Haltung – und Haltungsschäden

Abseitige Gedanken zum Brückentag

Zu den Modewörtern der jüngeren und jüngsten Gegenwart, ich sage bewusst nicht Vergangenheit, sondern überdehne den Gegenwartsbegriff lieber, gehört die „Haltung“. Du musst sie haben – und zeigen, die „Haltung“, und, was das Erstaunliche daran ist: Es gibt nur noch eine. Alle anderen Haltungen sind keine „Haltung“. Ulkig, nicht wahr, wie man einen Begriff besetzen und dabei zersetzen kann.

Eine Analogie: Fäulnisbakterien.
Die besetzen den gesunden Apfel erst – und dann zersetzen sie ihn.

Der niedergelassene Orthopäde kennt die gute, gesunde Haltung aus dem Studium, in seiner Praxis kommt sie selten vor, zumeist nur bei einer seiner Sprechstundenhilfen, ansonsten sieht er nur schmerzgeplagte Wesen, deren gewohnheitsmäßige oder berufsbedingten Fehlhaltungen seinen Lebensunterhalt sichern, sowie den vieler Physiotherapeuten, Schmerzmittefabrikanten und gewohnheitsmäßiger Quacksalber mit ihren rezeptfreien, per Spam-Mail angepriesenen, sagenhaft wirksamen Mittelchen, welche das Beibehalten der Fehlstellung durch vorübergehende Unterdrückung der Schmerzempfindung erleichtern, die Schmerzursache jedoch  unbehandelt lassen, so dass ein „Chroniker“ geschaffen wird, der für den Rest seines  Lebens gewinnbringend  versorgt  werden kann.

Um auf die „Verwesung“ durch Fäulnisbakterien zurückzukommen: Verwesen ist ein Verb, das noch dazu grundsätzlich nur im Passivsatz vorkommt. Nichts verwest aktiv von sich aus. Es geschieht mit dem Verwesenden. Die Verwesung hingegen bezeichnet den Prozess, des Verwesens. Mit der Endung -ung entsteht aus einem Verb regelmäßig ein feminines Substantiv, das die Grundbedeutung des Verbs übernimmt. Es müssen also – und das sei hier der Geschlechtergerechtigkeit halber notiert – schon in der frühen Entstehungsgeschichte der deutschen Hochsprache Feministinnen gleichberechtigt mit am Werk gewesen sein!

Das Verb, dessen Grundbedeutung „die Haltung“ folglich trägt, ist „halten“. Lässt man alle durch Vorsilben mögliche Bedeutungswandlungen weg, denkt also nicht an „anhalten, festhalten, innehalten, aufhalten, abhalten, behalten, einbehalten, erhalten“, usw., bleibt das Verb „halten“ relativ unbestimmt, saft- und kraftlos: Man kann ein Kind an der Hand halten, man kann eine Predigt halten, kann sich aber auch strikt an den Buchstaben des Gesetzes halten, man kann sogar Maß halten, vor allem aber kann man sich selbst für klug und alle anderen für dumm halten.

Versucht man nun, das in diesen Beispielen verwendete Verb „halten“ zur feministischen „Haltung“ zu verwandeln, stellt man fest, dass sich die einzig zulässige Haltung in diesem unserem Lande dieser unserer Tage zuverlässig nur im letzten Beispiel wiederfinden lässt. Ein Kind an der Hand entspricht nicht der feministischen Haltung. Auch die „Predigt-Haltung“ erscheint ebenso als unzulässige Begriffsbildung, wie es zur Gesetzes-Buchstaben-Haltung nur einer ausgeprägten Obrigkeitshörigkeit, aber keiner Haltung bedarf, es sei denn, man gesteht auch Kriechtieren eine „Haltung“ zu. 

Nein, die „Haltung“ von der alle schwätzen, und sich gegenseitig auffordern, sie zu zeigen, vom Vermummten im Schwarzen Block bis zum Stein-des-Anstoßes-meier, die „Haltung“, die von der gesamten Quer- und Queerfront gezeigt wird, entspringt einzig jener an Borniertheit grenzenden Arroganz, Selbstzufriedenheit und Unbelehrbarkeit, wie sie  bei Le Bon im Buche steht:

„Das Auftreten besonderer Charaktereigentümlichkeiten der Masse wird durch verschiedene Ursachen bestimmt. Die erste dieser Ursachen besteht darin, dass der einzelne in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefühl unüberwindlicher Macht erlangt …

(Wir sind mehr. Wir sind die Mehrheit.)

welches ihm gestattet, Trieben zu frönen, die er für sich alleine notwendig gezügelt hätte. Er wird ihnen umso eher nachgeben, als durch die Namenlosigkeit und Unverantwortlichkeit der Masse das Verantwortungsgefühl, das die einzelnen stets zurückhält, völlig verschwindet.“

Ein Massenphänomen, von dem viele annehmen, es sei nur in den USA zu beobachten (gewesen), ist die schauerliche Neigung aufgebrachter Massen, Lynchjustiz zu verüben, bzw. sie, im Bewusstsein, sie sei ein Ausdruck der „Haltung“, bewusst geschehen zu lassen. Lynchjustiz ist jedoch ein Ausdruck jener „unüberwindlichen Macht“ der Menge, die sich gegen zahlenmäßig unterlegene Minderheiten richtet. Wo der  KuKluxKlan sich einzelne Neger, manchmal auch einzelne Negerfreunde vorknöpfte und seine brennenden Kreuze errichtete, wo die Inquisition sich einzelner Ketzer annahm und die Flammen der Scheiterhaufen loderten, wo Rechtsradikale Flüchtlingsunterkünfte anzündeten  und wo Autonome Autos abfackelten, LKWs in die Luft sprengten oder Andersdenke kurzerhand halbtot schlugen, überall da wird „Haltung“ bewiesen. (Der Link führt zur unverdächtigen „Stuttgarter Zeitung“)

Diese einzig zulässige „Haltung“, die zu zeigen und zu beweisen hierzulande jeder aufgerufen ist, um jene, welche sich abgesondert haben (z.B. von der CDU) treffsicher erkennen und verfolgen zu können, ist so eine Art inverser Judenstern. Sie ist das Bekenntnis, zu jenen zu gehören, die Recht haben, weil sie in der Mehrheit sind.

Diese Mehrheit ist allerdings keine demokratische Mehrheit. Diese Mehrheit weiß mit dem Begriff Demokratie weniger anzufangen als ein Hausbock mit dem Begriff Dachstuhl. Beide wüten blind – mit stark beschränktem Einsichtsvermögen – und zerstören dabei die Ordnung, die ihr Hervorkommen erst ermöglicht hat.

Eine demokratische Mehrheit würde die Minderheit nicht entrechten, nicht verbal entmenschlichen, nicht physisch angreifen. Diese Mehrheit ist von der Mehrheit eines Lynchmobs auf der Suche nach Opfern kaum noch zu unterscheiden, und wo sich die Führungsfiguren der politischen Parteien und selbst Regierungsmitglieder von dieser Mehrheit „tragen“ lassen, bildet sich etwas heraus, was ich nur als „Staatsanarchismus“ bezeichnen kann.

Ein Indiz für die real existierende Staatsanarchie ist der „Shitstorm“ – und der nachfolgende „Haltungsbeweis“ des vom Shitstorm Getroffenen. Was hat ein kurzer, noch dazu intelligent und amüsant gemachter Werbespot von Volkswagen mit Rassismus zu tun? Genau so viel, wie die „Haltungsmächte“ hineininterpretieren. Und hat einmal  jemand in einem Tweet dazu aufgerufen, Haltung zu zeigen, und auf VW einzuprügeln, findet sich die kopflose Masse sofort bereit, die meisten davon ohne den Spot auch nur gesehen zu haben, Haltung zu zeigen, weil sie zumindest unbewusst fürchten, ihr „Gütesiegel“ zu den Rechtgläubigen zu gehören, verlieren zu können, wenn sie nicht eifernd mittun und helfen das Opfer anzugreifen.

Nun ist das mit der Haltung aber so eine Sache. Der kollektive Zwang, sich haltungsskonform zu verhalten, zwingt inzwischen selbst die Lenker eines so gigantischen Unternehmensimperiums wie VW, statt ihrerseits „Haltung“ (eine andere, eigene)  zu zeigen, vor der Macht der Einheits-Haltung einzuknicken und den Gang nach Canossa anzutreten, um Verzeihung und Gnade zu winseln, weil der Staatsanarchismus und sein Wüten ebensowenig aufgehalten, wie zur Verantwortung gezogen werden können.

„Haltung“ verkündet stolz und offen, wie zu Zeiten des Dritten Reiches nicht mehr: „Und willst Du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich Dir den Schädel ein.“

Auch hierzu ein Link aus dem unverdächtigen Berliner „Tagesspiegel„, der m.E. schon vollkommen ausreicht, um das vorangestellte Zitat zu belegen, obwohl dieser Artikel nur die Spitze der Spitze eines Eisbergs beleuchtet, der längst über reine Agitation und Propaganda hinaus und ins Reich der hemmungslosen – und nebenbei auch kriminellen – Gewalt hineingewachsen ist.

Als Martin Luther vor rund 500 Jahren in Augsburg drei Tage lang von dem aus Rom angereisten Kardinal Cajetan verhört und zum Widerruf seiner Thesen aufgefordert wurde, bewies Luther das, was ich früher einmal unter „Haltung“ verstanden habe. Er stand zu seinen Aussagen, Anklagen und Reformationsforderungen. Drei Jahre später, 1521, war es nicht ein aus Rom gesandter Kardinal, sondern der Kaiser, Karl V., höchstselbst, der Luther zum Widerruf aufforderte, damals sollen die Worte gefallen sein: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen!“

Der Gegensatz zwischen Luthers Haltung, der 1521 alleine seinem obersten Herrscher gegenüberstand, und sich nicht verbiegen ließ, und dem was heute als „Massen-Haltung“ daherkommt, könnte kaum größer sein. (Der Gleichklang von“Massen-Haltung“ und „Massentierhaltung“ ist beim Schreiben übrigens ganz von alleine entstanden. Wäre schade, das noch umzuformulieren.)

Vermutlich entspricht der Hinweis darauf aber bereits den Kriterien für Hass und Hetze, wie damals Luthers Thesen von der fast allmächtigen katholischen Kirche als Hass und Hetze, als Ketzerei, angesehen (und insgeheim wohl auch verflucht) wurden. Wer dem Vatikan so unchristliches Gebaren nicht unterstellen mag, dem sei ein – durch die Brille der WELT gesehener – Blick ins vatikanische Archiv anempfohlen. 

Es geht im Grunde weder gegen rechts im Allgemeinen, noch  gegen die AfD im Speziellen, mit der AfD könnte man durchaus in demokratischer Manier offen diskutieren, ihre Auffassungen anhören, und Schnittmengen  suchen. Doch die AfD stört, weil sie unter Umständen Lücken in jene noch instabile „Haltungsgemeinschaft“ reißen könnte, die Kaiserin Angela und Papst Habeck hinter sich versammelt haben, um im Anschein der Unfehlbarkeit das Begonnene – unter dem Jubel einer haltungsvereinten Masse – zu Ende führen zu können.

Ja. Es ist Staatsanarchie.


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