PaD 38 /2020 – Volk oder mehrere Leute? In Kürze auch als PDF verfügbar
Seit mehreren Monaten stellen sich mir die Nackenhaare auf, wenn ich von Politikern – vom Bundespräsidenten Steinmeier angefangen – einen Satz höre, in dem die Wortfolge „wir Deutsche“ vorkommt. Aber es sind nicht nur Politiker. Das weggeätzte „n“ schleicht sich allmählich – das Vorbild wird eben nachgeahmt – in immer weitere Kreise der verbalen Kommunikation ein.
„Das ist doch grottenfalsch!“, höre ich meinen kleinen Mann in der Großhirnrinde protestieren. Ja, und dann stellen sich die Nackenhaare auf.
Menschen aus meinem Umfeld, die ich darauf angesprochen habe, meinten, es sei beides möglich, ich möge mich doch bitte wegen solcher Kleinigkeiten nicht aufregen.
Es hat eine ganze Weile gedauert, bis bei mir der Groschen gefallen ist. Dass es so lange gedauert hat, lag daran, dass ich gewohnheitsmäßig davon ausgegangen bin, dass, wenn jemand vom Kaliber eines Bundesministers, Bundeskanzlers oder gar Bundespräsidenten, „wir“ und „Deutschen“ sagt, dann schon wegen des Amtes und ggfs. der Verpflichtung, seine Kraft dem deutschen Volke zu widmen, stets nur das ganze deutsche Volk, hilfsweise auch die gesamte deutsche Bevölkerung gemeint sein kann, niemals aber nur eine Teilmenge davon, die sich eventuell als Deutsche irgendwo in der Fremde begegnen. Dass ich ferner davon ausgegangen bin, dass der Versuch, vom ganzen deutschen Volk zu sprechen, zwingend mit „wir Deutschen“ zum Ausdruck gebracht werden müsse, und dass folglich „wir Deutsche“ einfach ein Fehler, eine Sprachschlamperei, ein Sprechfehler, ein Zeichen beginnender Verwirrung in Verbindung mit selektiver Aphasie – oder so etwas – sein müsse.
Nun hat es „klick“ gemacht. Der Groschen ist gefallen. Ich weiß, dass „wir Deutsche“ neuerdings richtig sein soll, um zum Ausdruck zu bringen, dass nicht das ganze deutsche Volk gemeint ist, sondern lediglich diejenigen, die innerhalb einer größeren Menge – von der Abstammung oder der Zuschreibung her – deutsch sind und daher von dritten als „Deutsche“ bezeichnet werden.
Es kann sich zum Beispiel um einige Deutsche handeln, die als Minderheit auf einem hauptsächlich von Briten gebuchten Kreuzfahrtschiff durch die Karibik schippern, die sich dabei weniger über ihre Staatsangehörigkeit, sondern vielmehr über ihre kulinarischen Vorlieben definieren und dem Oberschiffskoch signalisieren, dass Deutsche nicht länger täglich mit Fish&Chips verpflegt werden wollen, sondern mindestens an einem Tag in der Woche auch einmal ein Schnitzel auf dem Teller haben wollen.
Doch auch diese kleine Gruppe von Deutschen würde sich stets als „wir Deutschen auf diesem Schiff“ bezeichnen, weil die deutsche Grammatik bei der Pluralbildung folgende Regeln kennt:
Schritt 1 – Bestimmung der Art des Nomens: n-Deklination
Die Zahl der Nomen, die zur Gruppe der n-Deklination gehören, ist relativ klein. Schwache Nomen sind immer maskulin und enden immer auf –e. Zu dieser Gruppe gehören vor allem: der Buchstabe, der Gedanke, der Name und die Nationalitäten (der Afghane, der Baske, der Brite, der Bulgare, der Chinese, der Däne, der Franzose, der Grieche, der Ire, der Jugoslawe, der Kroate, der Kurde, der Mongole, der Pole, der Russe, der Schotte, der Türke, der Ungar)
Schritt 2 Bestimmung der Art der Pluralbildung bei Nomen der n-Deklination
Alle maskulinen Nomen der n-Deklination bilden ihre Pluralform mit -(e)n.
der Junge – die Jungen | das Auge – die Augen | die Frage – die Fragen |
der Löwe – die Löwen | das Bett – die Betten | die Idee – die Ideen |
Wenn der Bundespräsident aber von „wir Deutsche“ spricht, und damit nicht „die Deutschen“ insgesamt meinen kann, weil er sonst „wir Deutschen“ sagen müsste, dann handelt es sich um die per Sprachtrick zum Ausdruck gebrachte Auffassung, dass es ein „deutsches Volk“ nicht gebe, sondern nur noch mehrere – einzelne – „Deutsche“, deren Anteil an der Bevölkerung bereits soweit rückläufig ist, dass es sich nur noch um „zufällig“ deutsche (Adjektiv!) Personen unter vielen anderen Leuten handelt, aber nicht um eine zusammengehörige Gruppe. „Wir“ bezeichnet aber zwingend eine Zusammengehörigkeit. Daraus folgt wiederum zwingend:
„Wir Deutsche“ gibt es im Deutschen nicht.
„Wir Deutsche“ bezeichnet folglich etwas nicht Existentes. Es ist eine Leerstelle, wie das Loch im Schweizer Käse, und selbst dieses Loch ist, obwohl es „Nichts“ ist, noch konkreter und eindeutiger.
Selbst der SPIEGEL, der in einem weit ausgreifenden Text versucht klar zu machen, dass „die Deutsche“ und „die Deutschen“ austauschbar seien, verweist zum Schluss dann doch auf eine Tabelle, in welcher eindeutig ausgewiesen ist, dass im „bestimmten“ Plural nur von „den Deutschen“ gesprochen, geschrieben, geredet und hohl getönt werden kann.
Vermutlich wird ein Wanderer des Weges kommen, von sich behaupten, Germanist und Sprachgelehrter und Mitglied der Dudenredaktion zu sein, woselbst man festgelegt habe, es gäbe zwei Formen, nämlich eine starke („wir Deutsche“) und eine schwache („wir Deutschen“) und dass es jedem selbst überlassen bleibe, welcher Form er den Vorzug gibt.
Die starke Form!
War da nicht mal was, wie hieß der doch gleich? Matthias Koeppel. So hieß der – und der hat das „Starckdeutsch“ erfunden, und auf starckdeutsch gedichtet, zum Beispiel über die Architekten:
Arr, di Arr; di Arrckitucktn –
jarr, di sünd tautul pfarrucktn.
Pauhn onz euburoll Quaduren,
vo se gurrnücht henngehuren.
Vn demm Hurz büsz ze denn Ullpn
snd di Häusur steitz di sullpn.
Duch di Arrckitucktn tschumpfn:
Onzre Pauhörrn snd di Tumpfn!
Olle zullte mon kastruren,
düßße auff ze pauhin huren;
odur stott ünn rachtn Winkuln
se dönn pauhin, wi se pinkuln.
Die beiden letzten Zeilen verweisen klar auf Friedensreich Hundertwasser und seine Starckbauweise:
Ich hoffe nur, dass „Wir Deutsche“, nach der fast rückstandslosen Tilgung des Genitivs (was schon ungefähr 25% Sprach- und Verständnisverlust mit sich gebracht hat), nicht etwa als der nächste folgenschwere Schritt hin zu einem immer stärkeren Deutsch gedeutet werden muss, das sich mit Riesenschritten auf die frühzeitlichen Grunzlaute der Neandertaler zubewegt und sich jeder entzifferbaren schriftlichen Darstellung noch mehr entzieht als jenes „Schreibe was du hörst!„, mit dem mindestens einer Generation von Grundschülern in bestimmten Bundesländern die Legasthenie förmlich eingebleut wurde.