele im Detail nicht weiter ausführen. Nur vielleicht so weit, dass am Ende durchaus auch ein Frieden stehen soll, nur eben ein auf andere Weise erreichter und anders gestalteter Frieden.

Es ist wie bei der Covid Pandemie. Die einen wollen aus Angst vor Russland weiter schießen (impfen), bis von Russland keine Gefahr mehr ausgeht, die anderen wollen aus Angst vor dem Krieg (Nebenwirkungen) darauf hinarbeiten, dass das Schießen eingestellt wird, weil sie die größere Gefahr in der Fortdauer und möglichen Eskalation des heißen Krieges sehen. 

So stehen sich die Vernünfte unversöhnlich gegenüber und erklären sich gegenseitig als die Ausgeburten der Unvernunft.

Ist das nicht verrückt? Es ist verrückt.

 

Dennoch ist es gut.

Solange die Auseinandersetzung um die vernünftigste Vernunft noch möglich ist, solange ein Victor Orban seine individuelle Vernunft noch gegen die kollektive Vernunft der EU setzen kann, handelt es sich um einen Lernprozess. Es ist ein schwieriger, langwieriger Lernprozess, doch dieser Prozess bietet immer wieder die Chance, den Kurs zu korrigieren. Die richtig verstandene Demokratie ist sozusagen das abstrakte Spiegelbild dieser Lernprozesse, so wie die Federschwingen des Vogels die Entsprechung der Luft sind. Ohne Luft – kein Vogel. Ohne Wasser – kein Fisch.

So schwer der Widerstreit der Vernünfte auch zu ertragen ist, unerträglich wird es immer und überall da, wo es einer einzigen kollektiven Vernunft gelingt, das Aufkeimen jeglicher anderen Vernunft vollständig zu unterdrücken.

Ohne Meinungsfreiheit – keine Demokratie.