Versuch einer Antwort auf Mersmanns Frage nach der neuen Ordnung

Lieber Gerhard Mersmann,

Ihren heutigen Artikel, „Kriege, Krisen und die Zukunft„, habe ich mit Interesse gelesen. Zum Schluss formulieren Sie darin diese Aufforderung:

„Es wird endlich Zeit, konstruktiv zu werden und sich damit zu befassen,
wie eine bessere, den Bedürfnissen und Umständen entsprechende Ordnung
aussehen soll.“

Es wäre nützlich, zunächst einmal die alte, die bestehende Ordnung zu beschreiben, um feststellen zu können, wo die Schwächen dieser Ordnung liegen. Sie beziehen Ihre Kritik an der bestehenden Ordnung auf Europa und beziehen dabei durchaus jene Staaten mit ein, die nicht der EU angehören. Sie zählen die vielen Krisen auf, die unter der bestehenden Ordnung entstehen konnten und mit der bestehenden Ordnung nur unzureichend, vielleicht auch gar nicht gelöst werden können.

Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob es, als sie errichtet wurde, Zweck und Ziel der bestehenden Ordnung war, jegliche Art von Krisen zu verhindern. Schaut man näher hin, lassen sich, gleich mehrere, ineinander verzahnte, jedoch nicht widerspruchsfreie Ordnungsrahmen identifizieren. Da ist einmal, sehr alt und sehr weit oben, glücklicherweise selten benötigt, das Völkerrecht. Dem überlagert die UNO, mit ihrer Charta der Vereinten Nationen und der Deklaration der Menschenrechte. Beide haben zum Ziel, den Frieden unter den Völkern zu fördern, und beide regeln, wie man sich im Kriege regelkonform zu verhalten habe. Diese Ordnungsrahmen gelten für die ganze Welt. Für den Großteil der Welt gilt als großer Ordnungsrahmen das kapitalistische Wirtschaftssystem, das auf Ebene der Volkswirtschaften seine gültige Ausformung durch nationale Rechtssetzung erhält, soweit die Regeln der Welthandelsorganisation, des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank dies  zulassen. Für einen kleineren, vollständig ins kapitalistische Wirtschaftssystem eingebetteten Teil der Welt, wurde mit der NATO ein Ordnungsrahmen geschaffen, der die militärischen Fähigkeiten der Mitglieder bündelt und gegenseitigen Beistand gewährt, sollte ein Mitglied von fremden Mächten angegriffen werden. Der nächste Ordnungsrahmen, der allerdings nur einen Teil Europas umfasst, ist das Vertragswerk der EU, innerhalb dessen wiederum der Rahmen der Währungsunion abgesteckt ist. Erst dann kommen die einzelnen Mitgliedsländer von EU, bzw. Euro-Raum, mit ihren nationalen Verfassungen und Rechtssetzungen, die letztlich bis auf die Ebene von Kommunen hinab die Freiräume für Entscheidungen nach dem Subsidiaritätsprinzip festlegen. Am Ende steht der Mensch, der in vielen Situationen vor Verbotsschildern steht und, wo nicht verboten ist, was er beabsichtig, es ihm zumindest obliegt, seine geplanten Handlungen mit einem Antrag auf Genehmigung vorzustellen, oder einer Anzeigepflicht nachzukommen.

Soweit die schöne Theorie

In der Praxis sind sämtliche Ordnungsrahmen obsolet. Denn auf dieser Erde gilt noch immer ein stärkeres, archaisches und auch mit stärksten Ketten nicht zu bändigendes Prinzip: Das Recht des Stärkeren.

Bei den ihn Ihrem Aufsatz angeführten Krisen handelt es sich in den Fällen „Bankenkrise“, „Weltfinanzkrise“ und „Schuldenkrise“ um ein Versagen des Ordnungsrahmens Kapitalismus. Was aber ist der Kapitalismus? Der Kapitalismus ist im Grunde nichts anderes als ein hinter nie eingehaltenen Heilsversprechen unbarmherzig wütendes Faustrecht. Alle drei genannten Krisen waren nichts als Raubzüge des Großkapitals, bei denen diejenigen, die zu schwach waren, sich erfolgreich zu wehren, vorsätzlich ausgeplündert wurden.

In Ihren Beispielen: „Terroranschläge“, „Kriege“ und „kriegsbedingte Migration“, kann die Schwäche der UNO Krieg und Krise begünstigt haben. Doch auch hier haben ohne UN-Mandat ausgelöste, völkerrechtswidrige Angriffskriege gezeigt, dass die Stärkeren – immer wieder USA und Großbritannien, aber auch Deutschland war schon dabei – sich das Recht nehmen, nicht nur ihre Rohstoffversorgung zu sichern, sondern auch zugleich eine geostrategisch wichtige Position nach der anderen einzunehmen.

Im „Brexit“ schließlich (den ich nicht als Krise sondern als die zulässige, ordnungs- und fristgemäße Kündigung eines Vertrages ansehe), war es der Starrheit der EU-Verträge und der Sturheit ihrer Interpreten zu verdanken, dass die Briten sich verabschiedeten, während die vermeintlich Stärkeren ausdauernd, aber ergebnislos, versuchten, den Briten Steine in den Weg zu legen.

Das Auftreten der „Corona-Pandemie“ in Europa liegt ursächlich außerhalb menschlicher Ordnungsmöglichkeiten. Einzig die Organisation der Bewältigung der Pandemie hätte unter Umständen mit einer besseren „Ordnung“ optimiert werden können, denn die Aktivitäten der Verantwortlichen glichen und gleichen doch letztlich auch einem Faustkampf um Ruhm und Ehre und Aufstiegschancen, mit dem Ziel, sich gegen die Schwächeren durchzusetzen.

Zbigniew Brzezinski, der die Erde als ein großes Schachspiel betrachtete und dies in seinem Buch „The Grand Chessboard“ strategisch ausleuchtete, war (vielleicht) von dem Gedanken beseelt, wenn es auf der Erde nur noch eine einzige, allmächtig Regierung gäbe, würden Kriege endgültig der Vergangenheit angehören und die Energie, die in Rüstung, Kriegsvorbereitung und Kriegsführung investiert wird, könne letztlich allen Menschen zugute kommen. Vermutlich hat er einen solchen allgemeinen Nutzen der Menschheit jedoch gar nicht in Betracht gezogen, sondern war nur bemüht, als Präsidentenberater das zu empfehlen, was die Dominanz der  USA in militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht stärkt und die Ausbeutung der Schwächeren erleichtert.

Wie auch immer: Selbst wenn einst das „One World Government“ entstehen sollte, es wird nicht halten können. Alle großen Reiche – und die kleinen ebenso – sind nach tatkräftigem Einsatz des Faustrechts zur Blüte gelangt – und eine Weile später wieder zerfallen. Interessengegensätze, Futterneid, Machtkämpfe, zuletzt auch Dummheit oder Altersstarrsinn spalten die Führung, und wo der einigende Wille zu schwach geworden oder nicht mehr zu finden ist, driftet auseinander, was nicht mehr zusammengehalten werden kann. So wie wir heute auf den Globus schauen, und den Eintrag „Jugoslawien“ nicht mehr finden, wird man in zwei oder drei Jahrzehnten vergeblich nach einem Verzeichnis der aktuellen Mitgliedsstaaten der EU suchen, weil auch die EU nicht zusammengehalten werden kann.

Für ein friedliches Miteinander ist „Homogenität“ die Grundvoraussetzung. Nur wo sich „Bevölkerungen“ in den elementaren politischen Zielsetzungen weitgehend einig sind, wo die leistungsgerechte Spreizung von Einkommen und Vermögen akzeptiert wird, wo Unterschiede in Bildung, kulturellen und religiösen Werten im Rahmen kleiner Toleranzbereiche bleiben, kann jenes „Wir“ entstehen, das die Kräfte bündelt und Wohlstand entstehen lässt, während es heutzutage nur allzuoft als leere Phrase in den Raum gestellt wird.

Es ist jene Einigkeit, die Hoffmann von Fallersleben als erstes Wort der dritten Strophe des Deutschlandliedes vorangestellt hat, aus der Recht und Freiheit wie von selbst hervorwachsen. Diese Einigkeit beschreibt etwas, wovon wir uns mit der Zielvorgabe „Bunte Republik“ erst einmal immer weiter entfernen, und ob sich über lange Zeiträume aus der „Vielfalt“ eine neue „Einigkeit“ entwickeln wird, ist nicht abzusehen.

Daher gehört zur Homogenität zwingend die Distanz. Diese Distanz darf gerne eine freundliche Distanz sein, so wie zwischen den vielen Mietern eines Hochhauses kaum mehr Nähe entsteht als jene, die bei der Begegnung im Treppenhaus oder im Lift einen freundlichen Gruß hervorbringt. Und wenn es zwischen den Maiers im 15. Stock und den Müllers aus dem 16. Stock zu einer freundschaftliche Beziehung kommt, dann ist das gut. Aber es ist keine Bedingung für eine bessere Ordnung.

Doch zugleich muss die Distanz auch gesichert sein. Im Hochhaus durch ein Schloss an der Wohnungstüre – im großen Maßstab durch Kontrolle über die Grenzen und jenes Maß an Wehrhaftigkeit, das selbst einen erfolgreich ausgefochtenen Angriffskrieg als ein Verlustgeschäft für den Angreifer erscheinen lässt.

Ich weiß, das ist das Hohelied des Nationalstaats, der über ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine staatliche Ordnung verfügt und souverän ist, frei darüber zu bestimmen. In Verbindung mit einer Demokratie, die den Namen verdient, auch mit den Ideen der „Sozialen Marktwirtschaft“ ist das nach meiner Überzeugung der Idealzustand für ein Staatsgebilde.

Ob die Menschheit jemals das dafür notwendige Maß an Homogenität erreichen wird, sich als eine Nation auf einem Planeten zu fühlen?

Vielleicht.

Es wäre wünschenswert und ist nicht auszuschließen. Doch das ist ein Prozess, der sich über viele Generationen erstreckt und nicht mit Gewalt, nicht per Faustrecht, übers Knie gebrochen werden kann. Bis dahin sind Kriege zu erwarten. Bis dahin ist folglich auch die sichere Distanz angesagt – und vor allem muss auch der Versuchung der Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten widerstanden werden – und sei dies noch so gut gemeint.