Gilets jaunes – was wir Deutschen nicht wissen

Der interessierte Normalbürger erfährt hierzulande, dass die französische Regierung Reformen beschlossen hat und dass das französische Volk dagegen, mit gelben Westen ausgerüstet, nun schon an vier Wochenenden auf die Straße gegangen ist. Dabei wurden Barrikaden errichtet, Autos und Häuser angezündet.  90.000 Polizisten, zu Fuß, zu Pferd, zu Wasserwerfer und zu EU-Panzer wurden aufgeboten, um den Aufstand zumindest einzuhegen, wenn er schon nicht unterdrückt werden konnte.

Der interessierte Normalbürger denkt sich seinen Teil, kommt zu dem Schluss, die Franzosen seien seit jeher Hitzköpfe, und so mancher meint: Es wäre besser, sie würden arbeiten, statt zu revoltieren, damit wäre dem französischen Nationalprodukt gedient und alle hätten das Geld, das sich nun einmal nicht erstreiken, sondern nur erarbeiten lässt.

Ich stelle diesem Beitrag drei Screenshots aus einem privaten 8-Sekunden-Video voran, um nicht 21 MB für den ganzen Kameraschwenk über eine Straße voller gilets jaunes hochladen zu müssen. Das Video stammt von W.K., der seit langen Jahren in Frankreich lebt und mir, als  ich die Idee hatte, Leser meines Blogs zu Korrespondenten zu machen, einer der ersten war, der dazu einen Beitrag  lieferte. Die erste und einzige Nummer dieses Experiments „Der Korrespondent“ aus dem März 2017 mit dem damaligen Artikel von W.K. über Emmanuel Macron ist hier verlinkt: Korrespondent1.

 

 

 

Heute erhielt ich  von WK nicht nur das Video, sondern auch einen ausführlichen und sehr informativen Artikel über die „Regierungstätigkeit“ Macrons und deren Folgen, die direkt in die Proteste der gilets jaunes mündeten. W.K. glaubt nicht, dass der Anschlag von Straßburg das dritte Adventswochenende zu einem protestfreien Wochenende werden lässt.

Aber lesen Sie selbst:

Katerstimmung in Luxus-Land

Die Stimmung in Frankreich passt nicht zur Vorweihnachtszeit. Auch wenn der Advent in diesem säkularen Land weniger ausgeprägt ist, als in Deutschland: die Harmonie fehlt.

Zwar füllen sich die Supermärkte zunehmend mit den Gütern, die dem Franzosen Weihnachten ankündigen: Berge von Flechtkörben mit Austern, ganze Regale mit Gänseleberstopfpastete (klar: arme Gänse, aber schmeckt halt …), und Inseln mit extra teuren Weinflaschen zur Begleitung der Leckereien. Ein Menu im Familienkreis kann hier auch in „normalen“ Jahreszeiten vier Stunden dauern – an Weihnachten sind da noch ein paar Stunden mehr drin. Wenn Deutschlands Industrie im Kern Automobile fertigt, dann sind das in Frankreich halt Luxusgüter, die man in die Welt exportiert: schicke Kleider und Taschen, Weine und Spirituosen, und die nicht mit beliebiger Provenienz, sondern von Chanel, Hermès, Dom Pérignon und Hennessy. Frankreich lebt im Stolz auf diesen Luxus, wenn auch viele im Schatten. Der Durchschnittsfranzose gibt relativ viel mehr Geld für Lebensmittel aus, als sein deutsches Pendant. Nicht nur zur Weihnachtszeit. Dafür ist sein Automobil halt nicht „premium“. Dies ist sicher ein Grund dafür, dass Aldi und Lidl zwar in Frankreich sehr präsent sind, aber deutlich länger gebraucht haben sich zu etablieren. Deren Sortiment ist inzwischen an das Land angepasst.

Aber die Menschen sind dieses Jahr auch Mitte Dezember im Kopf noch nicht bei Weihnachten, weil alle die Unruhe im Land spüren.

Die Unruhe ist nicht neu. Der letzte Präsident, François Hollande, zog am Ende seiner Amtszeit bereits den Ärger der Straße auf sich, als er in bester Schröder-Manier ein paar neoliberale Arbeitsgesetze durchpeitschen ließ. Ab und zu wurde der Protest ausgesetzt, weil mal wieder ein Attentat die Aufmerksamkeit beschlagnahmte. Aber die Unruhe blieb.  Die Franzosen waren 2017 motiviert einen neuen Präsidenten zu wählen und der passende Kandidat war auch schon „gecastet“. Nachdem der eigentliche Favorit, der konservative François Fillon, durch eine Affäre aus dem Ring gedrängt wurde, wurde Emmanuel Macron mit 22% im ersten Wahlgang knapp zweiter hinter Marine Le Pen und konnte im zweiten Wahlgang durch den bekannten „bloß nicht die Rechtsextremen“- Reflex die Präsidentenwahl gewinnen.

Dann änderte sich in wenigen Monaten die politische Kultur in Frankreich.

Um Macron auch eine Mehrheit im Parlament zu beschaffen, erweiterte sein Umfeld blitzschnell eine Partei, die „Republique en marche, LREM“, die man „Bewegung“ taufte, und aus der innerhalb weniger Wochen landesweit Kandidaten für die Parlamentswahlen aufgestellt wurden, die vorher in der Politik völlig unbekannt und unerfahren waren, Leitende Angestellte, Kaufleute und Privatiers. Da die Rechte sich noch nicht vom Fillon-Skandal erholt hatte, und die Linke nach Hollande völlig zerstritten und ihr Kandidat, Bernard Hamon, ein einstelliges Wahlergebnis erzielt hatte, wurden die LREM-Kandidaten zuhauf gewählt. Als sie dann zum ersten Mal in ihrem Leben in die Nationalversammlung kamen, waren einige sehr angetan von „der VIP-Behandlung, die wir hier erfahren“. Abstimmen mussten sie nur selten, da die neue Regierung das Parlament kaum belastete.

Seit 2017 findet im französischen Parlament keine Politik mehr statt.

Alle wesentlichen Entscheidungen wurden ohne Diskussion im Parlament vom Regierungschef,  Edouard Phillipe, als Dekret verkündet. Macron selbst umgab sich mit einer Mannschaft von Technokraten gepaart mit wenigen Überläufern anderer Parteien „der Mitte“ und ward seitdem selten gesehen. Er erschien eher schon in den gelben Boulevard-Blättern mit seiner Frau, die von nun an den Franzosen auch Lebenshilfe spendete. Und dann küsste er natürlich Angela häufig und durfte auch Donald mal auf die Schulter klopfen.

Die politischen Parteien waren allesamt sprachlos geworden; selbst Marine Le Pen war kaum noch zu hören. Die politische Diskussion war einer stillen Administration gewichen. Diese Besinnungslosigkeit der Politik des Landes nutzte Macron zu einem 35 Milliarden Euro schweren Steuergeschenk für große Unternehmen. Diesmal sogar ohne deren Ankündigung zum Dank viele Arbeitsplätze zu schaffen. Und dann ließ er noch die Vermögensteuer – ja es gab sie hier noch! – ersatzlos streichen.

Erst im Frühjahr 2018, also nach fast einem Jahr Macron-Regierung, kam der erste große Konflikt.

Im Rahmen der angekündigten Reformen machte sich die Regierung an die Privatisierung der Staatsbahnen SNCF. Nun ist die SNCF in diesem Land eine wahre Institution, der Kern der öffentlichen Unternehmen. Und die Eisenbahner sind seit jeher stark politisiert und organisiert. Die einzige noch nicht vom Arbeitgeberverband domestizierte Gewerkschaft CGT zieht ihre Kraft aus dem harten Kern der bei ihr organisierten Eisenbahner, die bei allen von der CGT organisierten Demonstrationen mit ihren orangefarbenen Signalfackeln für die Atmosphäre sorgen. Vier Monate lang streikten die Eisenbahner in Etappen von jeweils drei Tagen, mit großer Beteiligung und natürlich mit der Schuldzuweisung der Regierung, durch ihren unsinnigen Widerstand die Menschen auf Bahnsteigen warten zu lassen und – weit schlimmer! – die französische Wirtschaftsleistung zu belasten.

Ins Parlament kam die Privatisierung der SNCF nicht.

Sie wurde als Annex eines anderen Dekrets von der Regierung eiskalt verkündet. Hier zeigte sich die Lieblingstaktik dieser Regierung: wenig reden und schnell handeln; bei Widerstand einfach weitermachen und ihn aussitzen. Im Fall SNCF ging das auf; zu Beginn der Ferienzeit 2018, einem heiligen Ritual bei dem alle Aktivität des Landes eingestellt wird, versandete der Streik der Eisenbahner.

Ermutigt vom Erfolg ihrer Politik fror die Regierung dann im September die Rentenerhöhungen ein und belegte auch Rentner mit Sozialabgaben. Und dann kam eine „Reform“, die im Land noch nicht wirklich verstanden worden ist, aber vermutlich zur „Tretmine“ für Macron wird:

Die Besteuerung an der Quelle.

Für jeden Deutschen ganz normal: vom Gehalt werden vor Auszahlung Steuer und Sozialabgaben abgezogen. Er sieht sein Netto auf dem Bankkonto. Bis heute ist das in Frankreich anders. Der Franzose bekommt sein Brutto (minus Teile der Sozialabgaben) aufs Konto überwiesen. Seine Steuern bezahlt er erst im Mai des Folgejahres. Per Internet. Und pünktlich, weil mit empfindlichen Bußen bewährt. Im September zögerte die Regierung kurz, ob sie diese Umstellung, die dem Volk als „ihr müsst ja nicht mehr Steuern zahlen“ verkauft wurde,  nicht doch besser aufschieben sollte, wurde dann aber von den Arbeitgebern, die längst die IT-Verfahren auf die neuen Verfahren umstellten und diese Projekte nicht zurückfahren wollten, ermutigt, die Reform durchzuziehen. Nun muss man verstehen, dass fast alle Bürger Ende Januar 2019 einen deutlich kleineren Betrag auf dem Bankkonto vorfinden werden – wer ist da schon glücklich. Darüber hinaus fährt man die Aufklärung leise; viele Häuslebauer haben noch nicht verstanden, dass sie ihre finanzielle Belastung, die ja steuerabzugsfähig ist, im Vorfeld beim Finanzamt mit einem Freistellungsantrag anmelden müssen. Sonst wird es eventuell knapp mit der Ratenzahlung, und wann dann irgendwann eine Steuererstattung kommen wird, ist heute noch unabsehbar. Schlimmer: Im Mai 2019 werden alle Bürger ihre Steuern für 2018 „en bloc“ zahlen müssen – von ihren kleineren Nettogehältern und Renten. Hoffentlich haben alle entsprechende Rücklagen gebildet. Das die Umkehrung der Vorleistung eine Superentlastung des Staatshaushalts ist (2019 kassiert der Staat zweimal), hat kaum einer verstanden.

Und im November sind da plötzlich die „Gelbwesten“, die „gilets jaunes“!

Wie aus dem Nichts aufgetaucht, vermeintlich wegen einer angekündigten Steuererhöhung auf Diesel. Nur in sozialen Netzwerken organisiert. Aus allen Schichten kommend. Da ist die „Schicht der Unterprivilegierten“ vermutlich große Teile der Partei der Nichtwähler. Das sind die Bezieher von RSA (= Harz IV). Es gibt Intellektuelle, die die Chance der Rettung der Demokratie herbeisehnen. Aber auch viele alleinerziehende Eltern oder Rentner mit kleinen Pensionen. Letzteren hat die Regierung auch noch eine Halbierung (!) der Witwen- und Waisenrenten angekündigt; das motiviert richtig. Inzwischen kommen auch die Schüler dazu.

Und aus dem Nichts wurde Frankreich gelb. Es war so einfach „gilet jaune“ zu werden: In jedem Fahrzeug sind zwei Westen mitzuführen.  Bereits am ersten Protestsamstag waren – laut Regierung – 282.000 Menschen auf der Straße. Wie sich das angehört hat, kann der geneigte Leser durch das zufällig mit dem Handy in unserer Provinzstadt aufgenommene Video anhören. Stellen sie den Ton ruhig laut. Das war laut! Laut, friedlich aber beeindruckend und überall.

Die währenddessen im Fernsehen gezeigten Straßenschlachten auf den Champs-Elysees waren die Folge des Vorgehens der Staatsmacht.

Der bisherige Innenminister Gérard Colomb, ein von den Sozialisten übergelaufener Politprofi, hatte den Präsidenten Macron zum Abschied noch als „Popeye ohne Spinat“ tituliert, bevor er auf eigenen Wunsch die Regierung verließ. Der neue Innenminister,  Christophe Castaner, ein ehemaliger professioneller Pokerspieler, hatte angekündigt, dass keiner das Recht hätte auf den Champs-Elysees zu sein, der eine gelbe Weste trägt.

Und er ließ seine Polizei die Champs-Elyseesmit 16.000 Tränengasgranaten
(das ist der Normalverbrauch von zwei Jahren Polizeiarbeit!) und Wasserwerfern räumen.

Viele völlig friedliche Demonstranten waren von dieser Gewalt überrascht und schockiert. Die Gewalt hat die Solidarität in  fast der gesamten Bevölkerung erst ermöglicht. Viele ältere Franzosen erinnern sich durchaus an Bilder aus dem Frühjahr 1968. Auch da brannten in ähnlicher Konstellation irgendwann Autos. Auch nach vier Protestsamstagen und mit sinkenden Temperaturen ist der Protest ungebrochen. Er ist nicht von irgendwelchen Parteien eingenommen worden. Mit Ausnahme der „France Insoumise – der „Nichtunterworfenen Frankreichs“ des Jean-Luc Mélanchon, mit der deutschen Linken nicht wirklich vergleichbar, schweigen alle anderen, weil sie wohl auch ein ungutes Gefühl haben.

Das persönliche Engagement der Gelbwesten ist erstaunlich.

Bisher eher unpolitisch erscheinende Menschen aus dem Bekanntenkreis posten und teilen auf Facebook, was das Zeug hält. Paare teilen sich die Kinderbetreuung, damit jeweils einer am Kreisverkehr mit der gelben Weste präsent ist. Nun beginnen auch die Schüler (Opfer verschiedener dilettantischer Reformen der Regierung, die zum Beispiel die Studienplatzvergabe dieses Jahr zu einer einzigen technischen Panne werden ließen) auf die Straße zu gehen und schließen sich den Gelbwesten an.

Die Regierung beschränkte sich zunächst auf das neoliberale Mantra, dass alle Maßnahmen alternativlos seien. Dabei hielt sich Emmanuel Macron persönlich sehr zurück.  Seine Umfragewerte liegen inzwischen unter 20% Zustimmung, ein Negativrekord selbst verglichen mit François Hollande, dem bisherigen Rekordhalter. Und dann sollte man beachten, dass der Chef des größten Meinungsumfrageinstituts Frankreichs, IPSOS, … der Stiefsohn des Präsidenten Macron ist!

Dieser bereiste lieber ferne Übersee-Departements und überließ seinem Premierminister – Frankreichs politischer Sollbruchstelle – die Drecksarbeit. Und so erklärte Edouard Phillipe, „die Regierung tut das einzig Richtige und sie wird den Kurs halten“. Nach dem dritten Gelben Samstag stellte Phillipe eine Aufschiebung der Steuererhöhung auf Diesel in Aussicht. Erst nach dem vierten Gelben Samstag starrte Macron selbst 12 Minuten in die Kamera des Elysee-Palastes und verkündete 35 Millionen Franzosen vor den Fernsehern (mehr als beim WM-Finale!) er hätte sich doch geirrt und jetzt werde er einige Zugeständnisse machen (Mindestlohn, Sozialabgaben auf Renten).

Aber sofort zeigte sich, dass diese Ankündigungen unehrlich waren: zwei Drittel der 100€ Erhöhung des Mindestlohns waren „Aufstockung“ also bei der Sozialbehörde zu beantragende staatliche Zuschüsse. Bloß nicht die Arbeitgeber belasten. „Eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer ist undenkbar“. Dieses Stottern der Regierung und ihres Präsidenten ließ die Gelbwesten eher wütender zurück. In die Aufschreie hinein kamen die Nachrichten über das Attentat in Straßburg.

Auch „AKT5“ werden die Gelbwesten am kommenden dritten Advents-Samstag durchziehen.

Das Attentat auf dem Straßburger Weihnachtsmarkt wird daran wohl nichts ändern, auch wenn der Innenminister damit eine noch härtere Gangart der Polizei begründen wird. In den sozialen Medien kam sofort der Verdacht einer Beteiligung des Staatsapparats bei diesem Attentat auf – Zeitpunkt und Ablauf laden dazu ein.

Es naht die Weihnachtszeit und die wird sehr wahrscheinlich eine Pause bringen. Selbst wenn die Unterstützung der Gelbwesten im Volk zunächst abnehmen sollte, kommt irgendwann das Monatsende Januar mit den vorhin erklärten leeren Bankkonten. Das ist Benzin, das auch noch lichterloh brennen kann, wenn nur noch ein Funke glimmen sollte.

Frankreich hat eine Tradition der Revolte – ja.

Sie ist nicht so glorios, wie derzeit auf manchem deutschen Blog zu lesen. Aber es ist eine Tradition, die begründet, dass man eine Revolution nicht ausschließen kann. Die politische Dynamik, die „das Volk“ spontan entwickelt hat, ist sehr beeindruckend. Die politische Bewusstlosigkeit ist überwunden, aber der Ausgang ist ungewiss. Auf das, was in den kommenden Wochen passieren wird, kann man durchaus gespannt sein.

Herzlichen Dank an W.K.!

… und Entschuldigung an alle Leser, dass der Ton des Videos bei den Screenshots nicht mitgekommen ist.