Geschichten aus der allernächsten Zukunft (1)

Wohngestaltungspflichtberatung

Das „Bessere gute Wohnen Gesetz“ (BgWG) war kaum in Kraft getreten, als der Beratungspflichttermin auch schon per Einschreiben angekündigt worden war.

Bundesamt für Wohnbaudurchsetzungsmaßnahmen
(BA WDM)
Grüne Heide 1 – 10007 Berlin

Sehr geehrte/r/* Beratungspflichtige/r/*

 

Betr.: Pflichtberatungstermin

 

Der Termin für Ihre Pflichtberatung wurde unwiderruflich festgesetzt.

„Bitte halten Sie sich dafür am 15. April, ab 09.00 Uhr an der Objektadresse (Wotan-Weg 31) für die Pflichtberatung zur Verfügung.

Ihr amtlicher Personalausweis, hilfsweise der aktuelle elektronische Impfnachweis sind mitzubringen und auf Verlangen vorzulegen.

Rechtsfolgenbelehrung:

Wir weisen darauf hin, dass die Ergebnisse der Beratung Sie zur Durchführung der festgelegten Maßnahmen verpflichten. Unkooperatives Verhalten während der Beratung kann mit Zwangsmaßnahmen, wie z.B. Geldbußen oder Beugehaft, geahndet werden.

i.A. Hiltrud Suppenschmied, VwAngest.

 

Ich hielt mich also pünktlich auf dem Gehweg vor meinem Wohnhaus am Wotan-Weg zur Verfügung. Gegen 9.25 Uhr näherte sich von der Siegfriedstraße her ein Lastenrad mit zwei Personen. Eine Person, als Fahrer an der Uniform des amtlichen Fahrdienstes erkennbar, die andere Person, als Nutzlast dem Lastenabteil des Fahrrades entsteigend, kam schnell auf mich zu, stellte sich als die mir zugeteilte Beratungsperson vor und kam gleich zur Sache:

„Aha. Ein Altbau. 70er-Jahre, schätze ich. Vermutlich alles aus Beton.“

„Nein“, entgegnete ich, „das Haus hat mein Vater 1967 errichtet, und zwar in Poroton-Ziegelbauweise. Außenwände 40 Zentimeter, wunderbar wärmedämmend …“

Die Beratungsperson unterbrach mich: „Das ist ja noch schlimmer als Beton. So dicke Mauern sind Platzverschwendung, was den Baugrund betrifft, und Platzverschwendung, was die Wohnflächenausbeute betrifft. Vom ökologisch-klimaschädlichen Fußabdruck des Ziegelmauerwerks ganz zu schweigen. Was Sie hier stehen haben, und ein Wohnhaus nennen, ist eine Bausünde ersten Ranges. Das muss weg.“

„Ich habe aber doch einen Energieausweis, Effizienzklasse B, also immerhin noch hellgrün …“

„Den haben Sie vermutlich aus dem Internet. Verbrauchsabhängig, oder? Mit selbst geschätzten Verbrauchsdaten. Das ist, das sage ich Ihnen gleich, für diese Pflichtberatung irrelevant. Es gilt, was ich an Mängeln feststelle, und eine vierzig Zentimeter dicke Ziegelwand ist nun einmal untragbar.“

„Aber die Mauern wurden doch schon vor mehr als fünfzig Jahren errichtet. Davon geht doch jetzt keine klimaschädliche Wirkung mehr aus. Wollte ich neu bauen, dann würde ich ja auch auf klimafreundliche Baustoffe setzen.“

Die Beratungsperson warf mir einen verächtlichen Blick zu und sagte in jenem schleimig-vertraulichen Ton, der Amtspersonen häufig zu eigen ist: „Machen Sie sich keine Illusionen. Sie werden neu bauen müssen. Das, was Sie ein Wohnhaus nennen, das verhält sich zu dem, was heute möglich ist, wie ein Braunkohlekraftwerk zu einem Windrad. Der Ausstieg aus Beton- und Ziegelbauwerken ist beschlossene Sache.“

Ich entgegnete, dass ich ja, als Rentner mit vielleicht noch zehn Jahren Lebenserwartung, eigentlich gehofft hatte, unter die Ausnahmeregelung zu fallen, also das Haus noch bis zum Lebensende in unveränderter Form nutzen zu dürfen. Aber da hätten Sie die Beratungsperson hören sollen: „Ausnahmen? Alle wollen Ausnahmen! Wo kommen wir denn da hin? Der Ausstieg aus Beton- und Ziegelbauwerken darf doch nicht durch Ausnahmen verwässert werden. Eine Ausnahme könnte nur gemacht werden, wenn dieses Objekt erstens mit einer mindestens zehn Zentimeter starken Außendämmung nachgerüstet worden wäre, wenn es vierfach isolierte, nicht öffenbare Fenster und eine KI-gesteuerte Zwangsbe- und Entlüftungsanlage hätte, sowie  Solarmodule auf den nutzbaren Dachflächen angebracht wären  und die Heizenergie von einer Wärmepumpe geliefert würde. Nichts davon ist hier der Fall, oder?“

Ich wollte argumentieren, dass eine Außendämmung bei den Wandstärken des Ziegelmauerwerks vollkommen überflüssig sei, dass ich die Fenster erst vor zwölf Jahren nach den damals geltenden Vorschriften erneuert hatte, und dass die Ölheizung sowohl vom Verbrauch als auch von den Abgaswerten her so ziemlich das Beste sei, was man als  Heizung im Keller stehen haben könne. Ich könnte sofort die Prüfprotokolle des Kaminkehrers als Beweis vorlegen, erklärte ich, doch alles hat nichts geholfen.

„Sie haben offenbar noch nicht verstanden, worum es hier geht. Ich will Ihre Renitenz Ihrem Alter zugutehalten und von einer Anzeige wegen unkooperativen Verhaltens noch absehen. Aber ich warne Sie: Noch so eine unqualifizierte Meinungsäußerung – und Sie sind dran!“

„Gut“, sagte ich, „ich werde jetzt voll und ganz Ihrem Sachverstand vertrauen. Ein paar Fragen habe ich aber noch.“

„Fragen sind zulässig.“

„Sie sagten, das muss weg. Gibt es dafür eine Frist?“

„Sie werden nächste Wochen den amtlichen Bescheid erhalten. Ab Zustellung gilt eine Frist von sechs Monaten für den Abbruch. Ist das Haus unterkellert?“

„Ja, voll unterkellert.“

„Dann ist auch der Keller abzubrechen und die Grube so zu verfüllen und mit Muttererde aus einer zertifizierten biologischen Kompostieranlage abzudecken, dass das Grundstück in seinen Urzustand zurückversetzt wird.“

„Und dann?“

„Nichts, und dann. Der im letzten Jahr verabschiedete Bundes-Flächen-Nutzungsplan weist dieses Gebiet als ein RnzL1-Gebiet aus.“

„Was ist das, RnzL1?“

„RnzL1, das heißt Renaturierung zersiedelter Landschaften. Das Grundstück bleibt unbebaut liegen. Es trifft ja nicht nur Sie. Insgesamt wollen wir in diesem Gebiet hier rund 20.000 Hektar zusammenhängend renaturieren und zum Flora-Fauna-Habitat der Klasse FFH1 umwandeln. Das heißt, dass in einem halben Jahr hier weit und breit kein Einfamilienhaus mehr zu sehen sein wird, und dann werden wir auch die komplette Infrastruktur zurückbauen, da wird es keine Straße mehr geben und keinen Gehweg, keine Wasserleitung, keinen Kanal, kein Stromkabel und kein Telefonkabel. Das bezahlt dann aber das Umweltministerium.“

„Heißt das, die Kosten für den Abriss meines Hauses habe ich selbst zu tragen?“

„Selbstverständlich. Hier gilt das Verursacherprinzip. Sie, als Rechtsnachfolger Ihres Vaters, sind für den angerichteten Schaden verantwortlich und haben folglich auch die Kosten der Schadensbeseitigung zu tragen.“

„Was heißt hier Schaden?“, wollte ich wissen und bin dabei in Rage geraten und ziemlich laut geworden. „Seit wann ist ein Haus, ein gutes und nutzbares Haus ein Schaden? Ihr habt sie doch nicht mehr alle …“

„Ich warne Sie, ich warne Sie zum letzten Mal. Sie haben sich kooperativ zu verhalten. Noch ein Wort, und Sie machen sich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates und der Verächtlichmachung seiner Repräsentanten schuldig. Da ist die Erzwingungshaft praktisch vorprogrammiert.“

„Entschuldigung“, krächzte ich mit schlagartig trocken gewordenem Hals. „Entschuldigung, aber das war jetzt einfach ein Schock für mich. Ich weiß ja gar nicht, womit ich das bezahlen soll.“

„Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Das ist alles geregelt. Moment, ich habe hier Ihre aktuellen Kontodaten auf dem Laptop. Girokonto: 2.432,65 Euro, Sparkonto: 12.981,02 Euro. Das scheint alles zu sein. Rund 15.000 Euro. Sehen Sie, da klicke ich jetzt hier auf „Einzug“ – und schon liegt das Geld auf dem für Sie geführten Rückbaukonto beim Bundesamt für Wohnungsdurchsetzungsmaßnahmen. Sie reichen fällige Rechnungen der Abbruch- und Erdbauunternehmen, sowie dann die Rechnung des Landschaftsgärtners einfach beim Amt ein, und die begleichen das zunächst aus diesem Guthaben.“

„Aber das wird nicht reichen“, meinte ich, „so wie ich das einschätze, werden Kosten in Höhe von rund 50 bis 60.000 Euro anfallen. Mehr als die 15.000 habe ich aber nicht.“

„Ich wollte das gerade ausführen. Wenn Ihr Guthaben beim BA WDM aufgebraucht ist, werden wir darüber hinaus fällige Beträge von Ihrem Rentenkonto abziehen. Sie merken davon nicht viel. Ihre monatliche Rentenzahlung fällt halt etwas geringer aus. Nach meiner Erfahrung wird das in Ihrem Fall, wenn die Maßnahme abgeschlossen ist, auf eine Rentenkürzung um etwa 350 bis 400 Euro pro Monat hinauslaufen.“

„Und wovon soll ich dann leben?“

„Nicht so weinerlich. Ich sehe, dass Ihre Monatsrente derzeit bei 1.187,36 Euro liegt. Da bleiben Ihnen immer noch 800 Euro zum Leben. Das liegt klar über dem Regelsatz. Damit gehören Sie immer noch zu den Privilegierten unter dem Prekariat.“

„Aber davon kann ich doch nicht einmal die Miete bezahlen, falls ich überhaupt so schnell eine Wohnung finde.“

„Tut mir leid. Das liegt außerhalb meiner Zuständigkeit. Ich kann Ihnen aber sagen, dass die Mieten für Alleinstehende in unseren modernen, öko-ökologisch-verdichteten Wohnanstalten auf den kleinen Geldbeutel zugeschnitten sind. 18 Quadratmeter im Wohnheim mit 3000 Einheiten, errichtet in kohlefaserverstärkter, doppelwandiger Wellpappbauweise mit Gemeinschaftsbad und -Toiletten werden aktuell noch für 210 Euro Kaltmiete angeboten. Bewerben Sie sich bald, bevor die Preise wegen der schnell wachsenden Nachfrage anziehen. Ansonsten können Sie sich natürlich auch an das zuständige Sozialamt wenden.“

Damit wendete sich die Beratungsperson von mir ab, bestieg das Nutzlastenabteil des Lastenfahrrads und gab dem Chauffeur die nächste Adresse an: „Wotan Weg 33, aber ein bisschen fix. Ich bin spät dran. Diese Alten quasseln einem die Ohren voll. Zum Kotzen!“

Ich wartete, bis das Lastenfahrrad weit genug weg war. Dann flüsterte ich der Beratungsperson ein aus dem Herzen kommendes, glücklich befreiendes „Arschloch!“ hinterher.  

Ihr
werdet
nichts besitzen,

aber glücklich
sein.