Dilettantisierung

PaD 31 /2021 – Hier auch als PDF verfügbar: PaD 31 2021Dilettantisierung

 

Die große Spruchblase „Digitalisierung“

Was in keinem Wahlprogramm, bei keiner Sonntagsrede fehlen darf, ist die „Forderung nach der Förderung der Digitalisierung“.

Man sollte allerdings, um sich die Protagonisten der so genannten „Digitalisierung“ nicht zum Todfeind zu machen, niemals fragen, was damit gemeint sei. Mag sein, dass sie noch Vokabeln wie Breibandausbau, schnelles Internet und autonomes Fahren absondern, manche sogar noch die „Smart City“ bemühen, aber dann ist Schluss.

Digitalisierung als Worthülse und Selbstzweck, rhetorische Allzweckwaffe und Fortschrittlichkeits-Signal, das  man sich wie eine Anstecknadel ans Revers heftet, um irgendwie mit dabei zu sein, bei einer Bewegung, von der kein dort Mitschwimmender weiß, was mit „Digitalisierung“ erreicht werden soll, außer, dass der Rückstand gegenüber der internationalen Konkurrenz aufgeholt werden soll, was aber positiv als „die Führungsrolle übernehmen“ ausgedrückt wird.

Ich wünschte mir, dass Journalisten, jedesmal wenn ein Politiker die „Digitalisierung“ wie einen Dauerlutscher in den Mund nimmt, einfach einmal nachfragen. Gar nicht nach den technischen Details, davon verstehen ja weder die Politiker noch die Journalisten genug, sondern dass sie nachfragen, was denn mit der Digitalisierung erreicht werden soll – und vor allem, warum. Nachdem dann der Hundertste geantwortet hätte:

„Ja, wir brauchen die Digitalisierung doch für, ähm, also, bringen Sie mich nicht durcheinander. Hier und heute besteht doch Konsens unter allen Demokraten. Wir brauchen die Digitalisierung wegen der Digitalisierung. Wo denken Sie denn hin?“,

könnte es sein, dass sich der Hundertunderste eventuell selbst diese Frage stellt und sich auf den Weg macht, ins „unbekannte Land“.

Digitalsierung bedeutet ja zunächst einmal nichts anderes, als dass man analoge Informationen, die den menschlichen Sinnen ohne technische Hilfsmittel zugänglich sind, mittels technischer Verfahren in einen binären (lateinisch) oder digitalen (ebenfalls lateinisch) Code überträgt, der dann mittels technischer Verfahren den menschlichen Sinnen wieder zugänglich gemacht werden kann.

Zwischen dem Konzertsaal und der CD liegt eine Strecke der Digitalisierung. Das Orchester erzeugt analoge Klänge. Die Mikrofone wandeln die analogen Klänge in analoge elektrische Ströme um. Codecs übernehmen es den permanenten Verlauf des von den Mikrofonen angelieferten Stromes in winzige Zeit-Häppchen zu zerteilen, diese in digitale Informationen umzuwandeln und auf einem digitalen Datenträger zu speichern, wobei gleichzeitig eine starke Kompression, also eine Informationsunterschlagung erfolgt, die alles weglässt, was  – im Falle der Audio-Aufnahme – vom menschlichen Gehör nicht als fehlend wahrgenommen wird.

Das ist Digitalisierung, und um das Digitalisierte wieder wahrnehmbar zu machen, wird der Rückweg vom digitalen Speichermedium über Codec und Lautsprecher durchlaufen.

Der Vorteil für den Musikliebhaber: Man muss nicht ein ganzes Orchester samt Dirigent, Notenblättern und Instrumenten mit sich herumschleppen, wenn man die Fünfte von Beethoven hören will. Eine CD oder ein USB-Stick und ein Wiedergabegerät genügen vollauf.

Der Vorteil für Komponisten, Musikanten und Konzertveranstalter: Unabhängig von der Anwesenheit im Konzersaal zum Zeitpunkt der Aufnahme kann das musikalische Werk Millionen von Menschen immer wieder verkauft werden, was den Arbeitsaufwand auf der Herstellerseite massiv verringert und den Ertrag aus den Verkäufen der Tonträger ebenso massiv in die Höhe treibt.

Nun glaube bitte niemand, Digitalisierung im Audio-Bereich sei etwas Neues. Die Lochstreifen der Leierkastenmänner, die Stachelwalzen der Spieluhren und die Metallplatten der Spieldosen arbeiteten nach dem gleichen Prinzip. Loch – kein Loch, Ton – kein Ton, und dies, je nach Qualität, auf vielen parallelen Tonspuren.

 

Ich besitze selbst eine solche Spieldose (nicht die hier abgebildete) und etwa zwei Dutzend dazu kompatible digitale Tonträger.

Im Prinzip wäre damit die Digitalisierung von Musik schon vollendet gewesen. Alles was danach kam, waren Verbesserungen, Verfeinerungen und Volumensverkleinerungen, die auf Basis jeweils neu entwickelter Technologien möglich wurden, was wiederum geholfen hat, die Herstellungskosten, bei extremer Verbesserung der Qualität massiv zu senken und sich damit erst das zahlungswillige Millionen-, bzw. Milliardenpublikum zu erschließen, das aus der Erfindung ein lohnendes Geschäft werden ließ.

Was also soll mit Digitalisierung erreicht werden?

Digitalisierung ist ein Mittel, um Kosten zu senken. Digitalisierung kann Kosten so weit senken, dass „Dinge“ getan werden können, die ohne Digitalisierung viel zu teuer oder schlicht unmöglich wären. Digitalisierung ist damit ein Mittel, aber nicht das Einzige, um das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag positiv zu beeinflussen.

Ein Beispiel, für die „Dinge“ die mit Hilfe der Digitalisierung überhaupt erst möglich wurden, ist die Tatsache, dass die in digitaler Form vorliegenden Daten auf einfache Weise zu manipulieren/zu bearbeiten sind. Gab es früher in jedem kleinen Fotolabor den Arbeitsplatz des Retouscheurs, der mit haarfeinem Pinsel, Engelsgeduld und größter Präzision auf dem Fotonegativ ein Auge erscheinen ließ, wo im Augenblick der Aufnahme das geschlossen Lid erfasst wurde, gab es Zeiten, in denen die originalen Filmrollen von schwarz-weiß Filmen von Hand, Bild für Bild, mühsam nachcoloriert wurden, sind heute mit Bildbearbeitungsprogrammen wahre Wunder der Veränderung möglich.

Es wäre verwegen, zu behaupten, dass mit dem heutigen Stand der Kunst bereits alle Möglichkeiten, analoge Informationen in digitale Informationen umzuwandeln, erschöpft seien, aber es kann durchaus behauptet werden, dass für alle momentan vorstellbaren Digitalisierungsaufgaben die notwendigen Werkzeuge in (mehr als) ausreichender Qualität verfügbar sind. Wer immer will, kann sie auch nutzen. Was fordern diese Leute also, wenn Sie Digitalisierung fordern?

Woran heute gearbeitet wird, das ist die Mammutaufgabe, die schier unbegrenzt wachsende Menge digitaler Informationen zu beherrschen und einen Nutzen daraus zu ziehen.

  • Individualisierte Werbung ist eine Anwendung daraus, die das Kräfteverhältnis zwischen den Anbietern untereinander und zwischen Anbietern und Konsumenten erheblich verändert hat.
  • Die ortsgenaue Wettervorhersage für mehrere Stunden, die regionale Vorhersage für bis zu vier Tagen, sind Erfolge, die aus der maschinellen Auswertung von digital – und in Echtzeit – verfügbarer  Informationen aus tausenden von Wetterstationen im Verbund mit den Daten von Wettersatelliten und Wetterballons erst entstehen können.
  • Das Navigationssystem im Auto, das weiß, wo sich das Auto befindet, welche Straßen zum Ziel führen, auch wie die aktuelle Verkehrslage sich entwickelt und aus alledem  entscheidet, welche Route dem Fahrer empfohlen wird, bzw., welche Route das bereits autonom navigierende Fahrzeug einschlagen soll, gehört ebenfalls zu den Anwendungsmöglichkeiten die auf Basis digital vorliegender Informationen arbeiten.

Aber weder individualisierte Werbung, noch Wettervorhersage oder die Routenempfehlung des Navis sind „Digitalisierung“.

Digitalisierung ist (oft, aber nicht immer) die notwendige Vorstufe für nützliche Anwendungen.

Der Nutzen der Anwendungen

Jeder Unternehmer wird sagen, dass eine Anwendung dann einen Nutzen mit sich bringt, wenn der Unternehmensertrag damit gesteigert werden kann. Die Steigerung des Unternehmensertrags gibt es in zwei Ausprägungen: Umsatzsteigerung bei unterproportionalem Kostenanstieg, oder, Kostensenkung bei in etwa gleich bleibendem oder wachsendem Umsatz.

Jeder Politiker wird sich denken (sagen wird er es eher nicht), dass eine Anwendung dann einen Nutzen mit sich bringt, wenn sich seine Anstrengungen dafür  anschließend in Wählerstimmen niederschlagen oder wenn sie ihm den Aufstieg in der Hackordnung der Partei ermöglichen. Kein Politiker wird sich für Anwendungen einsetzen, die ihn Wählerstimmen kosten, ohne zum Ausgleich einen Zugewinn an Macht hervorzubringen, kein Politiker wird sich für Anwendungen einsetzen, die ihn zwar in der Wählergunst steigen lassen, wenn er zugleich Gefahr läuft, den sicher geglaubten Listenplatz zu verlieren.

Bei der Beurteilung des Nutzens einer Anwendung, wird der Unternehmer das Wohl seiner Mitarbeiter, Zulieferer und Kunden, dem eigenen Interesse am Gewinnwachstum unterordnen. Der Politiker wird die Kosten der Anwendung, das Wohl der davon berührten Staatsbediensteten und eventuelle negative Folgen für die Bevölkerung so lange seinen eigenen Karriereplänen unterordnen, wie diese davon nicht gestört werden.

Was im Bund und in den Ländern stets große Aufmerksamkeit – und entsprechende finanzielle Mittel – von der Politik erhalten hat, waren ganz überwiegend Anwendungen, die es ermöglichten, die Kontrolle, um nicht zu sagen: „die Überwachung“, der Bevölkerung zu optimieren. Was sind nicht alles für „Dateien“ angelegt worden, bei denen es sich natürlich um „Datenbanken“ handelt, um den „Terrorismus“ zu bekämpfen, wie sehr hat man sich darum bemüht, den Zugang zur elektronischen Kommunikation der Bürger für die Dienste und die Polizei zu öffnen. Wie müht man sich nicht ab, mit elektronischer Patientenakte, dem digitalen Impfpass, dem biometrischen Personalausweis und der neuen, zusätzlich zu bestehenden Steuernummern eingeführten, individuellen und lebenslänglichen Steuernummer, den gläsernen Bürger von Matt- in Klarglas umzuwandeln. Den Sozialen Netzwerken verlangt man Algorithmen ab, die automatisch verdächtige Inhalte erkennen, um sie entweder zu löschen, oder per Upload-Filter gar nicht erst zuzulassen.

Aber selbst bringt man halt nur wenig zustande. Ein Wildwuchs von Insellösungen, zwischen denen immer wieder analoge Schnittstellen zu bedienen sind, beherrscht die deutschen Amtsstuben. In den Fluren der Gerichte und Staatsanwaltschaften sind immer noch die Hauspostboten mit dem Postwägelchen unterwegs, von Tür zu Tür, um Akten – wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten – von einem Platz zum nächsten zu speditieren, und im Zweifelsfall weiß niemand, wo und bei wem sich eine gesuchte Akte gerade befindet.

Nie etwas gehört von High-Speed-Scannern, direkt in der Poststelle, von Work-Flow-Systemen mit Aufgabenverteilung und Erledigungs-Überwachung, vom weitgehend papierlosen Büro? So etwas ist in der freien Wirtschaft seit 30 Jahren anzutreffen, während in den Ämtern und Behörden weiterhin das Papier vergilbt.

Zugegeben, diese Darstellung ist übertrieben. Es gibt ja Ansätze. In den Finanzämtern sind die Computer zuständig dafür, festzustellen, ob eine Einkommensteuer-Erklärung plausibel ist. Erst wenn die Computer darüber ins Zweifeln geraten, bekommt der Finanzbeamte die elektronisch übermittelten ELSTER-Formulare zu Gesicht. Das Handelsregister kann vom PC aus über das Internet eingesehen werden, und in manchen Gemeinden können manche Angelegenheiten der Bürger per Internet beantragt werden. Aber bis ein neuer Personalausweis ausgestellt ist, bis die Gebühr an der Kasse der Gemeinde einbezahlt und die handschriftlich ausgestellte Quittung unterschrieben ist, vergehen halt immer noch Wochen. Bis ein Bauantrag die Baubehörde mit allen Stempeln und Unterschriften verlassen kann, vergehen Monate, auch mal mehr als zwölf. 

Aber solange sich Politiker als fortschrittlich darstellen können, wenn sie nur „Digitalisierung“ richtig aussprechen und damit ebenso durchkommen, wie der Wirtschaftsmigrant, wenn es ihm gelingt, „Asyl“ zu sagen, so lange wird sich nichts ändern. So lange wird Deutschland weiterhin der Entwicklung der Informationstechnologie hinterher hinken.

Sollte also in den nächsten Tagen ein Politiker bei Ihnen an der Haustüre klopfen, um Ihnen einen Werbekugelschreiber und die Kurzfassung seines Parteiprogramms zu überreichen, lassen Sie ihn nicht wieder ziehen, bevor er erklärt hat, für welche konkreten IT-Vorhaben er sich einsetzt, wenn er „Digitalisierung“ sagt.  Machen Sie an den Info-Ständen der Parteien halt, die demnächst wieder die Markplätze okkupieren, und stellen Sie Ihre Frage nach den konkreten Vorhaben, nach dem erwarteten Nutzen, nach dem voraussichtlichen Aufwand und nach dem möglichen Einführungstermin.

Selbst wenn Sie eine Antwort bekommen, fragen Sie nach, wie das konkret aussehen wird, welchen Vorteil es für die Bürger haben wird. Fragen Sie auch konkret nach den bestehenden Plänen für die Optimierung des Home-Schoolings, nach den Plänen für die Weiterbildung der Lehrer in Bezug auf Digitalkompetenz.

Lassen Sie sich nicht mit dem gedruckten Parteiprogramm abspeisen. Lassen Sie den Wahlkämpfer die entsprechende Stelle im Programm finden, sie vorlesen, und dann – auf die Frage hin: „Und was heißt das konkret?“ – zu interpretieren.

Schreiben Sie Ihre diesbezüglichen Erlebnisse auf und schicken Sie diese an die Leserbriefredaktion Ihrer Lokalzeitung. Fordern Sie die Redaktion „Politik“ auf, sich der Sache anzunehmen.

Ich glaube, das könnte Spaß machen.

Aber lassen Sie von Ihrem Opfer ab, bevor eine persönliche Feindschaft daraus wird. Seien Sie versichert, dass Sie dennoch nie wieder von einem Wahlkämpfer der gleichen Partei aufgesucht werden.