Silvester. Ein Traum.
Die Sprinter stehen in den Startblöcken. Da muss auch die Mentalität stimmen. Da muss alles ausgelöscht sein, vor allem die Niederlagen der letzten Saison. Das Gefühl der Kraft, die Gewissheit, siegen zu können, muss vom Kopf her den Körper durchdringen. Dann winkt die Medaille.
Nichts von alledem macht sich bei diesem Jahreswechsel bemerkbar.
Kein Gedanke daran, dass wir vor einer Herausforderung stehen, die es zu meistern gilt. Die Jahre fließen ineinander über, haben für sich keinen eigenen Wert mehr. Die Pläne der Wirtschaft, soweit sie durch Befragungen von Instituten oder durch eigene Wortmeldungen öffentlich werden, sind darauf bedacht, irgendwie mit blauen Augen durch die Rezession zu kommen. Die Pläne der Menschen nicht anders. Darauf bedacht, irgendwie mit blauen Augen durch die Inflation zu kommen, und dabei weder anzuecken noch aufzufallen.
Die Sprinter haben die Startblöcke verlassen, mischen sich unters Publikum, und wenn um Mitternacht der Schuss ertönt, fällt ihnen vermutlich ein dicker Stein vom Herzen, nicht antreten zu müssen. Es ist der gleiche Fluch, der auch auf den Fußballern der Nationalmannschaft liegt, der Fluch, der da lautet:
„Ihr werdet nicht siegen können, so lange ihr euch dieser Herrschaft beugt! Doch wer aufbegehrt, wird für immer ausgeschlossen und disqualifiziert werden.“
2022 war das Jahr der blasierten Herrschaft. Die Saat, die schon vor 20 Jahren gelegt wurde, ist aufgegangen und hat ihre giftigen Früchte über das ganze Land verstreut. Damit hat sie ihre Schuldigkeit getan und wird verdorren und zu Staub zerfallen.
2023 wird ein Jahr der Stiere.
Die Stiere werden sich Bahn brechen durch das Gestrüpp, das unter der blasierten Herrschaft wild wuchernd das Land bedeckte und alles Leben erstickte. Sie werden nicht säen, die Stiere, und auch nicht zu ernten vermögen, doch sie werden das Land wie mit einem feurigen Pflug umbrechen und bereit machen für eine neue Aussaat. Folgt den Spuren der Stiere und kultiviert die Stätten der Zerstörung, die sie hinterlassen. Kein Stier wird grübelnd verharren, sich in der Frage verstricken, ob er nicht doch eine Kuh oder ein Ochs im falschen Körper sei. Kein Leitstier wird seine Herde zum Jahreswechsel stammelnd mit „Liebe Rindviecher_innen“ ansprechen. Kein Stier wird sich beim Flatulieren Gedanken über Methan und Treibhausgas und Erderwärmung machen. Der Stier ist der aufs Äußerste pragmatische Utilitarist, der seinen Nutzen sucht und das Schädliche nicht nur abwendet, sondern zu vernichten trachtet.
Die Stiere werden mit ihren dicken Schädeln durch Wände gehen, wie das Messer durch die Butter. Wer sich ihnen in den Weg stellt, wird an ihren Hörnern hängend eine Weile mitgeschleift und dann abgeschüttelt. Sie gehen unbeirrbar ihren Weg, und obwohl es ein Irrweg ist, an dessen Ende sie sich erschöpft die Wunden lecken werden, machen sie damit tatsächlich die Wege frei in einem Ausmaß, wie man es sich bei den Werbeagenturen der Volksbanken-Raiffeisenbanken nie hätte träumen lassen.
Die Zeit des Hegens und Pflegens des „Inneren Kindes“ ist vorüber. All das Kindische, Traumvergessene, Scheinwelten Erschaffende wird in der Konfrontation mit der Realität entweder schlagartig erwachsen und sich seiner Verantwortung bewusst oder es muss jämmerlich untergehen.
Das Jahr der Stiere wird ein hartes Jahr. Doch es ist unvermeidlich und notwendig. Wer dazu die richtige Einstellung findet, dem wird Segen daraus erwachsen.
Das wünsche ich Ihnen für 2023:
Gesundheit, Erkenntnis, Kraft und Lebensmut – auf dass Sie an diesem Segen teilhaben können.
Egon W. Kreutzer