Den Kopf frei machen

Mir ist gestern Abend, gegen halb elf, als ich auf der Terrasse die letzte Zigarette vor dem Schlafengehen rauchte, ein Steinmarder begegnet.

Zuerst meinte ich, es sei Nachbars Katze. Doch als der Marder mehr ins Licht der Straßenlaterne huschte, war er ganz deutlich zu erkennen. Ein schönes Tier. Der dreieckige Kopf, der weiße Brustfleck, ein langer buschiger Schwanz. Harmonische Bewegungen, dazwischen ein Innehalten, Umschauen, Sichern.

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen lebendigen Steinmarder in Freiheit gesehen habe.

Ich dachte zurück an meinen A3, der – an meinem früheren Wohnort, wo er im Hof geparkt war – einmal so intensiven Besuch von einem Marder erhalten hatte, dass sich ein relativ teurer Werkstattbesuch nicht vermeiden ließ. Ich erinnerte mich auch an den Hermelin, der mir vor zwei Jahren im Winter im Garten begegnet war –  und wie das manchmal so ist, aus der Beobachtung erwuchs eine komtemplative Stimmung mit tausend Bildern und Gedanken, die sich, immer um den Steinmarder kreisend, der inzwischen längst wieder im Dunkel verschwunden war, auf den Unterschied zwischen Anpassung und Eigensinn, zwischen Symbiose und Gegnerschaft, und letztlich zwischen der Natur und den Menschen entwickelt hat.

Als ich nach Elsendorf kam, bezog ich das letzte Anwesen am Ortsrand, war am höchsten oben am Hügel, der „Pandurenberg“ genannt wird, und hatte nur zwei Nachbarn. Zehn Jahre später ist die einst leerstehende Fertighausfabrik von OKAL, ganz unten am Hügel, wieder genutzt vom Automobilzulieferer Magna, der darin von hunderten von Robotern Autotüren für BMW und Audi zusammenschweißen lässt. Ein paar hundert Meter weiter hat sich ein Hopfengarten in eine gigantische Lagerhalle verwandelt, in welcher Hopfen aus der ganzen Hallertau von der Ernte bis zum Versand klimatisiert gelagert wird. Eine Autowerkstatt ist zwischen beiden, ein Stück weit den Hügel hinauf gebaut worden – und wo vorher verwilderte Bauplätze neben und oberhalb meines Grundstücks zu besichtigen waren, gibt es jetzt fünf Neubauten – und für den sechsten Neubau wurde gerade die Baugrube abgesteckt.

Der Marder, dessen Vorfahren vermutlich den Hügel noch vollkommen ungestört besiedelt hatten, streift immer noch da herum. Überhaupt sind Marder so genannte „Kulturfolger“, wie auch die Brennessel oder die Spatzen. Schwalben bauen ihre Nester unterm Dach an Hauswände, überall findet sich so etwas wie „Anpassung“. Dazu gehören auch die Wildschweine, die in Berlin durch die Parks und auch durch die Friedhöfe ziehen, die Stadtfüchse, nicht zuletzt die Turmfalken, ja auch der Weißstorch, der jetzt wieder überall auf alten Schornsteinen oder extra für ihn hergerichteten Nistplätzen seine Jungen großzieht, sie alle haben gelernt, sich auf Veränderungen einzustellen, das Beste daraus zu machen, und sich – oft sogar zum Vorteil – auf die Veränderungen eingestellt.

Aus einem alten Yoga-Buch erinnere ich die Geschichte vom Meister, der seinem Schüler im Winter zwei Bäume zeigt. Eine Tanne, ein immergrüner Nadelbaum, und daneben eine unbelaubte, knorrige alte Eiche, deren Hauptast unter der Schneelast abgebrochen ist. Die Lehre daraus: Die Tanne gibt nach, wenn die Schneelast zu groß wird, die Äste senken sich, bis der Schnee abrutscht. Die Eiche hingegen ist stark, unbeugsam, und sammelt die Last so lange es geht. Aber es geht eben nur bis zu dem Punkt, an dem die Last zum Bruch führt.

Die Menschheit hat sich über Jahrtausende verhalten wie die Tanne, wie der Marder, wie die Brennesseln und die Spatzen. Doch mit der Entwicklung der Technik, mit der Erschließung von Energieträgern, hat sie sich aufgemacht, zur Eiche zu werden. Stark fühlt sie sich, glaubt der Natur aus eigener Kraft trotzen zu können. Wälder wurden gerodet, Sümpfe trockengelegt, Tiere wurden domestiziert, Flüsse begradigt, die Meere eingedeicht und Land aus dem Meer gewonnen. Endlich gelang es Organe von Toten für Lebende weiter nutzbar zu machen, Atome zu spalten, Lebewesen genetisch zu verändern und Waffen von ungeheurer Vernichtungskraft zu entwickeln, so dass man sich bereit fühlt, Asteroiden, die auf die Erde zurasen, rechtzeitig abzulenken um einen Einschlag zu verhindern.

Die Last auf den starken Ästen hat extrem zugenommen. Die Einsicht, so manche Wunde, die man aufgerissen hat, im eigenen Interesse wieder heilen zu müssen, breitet sich aus, doch ungeachtet dessen beginnt man immer neue Kriege, aus dem Dünkel heraus, groß und stark zu sein und sich eben nicht anpassen zu müssen, sondern jeden Gegner besiegen zu können.

Nun versuchen wir – wir, diejenigen, die es vorantreiben, und wir, diejenigen, die es nicht verhindern – die Sonne zu besiegen, mit dem wahnwitzigen Ziel, die Temperatur der Atmosphäre konstant zu halten, anstatt sich mit ihren seit Jahrmillionen immer wieder in Wellen auftretenden Schwankungen zu arrangieren. Doch weil eine dunkle Ahnung darauf hindeutet, dass die Sonne nicht besiegt werden kann, bekämpfen wir, wir, diejenigen, die es vorantreiben und wir, diejenigen die nicht dagegen einschreiten, die eigene Atmosphäre, von der wir in grenzenloser Selbstüberschätzung annehmen, wir hätten sie gemacht, nur wir könnten sie nach  unseren Wünschen modifizieren.

Damit machen wir uns die wachsende Last auf unseren schon überlasteten Ästen selbst. Wir schnüren uns selbst bis zur Selbstverstümmelung ein, weil wir glauben, die Ressourcen, die wir fürs Leben brauchen, in den Kampf gegen die Atmosphäre einsetzen zu müssen, wir saugen in einer ungeheuren Kraftanstrengung die letzten Reserven aus den Wurzeln, um sie in diesem Krieg zu verpulvern, und entziehen uns damit die Lebensenergie, die wir für den Austrieb im nächsten Frühling dringend bräuchten.

Nun hat das Bundesverfassungsgericht beschlossen, dass für die nächsten dreißig Jahre konkret festzulegen ist, mit welchen Mitteln dieser Krieg bis zum Endsieg, zur Not auch wieder mit einer Art Landsturm und Flakhelfern, mit Blockwarten und Kriegsgerichtsverfahren, weiter geführt werden soll, weil die Zweige an den Ästen glauben, nur wenn die Äste rechtzeitig brechen, hätten sie noch eine Chance. Dass sie selbst an den Ästen hängen und mit diesen abbrechen und untergehen werden, dafür reicht die Einsicht nicht.

Der Marder war lange weg, die Zigarette ausgedrückt, als ich den Gedankenstrom abgeschnitten und mich ins Bett gelegt habe.

Es wird schon nicht so schlimm kommen, dachte ich mir, und 2050 lebe ich sowieso nicht mehr. Irgendwie hat es die Menschheit immer noch geschafft, ihre Irrtümer zu korrigieren, und wenn jetzt die Sonne ein bisschen nachgibt, was ernsthafte Wissenschaftler seit geraumer Zeit vorhersagen, und es von alleine wieder etwas kühler wird, dann werden sie es sich als Sieg auf die Fahnen heften, und wenn es dann noch kälter wird, weil halt das Maunder Minimum keine singuläre Erscheinung war, dann werden sie wie die Verrückten fossile Energieträger verbrennen, um den CO2-Gehalt der Atmosphäre zu erhöhen …