Universalanrede: Sehr geehrte Wesen und Wesen

Ich kenne jenes menschliche Wesen nicht, dessen Anwältin es gelungen ist, ein Gericht dazu zu bewegen, diesem Wesen 1.000 Euro – vermutlich als Schmerzensgeld – zuzusprechen, weil die Deutsche Bahn es nicht für erforderlich hielt, in ihren on- und offline-Formularen für die kleine Zahl ähnlich- und gleichgearteter Wesen eine eigene, nichtbinäre Anredeform zum Einsatz zu bringen.

Ich kenne  auch die Anwältin nicht, die sich in dieser Sache Erfolg versprochen hat und ich weiß auch nicht, wer von den Richtenden im Lande das Urteil gesprochen und begründet hat.

Von daher kann ich auch nicht sagen, ob dieses Wesen ein Scherzbold ist, der sich an Martin Sonneborn (Die Partei) ein Beispiel genommen hat, und die „Szene“ einfach einmal aufmischen wollte, oder welche Motive es sonst gehabt haben sollte, außer dass es sich tatsächlich von der Anrede „Herr“, die sich aus dem männlichen Vornamen ableiten lässt, den das Wesen weiterhin führt, durch die Missachtung seiner Andersartigkeit diskriminiert, beleidigt und schmerzhaft gekränkt gefühlt hat, weil es sich eben weder als dies, noch als das, sondern als ein ganz und gar extraordinäres Wesen definiert, ein so extraordinäres Wesen, dass ihm zweifellos eine eigens zu schaffende Anrede zusteht, wie der Pluralis Majestatis dem hochwohlgeborenen Fürsten von Gottes Gnaden.

Um es vorweg zu nehmen: Die Lösung für die Bahn und alle anderen Unternehmen mit Geschäftskontakten, ist die Universal-Anrede als „Wesen“.

„Wesen“ verwischt jeden Unterschied zwischen allem Belebten. „Wesen“ macht das umständliche „m/w/d“, das aus unserem Leben schon nicht mehr wegzudenken ist, endlich wieder überflüssig. „Wesen“ umfasst nicht nur materiell Belebtes, sondern auch reine Geistwesen, es kann auf das Bauwesen ebenso angewendet werden, wie auf das Finanzwesen, aber – und das ist das Schöne daran: Gerade das Unwesen fällt – wegen seiner autonegativierenden Form – nicht mehr unter diesen Begriff.

So werden also künftig der „sehr geehrte Herr“, wie auch die „sehr geehrte Frau“ und die „sehr geehrten Damen und Herren“ der Vergangenheit angehören. Statt dessen werden die Anredeformeln „Sehr geehrtes Wesen“ und  „Sehr geehrte Wesen und Wesen“ alles ersetzen, was bisher doch auch nur Floskel, und im vielfältigen Einzelfall diskriminierend war.

Manchmal frage ich mich allerdings, wie die Menschheit bis heute überleben konnte, ohne begriffen zu haben, dass eben alles nur „Wesen“ ist. Da fällt mir ein alter Witz ein:

Ein Marsianer kommt mit seinem Raumschiff auf die Erde, um die Menschen zu erforschen. Gerne prahlt er auch mit den Fortschritten der Wesen auf dem Roten Planeten. Unter anderem damit, dass die Fortpflanzung auf dem Mars so geschieht, dass man ein kleines Kügelchen nimmt, es in warmes Wasser legt, und schon erwächst daraus ein neues Marsmännchen oder ein neues Marsweibchen. „Bei uns geht das ganz anders“, erzählt ein Mensch. Der Marsianer will wissen, wie das geht, und nach einigem Zieren und Zögern holt der Mensch seine Frau und gemeinsam führen sie – ausschließlich im Dienste der Wissenschaft – vor, wie sich Menschen fortpflanzen. Der Marsianer fängt gleich zu Beginn an zu kichern, und als der Höhepunkt erreicht ist, kann er sich vor Lachen kaum mehr halten. Der Mensch ärgert sich und faucht ihn an, was er denn da jetzt so lächerlich fände. „Ach“, antwortet der Marsianer, „hahaha, so machen wir unsere Kügelchen.“

Nun, das diesen Aufsatz auslösende Wesen gibt mir neben jenem Rätsel, das ich mit der Erfindung der Univeralanrede gelöst habe, ein weiteres Rätsel auf, das sich offenbar nach den Gesetzen der Logik nicht lösen lässt, nämlich das Rätsel, wie es zu der Auffassung gelangen konnte, diskriminiert zu werden.

Vor fünfzig Jahren gab es ein ähnliche Entwicklung. Angefangen hat das damit, dass nicht nur ältere Frauen nach erfolgreichem Durchleiden der Menopause nicht mehr als „Fräulein“ angesprochen werden wollten, sondern auch fünfzehnjährige Lehrmädchen verlangten, als Frau angesprochen zu werden, weil sie es offenbar als Makel empfanden, schon mit der Duldung der Anrede „Fräulein“ anzuerkennen, sowohl noch ledig als auch noch im Vollbesitz ihres Hymens zu sein. Möglicherweise fürchteten sie – und die BRAVO hat damals einiges zu solchen Ängsten beigetragen – ein potentieller Sexualpartner könne die Mühe der Defloration scheuen und von daher eine generelle Abneigung gegen jedes „Fräulein“ entwickeln. 

Der „Aufstand“ verlief damals nach dem gleichen Muster, und in meiner Erinnerung waren es gerade die frechsten Gören, die das „Recht“ als „Frau“ angesprochen zu werden, als eine Art Waffe benutzten, um ihre Mitmenschen zu terrorisieren.

Das Ziel dieser Mädchen war dabei aber, kaum dass ihre Brüste zu knospen begannen, schon als vollwertige Frau akzeptiert oder zumindest angesehen zu werden.

Etwas weniger spektakulär vollzog sich ein ähnlicher Prozess bei den Jungen. Im Glauben an das Gerücht, Rasieren fördere den Bartwuchs, kratzen sich die 12- und 13-Jährigen akribisch den Flaum von Oberlippe und Wangen, um im Freundeskreis prahlen zu können, sie müssten sich schon rasieren. Das Ziel war, möglichst schnell als vollwertiger Mann akzeptiert oder zumindest angesehen zu werden.

Die Sache war klar. Man wollte Frau sein, oder Mann, aber nichts dazwischen, und die Frau wollte einen Mann für sich gewinnen und der Mann eine Frau, aber nichts dazwischen.

Kein Mädchen oder kein Junge wäre auf die Idee gekommen, gerade aus dem Grunde, ein noch nicht vollwertig-funktionsfähiger Angehöriger eines biologischen Geschlechts zu sein, in eine eigene Kategorie der Unvollkommenheit eingestuft und auch grundsätzlich und ausnahmslos so angesprochen zu werden.

Was also geht in diesem Wesen vor, das darauf gedrungen und Recht bekommen hat, als – tatsächlich oder nur gefühlt – von der Norm abweichendes Wesen besonders gekennzeichnet und angeredet zu werden?

Die Statistiker sagen, dass es sich, auch unter Berücksichtigung einer Dunkelziffer, bei den Nicht-Binären um eine ziemlich kleine Minderheit handelt. Dennoch verhalten sie sich so, wie vor fünfzig Jahren die alte Jungfer, die allergrößten Wert darauf legte, mit „Fräulein“ angeredet zu werden. Ja, die gab es durchaus auch noch, und die fühlten sich durch ihre ins Alter gerettete Jungfernschaft wertvoll wie eine echte chinesische Vase aus der Ming-Dynastie, die  – ohne die geringste Beschädigung zu erleiden –  die Jahrhunderte  überdauerte. Selbstverständlich ist „so eine“ über alle anderen Frauen erhaben. Das war so eine Art Keuschheitsdünkel, der auch auf die Nerven gehen konnte.

Haben wir bei den „Wesen“ jetzt den gleichen Effekt? Halten sie sich für die besseren Menschen, die sich nicht mit Mann oder Frau gemein machen wollen? Oder halten sie sich für die schlechteren Menschen, die sich mit Mann oder Frau gleichstellen wollen?

Letzteres kann ausgeschlossen werden, denn es stünde ihnen offen, sich einfach und ohne Nachfragen oder Spott fürchten zu müssen, beim Ausfüllen des Fahrkartenbestellformulars in jenes biologische Geschlecht einzuordnen, das ihrer äußerlichen Erscheinung am ehesten entspricht. Kein „Outing“, kein Erkennen, keine Diskriminierung. So einfach wäre das.

Also bleibt als logischer Schluss nur übrig, dass sich die Wesen, die sich offiziell inzwischen allesamt hinter dem Kürzel „d“ versammeln, inoffiziell die Buchstabenfolge LSBTQ*X für sich beanspruchen, einem normalen Mann oder einer normalen Frau überlegen fühlen.

Woher diese Überlegenheit rühren sollte, erschließt sich mir nicht.

  • Wenn es sich um einen biologischen Mann handelt, der sich als Frau definiert, die zwar ejakulieren, aber nicht menstruieren kann, dann kann ich darin kein Anzeichen von Überlegenheit erkennen.
  • Umgekehrt, wenn eine Menstruierende das schlimme Los ertragen muss, sich als Mann zu definieren, aber nicht ejakulieren zu können, sehe ich darin auch nur eine Art von Leid, aber nichts worauf man stolz sein könnte.
  • Natürlich gibt es auch, vereinzelt, echte Zwitter mit eigentümlichen konstruktiven Abweichungen von den Phänotypen „Mann“ und „Frau“, was ebenfalls, wenn nicht eine spezielle exhibitionistische Neigung dazukommt, eigentlich traurige Fälle sind, die Mitgefühl verdienen, aber doch eben nicht, dass schon mit jeder Anrede die besondere Herausstellung ihrer körperlichen Beschaffenheit verbunden werden muss.

Als einzige Lösung dieses rätselhaften Begehrens bliebe auf dem derzeitigen Stand meiner Überlegung nur noch „Masochismus“ übrig. Das allerdings, wage ich nicht ernsthaft in die Diskussion zu werfen. Nach meinen eigenen Wertvorstellungen wäre es nämlich tatsächlich diskriminierend, auf das „d“ in der Stellenanzeige, auf die „dritte Toilette“ in öffentlichen Einrichtungen und auf das „Wesen“ in der künftigen Universalanrede auch noch den „Masochismus“ draufzusetzen.

So kann man doch gar nicht drauf sein …

Der Link zum Artikel in der SZ