Lüge und Wahrheit

Vor langer, langer Zeit, als die Menschen noch dumm und verführbar waren, gab es eine Weggabelung an welcher die Wanderer sich zu entscheiden hatten.

Links, oder rechts?

Das war auf dieser Welt wohl schon immer die Frage.

Um es den Menschen leicht zu machen, hatten die Götter eine Auskunftsperson an die Weggabelung gestellt. Eigentlich sogar zwei, die sich täglich abwechselten. Aber zur gleichen Zeit war immer nur eine von beiden anzutreffen.

Die meisten Wanderer, eigentlich sogar alle, wollten zum Orakel nach Delphi, und warum es überhaupt eine Weggabelung gab, das wusste niemand zu sagen, auch nicht wohin der Weg führte, der vom Weg nach Delphi wegführte. So hieß es bald, er führe ins Verderben, was der notwendigen Entscheidung zwischen links und rechts eine zusätzliche Dramatik verlieh.

Tückisch, wie die alten Götter nun einmal waren, hatten sie bei den Auskunftspersonen aber eine ganz besondere Wahl getroffen. Die eine von den beiden war ein wahrhaftiges, unschuldiges Wesen. Sie konnte nicht anders als immer die Wahrheit zu sagen, sogar dann, wenn sie sich dadurch selbst einen Schaden zufügen sollte. Sie verhielt sich wie ein Bilderbuchkatholik im Beichtstuhl. Aus ihrem Munde kam stets die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Die Andere war anders. Wiewohl sie die Wahrheit kannte, konnte sie nicht anders als lügen, lügen, lügen. Sie verhielt sich wie alle anderen großen Lügner ihrer Zeit, die sich wiederum in nichts von jenen großen Lügnern unterscheiden, die uns heute noch in einem fort belügen, so dass viele, sehr viele, sich auf ihren Rat hin für den falschen Weg entscheiden, der ins Verderben führt.

Nun hatte es sich begeben, dass ein alter weiser Wanderer an dieser Weggabelung nach dem Weg fragte und den Rat erhielt, er möge sich nach links wenden. Dies sei der Weg nach Delphi. Als er jedoch die ersten Meilen gegangen war, kam ihm der Weg sehr absonderlich vor. „So“, dachte er sich, „kann der Weg nach Delphi doch nicht aussehen! So eng, so schlangenhaft gewunden, glitschig und schmierig noch dazu.“
Also beschloss er umzukehren. Lange nach Mitternacht kam er zurück an die Weggabelung, setzte sich auf einen großen Stein und sah im fahlen Licht des Mondes, wie ein Wanderer nach dem anderen von der Auskunftsperson auf den nach rechts führenden Weg gewiesen wurde.

Weil er aber ein weiser Mann war, gab ihm das zu denken. Er beschloss, an der Gabelung zu verharren und das Geschehen zu beobachten. Den ganzen Tag über schickte die Auskunftsperson die Wanderer nach rechts. Spät am Abend, die Augen waren ihm schon fast zugefallen, sah er, dass die Auskunftsperson, welche die Wanderer nach rechts geschickt hatte, sich davonmachte und eine andere, ihr in allem äußerlich vollkommen gleich, deren Stelle annahm.
Und schon der erste Wanderer, der sich nach dem Weg erkundigte, nahm den linken Weg, wie alle anderen, die in den nächsten Stunden noch nach dem Weg nach Delphi fragten.

Da nahm der alte Mann seinen letzten Brotfladen aus seinem Proviantsack, stärkte sich auch mit einem Schluck aus dem Weinschlauch und machte sich auf den Rückweg, nach Hause, um zu verkünden, was er erlebt hatte.

Er war sehr beliebt in seinem Heimatstädtchen, so dass sich bald mehr als ein Dutzend seiner Nachbarn um ihn scharte. Er erzählte seine Geschichte recht ausführlich, versäumte auch nicht, sie mit allerlei Episoden auszuschmücken, die er sich beim Erzählen ausdachte, und endete dann mit den Worten: „Und deshalb bin ich umgekehrt, um euch von der Schwierigkeit zu berichten, sich für den richtigen Weg zu entscheiden.“
„Du hast ihn doch selbst nicht gefunden!“, empörte sich einer. Ein anderer lachte laut: „Das war eine schöne Geschichte, Alter. Aber was nützt sie uns? Wenn du nicht weißt, ob du belogen wirst oder nicht, dann bist du doch nach der Antwort nicht schlauer als zuvor!“

Da erhob sich der alte weise Mann von seinem Hocker, blickte lange nachdenklich in die Runde und sagte dann: „Ihr müsst nur die richtige Frage stellen! Darauf kommt es an.“

 

Die Lösung des Rätsels ist einfach. Als der erste kluge Nachbar des alten weisen Mannes sie gefunden hatte, waren alle anderen schnell davon überzeugt. Von da an war es allen Einwohnern dieses Städtchens gelungen, den Weg nach Delphi herauszufinden, gleichgültig, an welchem Tag sie an die Weggabelung kamen und welche der beiden Auskunftspersonen dort Dienst hatte. Aber es ist lange her. Das Städtchen gibt es seit Jahrhunderten nicht mehr, seine Bürger sind in alle Winde zerstreut – und Delphi, Delphi ist auch schon lange nicht mehr, was es einmal war.

So gilt es heute, die Lösung noch einmal zu finden. Nicht um den Weg nach Delphi zu finden: Dafür ist heutzutage das Navi da.
Aber ob Russland beabsichtigt, die Ukraine zu überfallen, ob der Klimawandel vom CO2 abhängt, ob die Impfpflicht SARS-Cov-2 ausrotten soll, bei allen diesen großen und kleinen Fragen, kann die richtige Frage zur richtigen Antwort führen.

Ein klitzekleines, einfaches Beispiel:

Die Bonbon-Tüte aus der Schublade im Wohnzimmerschrank ist leer. Jonas (8) und Leon (11) sind der Tat verdächtig. Beide streiten es ab. Wer lügt, wer sagt die Wahrheit?

Es hängt davon ab, die richtige Frage zu stellen. Dann genügt es sogar, eines der beiden Kinder zu befragen – und zwar so:
„Wen würde dein Bruder als den Bonbondieb angeben, wenn ich ihn frage?“
Dazu gibt es die folgenden Möglichkeiten:

  • Jonas ist der Dieb. Es ist klar, dass er lügt, denn er hat die Tat bestritten. Also lügt er weiter und sagt: Leon würde zugeben, dass er es war.
  • Leon hat die Bonbons nicht gestohlen. Es ist klar, dass er die Wahrheit sagt, denn er hat die Tat bestritten. Also sagt er wahrheitsgemäß, weil er weiß, dass sein Bruder lügen würde: Er würde sagen, dass ich, Leon es war.

Die Wahrheit liegt in der zuverlässig falschen Antwort. Man kann „die Wahrheit“ dazu bringen, eine Lüge auszusprechen, wenn man sie fragt, was „die Lüge“ antworten würde. Dann sagt sie das wahrheitsgemäß. Wäre im Beispiel nicht Jonas, sondern Leon der Dieb, würden „Lüge“ und „Wahrheit“ gleichermaßen auf Jonas verweisen.

Fragen Sie Mr. Blinken, was Putin antworten würde, würde er gebeten wahrheitsgemäß anzugeben, wer für die Eskalation verantwortlich ist, und fragen Sie Putin, was Blinken antworten würde, würde er gebeten, wahrheitsgemäß anzugeben, wer für die Eskalation verantwortlich ist.

Es fühlt sich ein bisschen umständlich an. Schon die Notwendigkeit die Fragen unvoreingenommen zu stellen, kann als unüberwindbare Hürde angesehen werden, wenn man bereits Partei für ein Lager ergriffen hat. Es mag auch unscharfe Grauzonen geben, vor allem, wenn in Details Übereinstimmung herrscht.

Aber:
Wo sich zwei Lager unversöhnlich gegenüberstehen und jeweils das Gegenteil dessen aussagen, was das andere Lager behauptet, wenn also offenkundig ist, dass eine Seite hartnäckig lügen muss, bringt die Frage, was wohl das eine Lager dem anderen Lager unterschieben würde, durchaus wertvolle Erkenntnisse, die über das reine Abzählen von Mehrheiten weit hinausgehen.