Sich am Recht ein blaues Auge schlagen – Thüringen

Als neues Bundesland hat Thüringen auch eine neue, beinahe noch jungfräuliche Verfassung.

Diese Verfassung wurde am 25. Oktober 1993 von den Abgeordneten des thüringer Landtages (44 CDU, 21 SPD, 9 PDS, 9  FDP, 6 Grüne) auf der Wartburg beschlossen und am 16. Oktober 1994 mittels Volksentscheid von der überwältigenden Mehrheit der Abstimmenden angenommen.

Am demokratischen Zustandekommen der Verfassung ist also kaum ein Zweifel möglich. Man sollte auch nicht leichtfertig davon ausgehen, die Schöpfer dieser Verfassung hätten oberflächlich gearbeitet und nicht an alle Eventualitäten gedacht.

Ich glaube, dass gerade die Situation, die nach den letzten demokratischen Wahlen im thüringer Landtag hergestellt worden war, 1993 sehr intensiv und womöglich auch kontrovers diskutiert worden war.

Die Thüringer Verfassungsgeber haben letztlich der Lösung, dass auf jeden Fall nach dem dritten Wahlgang ein Ministerpräsident gewählt ist und eine Regierung gebildet werden kann, die höchste Priorität eingeräumt.

Auf diese Weise, so mag man damals den auch heute noch gültigen Gedanken gehegt haben, ist die Fortführung der administrativen Regierungsarbeit sichergestellt – und wo der Regierungschef im Gesetzgebungsprozess eine Parlamentsmehrheit braucht, muss er sie sich halt suchen, und wenn er sie nicht findet, bleibt halt alles  beim Alten, was auch nicht so schlecht gewesen sein kann, weil es schließlich auch einmal von einem Parlament beschlossen worden war.

Ja, ich wette, dass sie damals hinter verschlossenen Türen darauf gekommen waren, dass ggfs. eine einzige Stimme genügen würde, einen Ministerpräsidenten zu wählen, und während die einen sich dabei vor Lachen kringelten, mögen die anderen vorgetragen haben, das sei immer noch besser, als einen endlosen Wahlzirkus zu veranstalten, der letztlich die physischen und psychischen Kräfte der Abgeordneten überfordern würde.

Nun ist der Fall eingetreten und das Jammern und Zähneklappern ist groß, allenthalben.

Als Bodo Ramelow am 5. Dezember 2014  im zweiten Wahlgang mit 46 Stimmen zum Ministerpräsidenten gewählt worden war, waren Jammern und Zähneklappern kaum geringer, nur eben anders verteilt. Immerhin war Ramelow der erste Ministerpräsident mit LINKE-Parteibuch der einer rot-rot-grünen Landesregierung vorstand. Warum er der erste und die Koaltion die erste war, und warum es nicht schon seit der Wiedervereinigung Regierungen unter PDS-Führung und LINKE Ministerpräsidenten und Koaltionen aller demokratischen Parteien mit der demokratischen SED-Nachfolgepartei gegeben hat, ist nach fünf Jahren natürlich vollständig vergessen – und dass es einst bei den Grünen nicht anders war, sondern aus allen Rohren mit allen Verleumdungen auf sie gefeuert wurde, bis Joschka-Dachlatte-Fischer erster grüner Minister im Kabinett Holger Börner in Hessen werden konnte, daran erinnert sich auch kaum noch jemand, und von denen, die sich erinnern, ist immer noch ein ganz erhebliche Anteil der Überzeugung, das sei schließlichd damals etwas ganz Anderes gewesen. War es nicht. Es ist immer das Gleiche:

In der Bundesrepublik Deutschland
ist es guter Brauch,
jede Partei, die erstmals
an die Tore der heiligen Hallen
der parlamentarischen Demokratie klopft,
so lange und so heftig mit jeder Art von Schmutz zu bewerfen,
bis sie auf diese Art und Weise ihre Standhaftigkeit
und demokratische Gesinnung
und insbesondere ihre Koalitionsfähigkeit bewiesen hat.

Von da an, plus/minus ein, zwei Jahre,
ist es auch den Angehörigen dieser Partei gestattet,

ins Gezeter über die nächste neue Partei
inbrünstig mit einzufallen.

Gerne auch – in schlechter Nachahmung – des Vercingetorix
(der das in Wahrheit nie getan hat),

dem vom Feinde unterstützten Sieger,
statt des Schwertes, einen Blumenstrauß zu Füßen werfend.

Was im Augenblick (nur im Augenblick!) in Deutschland (nur in Deutschland) das Corona-Virus und den CO2-Weltuntergang und Donald Trump in der Schlagzeilenhierarchie nach hinten drängt, und was Angela Merkel in ihrer ganzen Borniertheit einen „unverzeihlichen Vorgang“ zu nennen sich entschlossen hat, ist lebendige Demokratie. Zugleich ist es ein Zwischenergebnis, von dem aus sich eine Vielzahl von Entwicklungsmöglichkeiten erst erschließt. Die FDP ist ihrem Ruf, als „Zünglein an der Waage“ zu fungieren, wieder einmal gerecht geworden und hat damit gezeigt, dass das „chaotische System“ der parlamentarischen Demokratie eben immer noch von jener schöpferischen, nichtlinearen Dynamik bewegt wird, die nur über einen bestimmten Zeitraum näherungsweise vorhersagbar ist, weil minimalste Abweichungen der Anfangsbedingungen das Verhalten des gesamten Systems nach einer bestimmten Zeit vollständig umkehren können.

Wer dies wegen seiner parteipolitischen Scheuklappen nicht zu erkennen vermag und wegen der Wahl des FDP-Mannes Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten meint, vor dem unmittelbar bevorstehenden Untergang der Welt warnen zu müssen, der hat sich, weil er als Egoist die Allgemeingültigkeit des Rechts nie verstanden hat, am geltenden Recht ein blaues Auge geholt.

Spätestens morgen wird er es selbst im Spiegel erkennen können.