Als man sich vor drei Monaten anschickte, das Basislager der Gipfelexpedition zu erreichen, formulierte Angela Merkel die folgenden, bedeutungsschweren Sätze:
„Nehmen wir an, es sei die Zeit und der politische Wille zu gemeinsamer Verschuldung da und er bestünde wirklich, dann müßten alle nationalen Parlamente in der EU und auch der Deutsche Bundestag entscheiden, die EU-Verträge so zu ändern, daß ein Teil des Budgetrechts auf die europäische Ebene übertragen und dort demokratisch kontrolliert würde“.
„Das wäre ein zeitraubender und schwieriger Prozeß und keiner der in der aktuellen Lage direkt helfen könnte, denn es geht jetzt darum schnell zu helfen und schnell Instrumente in der Hand zu haben, die die Folgen der Krise lindern können“.
Heute Morgen, bei Sonnenaufgang, stellt der deutsche Michel fest, dass der belgische Michel das, was Angela Merkel am 23. April noch unter den Vorbehalt einer bloßen Hypothese – „nehmen wir an“ – gestellt hatte, als historische Tatsache verkündet. Allerdings ohne die von Angela Merkel an die Wand gemalten Probleme auch nur zu erwähnen. Es handelte sich ja auch nicht um ein Ausschlusskriterium für Euro-Bonds. Sie verkündete im Grunde damals schon implizit den alternativlosen Ausschluss der nationalen Parlamente.
Nach 91 Stunden und 20 Minuten waren die Gipfelstürmer soweit breitgeklopft und mit Milliardenzusagen gepampert, dass insoweit Einigkeit bestand, als jeder glaubte, aus dem großen Topf das Maximum für sich herausgeholt zu haben.
Nationale Parlamente? Änderung der EU-Verträge? Fehlanzeige.
Geht ja auch gar nicht, wäre ja, wie Angela Merkel schon im April angekündigt hatte, ein viel zu zeitraubender und schwieriger Prozess, um mal eben 390 Milliarden zu verschenken, die man nicht hat, so wie man die 360 Milliarden nicht hat, die zusätzlich als Kredite der EU ausgeschüttet werden.
Die Herren Gauweiler und Schachtschneider sind vermutlich schon dabei, eine neuerliche Verfassungsbeschwerde auszuformulieren, während Herr Harbarth wohl schon darüber nachdenkt, mit welcher Begründung die Sache auf die lange Bank des EUGH geschoben werden soll, sollte sie denn in den nächsten Tagen tatsächlich im Briefkasten des Verfassungsgerichtes vorgefunden werden.
Dabei stellt sich die Sache so einfach dar:
Wozu braucht es eine Änderung der Verträge,
wenn sich in der Frage der Notwendigkeit
und der Zweckmäßigkeit
des Vertragsbruchs alle einig sind?
Unter Kaufleuten und Ehrenmännern gilt die mündliche Vereinbarung.
Und wer behaupten wollte, die Bürger der Mitgliedsländer seien auch „irgendwie“ Partei und daher zu hören, der irrt. Die Bürger der Mitgliedsländer haben es seinerzeit geschafft, die Verfassung abzulehnen. Wer keine Verfassung hat, noch dazu, wenn er sie selbst zu Fall gebracht hat, kann wohl auch nicht irgendwelche verfassungsmäßigen Rechte einfordern. Das wäre ja noch schöner.
Also ist nun der Weg frei für die Ausgabe von Anleihen, die natürlich außerhalb der Finanzmärkte, wo man sich solchen Sprachregelungen nicht unterwirft, nie und nimmer „Euro-Bonds“ genannt werden dürfen. Gegen die Prognose, dass diese Euro-Bonds binnen kürzester Zeit zu jenen Titeln zählen werden, die im Ankaufprogramm der EZB höchste Priorität genießen, wird nach meiner Einschätzung heute niemand ernsthaft eine Wette eingehen wollen.
Hurra!
Es ist gelungen, ein neues „Aufschuldungsgebiet“ zu erschließen. Ein Aufschuldungsgebiet, dessen Kreditwürdigkeit nach dem Vorbild der Asset Backed Securities (ABS) gestaltet ist, wo man in der Subprime-Krise einen Mix aus mehr oder minder notleidenden US-Immobilien-Krediten zu einem Paket schnürte und diese, mit Bestnoten der Rating-Agenturen versehen, als „Wertpapiere“ über die halbe Welt verteilte.
Insofern ist die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, dass die Veränderung der Relation von Zuschüssen zu Krediten von 500:250 Milliarden auf 390:360 Milliarden nur dem Zweck diente, letzte Skrupel der Rating-Agenturen bei der Einstufung der Euro-Bonds zu beseitigen.
Nun gilt es, gespannt abzuwarten, was in den nächsten Tagen an Details beschlossen und verkündet wird. Wird es strenge Vorschriften zur Verwendung der auszuschüttenden Mittel und dazu eine mit großen Vollmachten ausgestattete Kontrollinstanz geben, oder wird man diesen Ansatz ebenso fallen lassen, bzw. zur Unkenntlichkeit aufweichen, wie man gegenüber Victor Orban den „Rechtsstaatlichkeits-Ansatz“ dadurch hat fallen lassen, dass eine nur theoretisch erreichbare Mehrheit der Mitgliedsstaaten darüber zu entscheiden habe?
Da sich gezeigt hat, dass die in Brüssel ausbaldowerte Definition der „Rechtsstaatlichkeit“,
deren Ziel es ist, das Eintreten für nationale Interessen zu kriminalisieren und so das Zusammenwachsen der EU von der Staatengemeinschaft zu einem Staatsgebilde zu forcieren,
gegenüber der Gelegenheit, der EU endlich eine eigene Finanzierungsmöglichkeit zu schaffen, zurücktreten musste, wird es wohl eher nur sehr pauschale Vorgaben für die Mittelverwendung durch die Mitgliedsländer und dazu eine faktisch kompetenzfreie Kontrollinstanz geben
Es gilt zudem, mit etwas längerem Atem abzuwarten, wann diesem ersten, auf die Ausrede „Corona“ gestützten Sündenfall wohl der nächste, also die Aufstockung der Kreditaufnahme der EU folgen wird. Ich bin da ganz und gar optimistisch und prognostiziere: Spätestens 2022 wird die Erkenntnis Platz greifen, dass die heute beschlossenen Hilfen zum Wiederaufbau einfach nicht ausreichen, um die ambitionierten, Klima- und Digitalisierungsziele zu erreichen, die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit zu stärken und den Kampf gegen Rassismus und andere Ungleichheiten erfolgreich weiterzuführen. Das gibt dann noch einmal einen kleinen Gipfel, und wenn die Kuh dann vom Eis ist, dann ist eine EU ohne Euro-Bonds ebenso unvorstellbar, wie eine deutsche Landschaft ohne Windräder.
Der nächste, heute Nacht schon unausweichlich mitbeschlossene, jedoch mit keiner Silbe genannte Schritt, ist zwangsläufig das Recht der EU, eigene Steuern zu erheben. Nur damit kann nämlich das Gezerre um die Mitgliedsbeiträge beendet werden, weil nicht länger die Eigeninteressen der nicht immer kooperativen Staats- und Regierungschefs berücksichtigt werden müssen, sondern die gegenüber der EU wehrlosen Unternehmen und Bürger der Mitgliedsstaaten unter Umgehung von nationalen Parlamenten und Regierungen direkt zur Kasse gebeten werden können.
Ja, aber …! Es muss doch geholfen werden!
Und wenn nicht so, wie denn dann?
Bingo.
Mission accomplished.
Nachtrag, 10:38 Uhr
Lese gerade, dass die FAZ das Werk der Illusionskünstler bewundert. „Die Magie“, so steht es fett in der Überschrift und beschreibt damit wohl den nach 92 Stunden eingetretenen, mentalen und psychischen Ausnahmezustand, „des europäischen Projekts“, geht es weiter, „lebt“. Ob weiße oder schwarze Magie, ob die Gipfelteilnehmer verzaubert oder verhext wurden, das wird nicht weiter analysiert. Das entwertet den ganzen Jubelartikel dann doch ein bisschen.https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/einigung-beim-eu-gipfel-die-magie-des-europaeischen-projekts-lebt-16869834.html?printPagedArticle=true#pageIndex