Historisch! Alle EU-Außenminister in Kiew! Historisch!

Russland darf nicht gewinnen. EU in Kiew - unten links: Annalena Baerbock

Die Älteren, also jene, die 1983 schon mindestens 20 , aber höchstens 60 Jahre alt waren, können mit dem Begriff „Geier Sturzflug“ noch etwas anfangen. Das war eine Gruppe lustiger Musikanten, die abgrundtiefe Texte zu Gehör brachten. Unter anderem auch ein Lied mit der Refrain-Zeile: „Besuchen Sie Europa, solange es noch steht!“

Zur Erinnerung habe ich dieses Video bei Youtube ausgegraben.

Ohne andeuten zu wollen, dass dieser Beitrag bis an diese Stelle unernst gewesen sei, lässt es sich nicht vermeiden, jetzt das Stilmittel zu ändern und stocknüchtern zu betrachten, was da gerade geschehen ist.

Dazu gehört es auch, die Frage zu stellen, wie viel Mut dazu gehört, den gesamten kumulierten außenpolitischen Sachverstand der EU an einem Ort in einem Kriegsgebiet zu versammeln, der nachweislich innerhalb der Reichweite russischer Waffen gelegen ist. Die Antwort fällt etwas leichter, wenn man die Frage anders formuliert: Wie hoch muss das Vertrauen der EU und aller ihrer Außenminister in die Zusage der russischen Führung, sein, dass während des Besuchs in Kiew keine Angriffe auf Kiew durchgeführt werden, wenn man diese Zusage vorher auf geheimen diplomatischen Kanälen erbeten hat?

Dem schließt sich natürlich die Frage an, was Russland dazu bewegen könnte, eine solche Zusage zu geben. Die Antwort darauf ist ganz einfach zu finden: Es spielt für Russland keine Rolle.  Es ist nicht die Angst vor massiver Vergeltung, sollte man auch nur einem EU-Außenminister ein Haar versengen, es ist die Gewissheit, dass sich, sollte man Ziele in Kiew treffen wollen, diese auch morgen noch treffen lassen.

Ob es eine solche Garantie wirklich gegeben hat? Ich gehe davon aus, und als schlagendes Indiz für diese Annahme steht die Tatsache, dass der Besuch stattgefunden hat.

Was könnte nun aber das mit diesem Besuch verfolgte, politische Ziel gewesen sein?

Ich bin ganz  ehrlich, ich weiß es nicht, und ich kann mir auch nichts vorstellen, was nur einigermaßen einen Sinn ergäbe.

Um die Vision der deutschen Außenministerin zu offenbaren, die EU werde ihre Grenzen bald ausdehnen und bis nach Lugansk reichen, hätte es nicht der Reise nach Kiew bedurft. Das hätte sie, ohne dabei die Wirkung der Worte zu mindern, auch einfach nur ihrem Frisör erzählen können. Lugansk ist, nach russischer Intepretation des Völkerrechts, russisch. Um Russland dazu zu bewegen, Lugansk wieder als Teil der Ukraine anzusehen, bräuchte es entweder einen völkerrechtlichen Vertrag mit russischer Unterschrift, oder einen Krieg, an dessen Ende der Donbas von ukrainischen Truppen erobert und besetzt ist.

Gut, den Krieg haben wir. Die so genannte „Gegenoffensive“ haben wir auch. Sie kommt halt nicht vom Fleck, die Gegenoffensive.

Polen, anfänglich geradezu begeistert dabei, die Ukraine mit schwerem Gerät zu versorgen, hat als erstes EU-Mitglied verkündet, es werde das noch liefern, was schon zugesagt worden ist, danach aber die Waffenhilfe für die Ukraine einstellen und lieber die eigenen Streitkräfte hochrüsten und zur stärksten Landarmee der EU aufbauen zu wollen. Wenig später haben die Ungarn sich dem angeschlossen, weil die Ukraine die ungarische Minderheit in der Ukraine angeblich schlecht behandelt. Deutschland will seine Taurus-Marschflugkörper nicht liefern, sich ansonsten aber weiter als Unterstützer hervortun.

Der Donnerschlag kam allerdings ganz zuletzt aus den USA, wo sich Demokraten und Republikaner darauf geeinigt haben, dass im Übergangshaushalt, mit dem der alljährlich drohende Shutdown diesmal in letzter Minute verhindert wurde, kein einziger Cent für die Ukraine vorgesehen wird. Mag sein, dass die CIA irgendwo noch ein Milliärdchen aus einer schwarzen Kasse hervorkramen kann, aber auch da wird man sich überlegen, ob es nicht eine bessere Verwendung für das schöne Geld geben könnte.

Selenski hängt in der Luft.

Da kommen 27 EU-Außenminister auf Klassenfahrt in Kiew vorbei und schwärmen davon, die Ukraine in die EU aufzunehmen.

Ganz  ehrlich: Ich, an Selenskis Stelle – Gott bewahre! – würde mich fragen, warum Außenminister kommen, und nicht Verteidigungsminister. Noch viel mehr würde ich mich fragen, warum überhaupt Minister kommen und nicht endlich die dringend benötigten Waffen, die modernen Panzer, die modernen Luftabwehrsysteme, die modernen Kampfflugzeuge.

Ich, an Selenskis Stelle, käme mir ziemlich – na ja – halt nicht ernst genommen vor.

Außerdem: Mit 27 Leuten kann man sich nicht mehr vernünftig unterhalten. Mit 27 Leuten beim Tagesausflug kann man keine Pläne schmieden, geschweige denn Geheimnisse teilen. Das sind einfach zu viele. Wenn da jeder zu Wort kommen will, dann geht das nur mit Redezeitbeschränkung wie im Bundestag. Wenn die sich einig wären, dann hätte es genügt, den Kompetentesten auszuwählen und den – mit allen Vollmachten ausgestattet – nach Kiew zu entsenden. Vermutlich wäre es zu hart, gleich von Eifersüchteleien oder Misstrauen zu sprechen, aber dass man sich in der EU nicht unbedingt in allen Angelegenheiten einig ist, das sollte bei der Würdigung des „historischen Ereignisses“ nicht unter den Tisch fallen.

Wie ich’s auch drehe und wende. Ich lande immer wieder bei Geier-Sturzflug: Es wird wohl doch ein Abschiedsbesuch gewesen sein.