Königsberg – Kaliningrad – – Der Korridor und das Wegerecht

Geschichte wiederholt sich nicht?

Wenn man nicht ganz so pingelig auf die Vergangenheit schaut und eine Wiederholung nicht nur da erkennt, wo sich die selben Ereignisse, mit den selben Personen und den selben Ergebnissen quasi deckungsgleich auffinden lassen, dann sieht man, dass doch immer wieder die gleichen Konstellationen auftreten, dass um den gleiche Zankapfel mit den gleichen Tricks gerungen wird, auch wenn die Gewinner immer wieder wechseln.

Es hat zwei Jahre gedauert, bis nach dem Ende des Ersten Weltkriegs festgelegt und beschlossen war, dass Polen einen Zugang zur Ostsee haben soll, aber 1920 war es dann festgezurrt. Das Stückchen Land, das fortan Ostpreußen vom Rest des Reichs trennte, wurde Korridor genannt, und wer sich ganz allgemein für die Folgen des Vertrags von Versailles für die territoriale Integrität Deutschlands interessiert, mag sich in ruhigen fünf Minuten mit der hier verlinkten Übersichtskarte beschäftigen.

Selbstverständlich hat man nicht versäumt, festzulegen, dass Polen den ungehinderten Bahn-, Schiffs-, Post-, Telefon- und Telegrafenverkehr durch den Korridor sicherstellen müsse. Tatsächlich war es dann möglich in verplombten Zügen der polnischen Eisenbahn – Fensteröffnen während  der Fahrt verboten – den Korridor zu durchqueren. Eine Straßenverbindung war nicht vorgesehen und der Vorschlag von deutscher Seite, eine Transitautobahn zu errichten wurde abgelehnt. Die Reibereien um den Korridor waren dann 1939 so weit hochgeköchelt worden, dass der Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 auch damit begründet wurde. Vier Jahre und neun Monate später endete  der Zweite Weltkrieg.

Und, oh Wunder, Ostpreußen ging für Deutschland ganz verloren und Königsberg hieß nun Kaliningrad und gehörte zur Sowjet-Union. Litauen, Estland und Lettland waren damals noch Sozialistische Sowjet Republiken, so dass die geografische Lage Kaliningrads in keiner Weise problematisch erschienen ist.

Dass die Konservativen Parteien noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg bei jeder Gelegenheit plakatierten: „Deutschland dreigeteilt? Niemals!“, machte weder auf die Russen, noch auf die Westmächte so viel Eindruck, dass man auch nur daran gedacht hätte, die Grenzziehungen zu revidieren.

Es kam die Friedens- und Versöhnungspolitik Willy Brandts, später – mit Gorbatschow – die so genannte Wiedervereinigung Deutschlands in deren Zuge die Oder-Neiße-Linie als der Verlauf der deutsch-polnischen Grenze festgeschrieben wurde. Gleichzeitig zerfiel die UdSSR und die drei baltischen Staaten, Litauen, Lettland und Estland erlangten ihre Unabhängigkeit zurück, traten in die EU und in die NATO ein – und hinterließen Kaliningrad als von Polen und Litauen eingeschlossene, russische Exklave.

Selbstverständlich hat man im Russisch-Litauischen Vertrag über die Litauischen Grenzen nicht versäumt, festzulegen, dass Litauen den Transit zwischen Kaliningrad und Russland sicherzustellen habe.

Ein Déjà-vu? Gab es diesen Passus nicht schon 1920 im Versailler Vertrag? Nur halt für den Transit von Deutschland nach Deutschland durch Polen? Jetzt von Russland nach Russland durch Litauen?

Nun ist es gekommen, wie es „die Vorsehung“ schon mit der NATO-Mitgliedschaft als Option vorgesehen hat. Aufgrund von EU-Sanktionen, für die Litauen als EU-Mitglied jedoch jede Verantwortung weit von sich weist, musste Litauen den Transit zwischen Russland und Russland auf dem Landwege für etwa die Hälfte aller Güter und Waren verweigern. Darunter unter anderem Zement, Baumaterialien und Metalle.  Die Weltwoche (Schweiz) weist auf drei Besonderheiten dieser Maßnahme hin:

  1. Die EU-Sanktionen verbieten nur russische Exporte dieser Güter und Waren, nicht aber den innerrussischen Warenverkehr, und Kaliningrad sei nun ebenso russisch, wie Moskau.
  2. Die Beeinträchtigung des Transits sein ein Bruch des Russisch-Litauischen Vertrages, mit dem die Zustimmung Russlands zum EU-Beitritt Litauens an den ungehinderten Zugang von und nach Kaliningrad gebunden wurde.
  3. Die Transitbehinderungen seinen von Litauen zwar mit den USA, nicht aber mit Brüssel abgesprochen gewesen.

Der dritte Punkt dieser Aufzählung der Weltwoche lässt bei mir allerdings die Vermutung aufkeimen, dass diese Maßnahmen nicht von Litauen ausgegangen sind, sondern dass man in Vilnius einfach einer „Anregung“ aus Washington gefolgt ist, die man schlicht nicht ablehnen konnte.

Die Empörung im Kreml ist nicht gespielt. Kaliningrad ist für Russland geostrategisch von gleicher Bedeutung wie die Krim. Da mögen die Strategen des Wertewestens noch so scheinheilig argumentieren, dass Russland mit seinem Einmarsch in die Ukraine für alle Strafmaßnahmen ganz alleine verantwortlich sei. Es handelt sich um eine gezielte, schmerzhafte Provokation, die – sollte Russland sich den Zugang nach Kaliningrad militärisch erzwingen – unmittelbar den Bündnisfall auslösen und damit den Beginn des Dritten Weltkriegs markieren würde.

Noch ist Kaliningrad auf dem Seeweg erreichbar. Doch schon ertönen die Stimmen der Scharfmacher von beiden Seiten, die nach einer Seeblockade rufen. Die einen wollen nur den Schiffsverkehr nach Kaliningrad unterbinden, die anderen wollen Litauen, oder gleich das gesamte EU-NATO-Baltikum blockieren. Beides kann nach meiner Einschätzung nicht gelingen. Die Kräfteverhältnisse lassen es nicht zu. Russland wäre stark genug, um den Zugang über das Frische Haff immer wieder freizukämpfen, im Gegenzug würde es aber wohl kaum gelingen, eine undurchlässige Blockadelinie von rund 1.000 Kilometer Länge in der Ostsee – die schließlich zu den NATO-Heimatgewässern gehört – zu errichten und über viele Monate aufrecht zu erhalten. Wer auch immer einen dieser Wege wählen würde, die Verluste an Schiffen und Seeleuten wären für beide Seiten extrem hoch.

Damit taucht ein neuer Aspekt im Kriegsgeschehen auf, der vielleicht auch die immer gewagteren Provokationen gegen Russland erklärt: Die Verluste, vor allem die Verluste materieller Art an Waffen und Munition.

Alex Vershinin hat diesen Aspekt analysiert. Sein Bericht mit dem Titel „The Return Of Industrial Warfare“ wurde auf der Website des Thinktanks des britischen Militärs „Royal United Services Institute“ veröffentlicht. Neben vielerlei breit angelegten Erwägungen über Zahlenverhältnisse zwischen der russischen und der ukrainischen Armee, weist Vershinin insbesondere auf die Verluste an schweren Waffen und den hohen Munitionsverbrauch beider Armeen hin und setzt diese ins Verhältnis zu den Vorräten und insbesondere zu den Produktionskapazitäten. Vershinin kommt letztlich zu dem Schluss, dass USA und NATO in einem längeren Krieg in der Ukraine relativ bald den Nachschub an Waffen und Munition nicht mehr sicherstellen könnten, und sagt dazu konkret: Kurz gesagt, die jährliche US-Artillerieproduktion würde bestenfalls für 10 Tage bis zwei Wochen Kampfeinsatz in der Ukraine reichen. 

Hält man diese Aussage auch nur von der Größenordnung „Tage“ her für zutreffend, egal, ob es nun 10, 20 oder 30 Tage sind, dann stellt sich die Frage ob die Provokation in Kaliningrad nicht primär zum Ziel hat, den großen Krieg – aber mit „richtigen Soldaten“ und dem eingespielten Zusammenwirken aller NATO-Kräfte unter einheitlicher strategischer Führung – noch in Gang zu bringen, bevor Selenskis Truppen die Arsenale des Westens so weit geplündert und in Schrott verwandelt haben, dass erst ein jahrelanges Nach- und Hochrüsten erforderlich wäre, um erneut aussichtsreich gegen Russland antreten zu können.

Ich halte das für eine sehr wahrscheinlich zutreffende Interpretation der Ereignisse.

Der oben verlinkte Artikel ist sehr lesenswert – und lässt sich mit DeepL (www.deepl.com) auch zuverlässig und schnell ins Deutsche übersetzen.