Paukenschlag am Donnerstag, No. 1 /2020, hier auch als PDF verfügbar PaD 1 2020 Erfahrung oder Vorurteil
Der Text dieses Paukenschlages ist nicht neu. Er stammt aus dem Juni 2016 und trug damals den Titel „Rettet das Vorurteil“.
Mir scheint er heute jedoch noch um vieles wichtiger zu sein als vor dreieinhalb Jahren, denn die Zahl der jungen, ja jugendlichen, wenn nicht gar kindlichen Besserwisser und die Schar ihrer blindgläubigen Anhänger in allen Altersklassen hat eine bedrohliche Größenordnung angenommen. Deren Grundüberzeugung, bis vor etwa zehn Jahren sei auf dieser Welt ALLES VOLLKOMMEN FALSCH gemacht worden, so dass sie, die Zehn- und Fünfzehnjährigen nun ALLES ANDERS machen müssten, zur Not auch mit Gewalt gegen jeglichen Widerstand, macht mir Sorge, ja sogar ein bisschen Angst. Wobei ich gerne gestehe, dass ich selbst einst ebenfalls um einiges jünger und dümmer gewesen bin.
Es gab eine Zeit in meinem Leben, da war ich erbost darüber, dass die alten Männer, die in den Regierungen, in den Vereinen, in den Kirchen das Sagen haben, so schrecklich verkalkt und verknöchert, allem Neuen abwehrend gegenüber eingestellt und vor allem darauf aus waren, irgendwie den Status quo zu wahren, außer, es bestand die Möglichkeit, den eigenen Einflussbereich auszuweiten.
Dass diese alten Männer im Laufe ihres Lebens einen Erkenntnisprozess durchgemacht haben könnten, der eine Einstellung, Verhaltens- und Handlungsweise hervorgebracht hat, die nicht etwa dafür kennzeichnend ist, dass sie sich seit ihrem 25. Lebensjahr nicht mehr weiterentwickelt haben, sondern, ganz im Gegenteil, der Ausdruck der Summe ihrer immer wieder revidierten und erweiterten Erfahrungen sein könnte, hat sich mir lange nicht erschlossen.
Es ist offenkundig, dass nicht jeder Mensch mit dem Alter weise wird, doch die Weisen von den Törichten zu unterscheiden, ist schwierig. Die Jungen neigen dazu, die Altersweisheit gering zu schätzen, halten sie für Verschrobenheit, während sie die auf einer frühen Entwicklungsstufe stehen gebliebenen – törichten – Alten bewundern, vor allem, wenn diese immer noch allen Verrücktheiten der Jugend nacheifern, auf jeden Trend mit aufspringen und die gerade aktuelle veröffentlichte Meinung als Offenbarung an- und aufnehmen.
Geschichte wiederholt sich. Nicht auf Punkt und Komma genau, doch deutlich genug, um die Neuinszenierung an der Vorangegangenen messen zu können. Gerne werden die Kulissen neu gestaltet und die Kostüme ausgetauscht. Manchmal werden Charaktere neu interpretiert, Rollen vertauscht, aber fast nie ändert sich der Spannungsbogen, der von einer vorgegebenen Ausgangsposition über den daraus entstehenden Konflikt zu einem unweigerlich eintretenden Ende führt, bei dem es in der Regel dazu kommt, dass Gewinner/Sieger über Verlierer/Besiegte triumphieren. Selten gibt es nur Verlierer, ganz selten nur Gewinner.
Esoteriker erklären diese „historischen“ Wiederholungen damit, dass jeder Einzelne, aber auch jede Gemeinschaft, jede Gesellschaft, eine (Lebens-) Aufgabe zu bewältigen habe, die sich großenteils aus altem Karma ergibt, dass die Verweigerung des jeweiligen Lernschrittes dazu führt, dass das Problem neu und noch deutlicher ins Leben tritt, bis das „Geistwesen“ sich aus den alten Verirrungen und Verwirrungen gelöst hat und bereit ist, auf eine höhere Erkenntnisstufe, auf eine höhere Schwingungsebene aufzusteigen.
Der nüchtern denkende und rational handelnde Mensch kommt zu dem Schluss, dass bestimmte Konstellationen bestimmte Reaktionen herausfordern. Die oft unerwarteten Folgen solcher Reaktionen werden allerdings erst sichtbar, wenn die falsche Entscheidung getroffen und umgesetzt worden ist.
Ein einfaches Beispiel dafür ist das Schachspiel. Ein Anfänger verliert gegen einen Meisterspieler, weil er nur die aktuelle Konstellation der Figuren auf dem Brett wahrnimmt und nicht mehr als vielleicht zwei oder drei Halbzüge vorauszudenken vermag. Der Spatz in der Hand sei besser als die Taube auf dem Dach, sagt ein Sprichwort, und bestärkt damit den Anfänger in seinem kurzsichtigen Denken. Dabei geht es beim Schach nicht darum, gegnerische Figuren zu schlagen, das ist nur eines der Mittel des Spielers. Es geht darum den gegnerischen König (die Taube auf dem Dach) handlungsunfähig zu machen, und dazu bedarf es großer Erfahrung, um auf Standardaktionen des Gegners schnell und souverän antworten zu können, sowie einer weit in die Zukunft zielenden strategischen Planung, um die erwünschte Gesamtsituation, das Matt, herstellen zu können.
Im Spiel zweier ungefähr gleichstarker Gegner kommt es bisweilen zu einer Situation, in der sich beide Seiten paralysiert haben, es scheint keinem mehr möglich, die Partie zu gewinnen, und bei sehr guten Spielern ist das in der Regel dann auch der Fall. Dann haben beide verloren.
Die dritte Möglichkeit – beide haben gewonnen – ist beim Schachspiel nicht vorgesehen, jedenfalls nicht auf der Ebene des Schachspiels, wohl aber auf der Meta-Ebene der persönlichen Beziehung, die es ermöglicht, dass beide sich beim Spiel besser kennenlernen, so dass sie im gemeinsamen spielerischen Wettstreit Freude gewinnen und die Frage nach dem Ausgang der Partie so weit in den Hintergrund tritt, dass sich der Verlierer nicht als Verlierer, der Gewinner nicht als Gewinner sieht, sondern beide sich als Freunde wahrnehmen, deren Freundschaft sich mit der Schachpartie noch vertieft hat.
Als Zbigniew Brzezinski die Welt als ein großes Schachbrett betrachtete und daraus den größenwahnsinnigen Anspruch ableitete, die USA müssten dieses Schachbrett als die einzige Supermacht beherrschen, fand dieses Denken auf einer sehr niedrigen geistigen Ebene statt, einer Ebene, die vollkommen an das Materielle gebunden und auf das Materielle ausgerichtet ist. In dieser Spielstrategie hat „Freundschaft“ keinen Platz, allenfalls „Nützlichkeit auf Zeit“, und am Ende der Partie werden die Kontrahenten nicht gemeinsam eine gute Flasche Rotwein genießen und das Spiel rekapitulieren, am Ende dieser Partie soll der gegnerische König in die Mülltonne geworfen und die Mülltonne angezündet werden. Das „Grand Chessboard“ des Brzezinski ist ein einziger Aufruf zu Feindschaft und Krieg mit allen Mitteln gegen alle und jeden, mit dem Ziel der totalen Beherrschung und Unterdrückung der ganzen Welt – einschließlich der Bevölkerung der USA!
Moralisch ebenso verwerflich ist es, dieses Streben und das daraus folgende, auf der ganzen Welt sichtbare Verhalten der USA, zu entschuldigen. Am verwerflichsten ist es jedoch, wenn jede begründete Kritik mit dem Argument zurückgewiesen wird, es handle sich doch nur um unreflektiert wiedergekäute Vorurteile, dumpfen Antiamerikanismus oder Antikapitalismus.
Ich schreibe diese Zeilen, um „das Vorurteil“ aus der Schmuddelkiste zu befreien, in die es vollkommen ungerechtfertigt geworfen wurde. Dazu, zum Schluss dieses Vorworts, eine Anregung: Besuchen Sie ein Schachturnier. Halten Sie sich in der Nähe eines kundigen Besuchers auf – und wenn der dann eine gerade begonnene Partie ansieht und – zum Beispiel – sagt: „Interessant, eine Benoni-Eröffnung“, dann bauen Sie sich vor ihm auf und rügen ihn mit den Worten: „Sie immer, mit Ihren Vorurteilen!“.
Sollte Ihr Gegenüber Spaß verstehen, wird er in ein brüllendes Gelächter ausbrechen. Versteht er keinen Spaß, könnten Sie sich blitzschnell eine Ohrfeige einfangen.
1 Was ist überhaupt ein Vorurteil?
Ein Vorurteil ist eine verhaltensbestimmende pauschale Aussage über mögliche Konsequenzen aus einer bestimmten Konstellation von Subjekten und/oder Objekten.
Wo pauschalen Aussagen das Merkmal der verhaltensbestimmenden Wirkung fehlt, handelt es sich nicht um Vorurteile, sondern lediglich um kaum gefestigte Meinungen, die noch für eine Verifikation offen sind und daher auch keine erkennbare Wirkung zeigen. Eine Meinung ohne verhaltensbestimmende Wirkung führt, bei Eintreten der maßgeblichen Konstellation, entweder zu einer Enttäuschung oder sie wird bestärkt. Die mehrfache Wiederholung der Enttäuschung führt zur Aufgabe der vorgefassten Meinung, die mehrfache Wiederholung der Bestätigung führt zur gefestigten Meinung und letztendlich zur Manifestation eines Vorurteils, das als Reaktionsmuster ins Verhaltensrepertoire eingeht.
Das Vorurteil ist demnach das Ergebnis eines Lernprozesses. Solche Lernprozesse können im einzelnen Individuum ebenso zur Bildung von Vorurteilen führen, wie sie innerhalb einer Gruppe entstehen und so zum gemeinsamen Besitz der Gruppe werden können. Häufig tritt die Bildung wirksamer Vorurteile nicht als Folge eigenen Erlebens auf, sondern als Folge der direkten oder indirekten Beobachtung fremden Erlebens.
Je mehr Kommunikationsmittel einer Gesellschaft zur Verfügung stehen, desto höher der Anteil derjenigen Vorurteile, die weder aus eigenem Erleben, noch aus eigener Beobachtung, sondern nur „aus dem Hörensagen“ entstanden sind. Dennoch können diese übernommenen Vorurteile ebenso verhaltensbestimmend sein, wie selbst erworbene, vorausgesetzt, es besteht gegenüber dem Vermittler des Vorurteils ein weiteres Vorurteil, nämlich das Vorurteil der Glaubwürdigkeit, was zumeist nicht als Vorurteil erkannt und daher als „Vertrauen“ bezeichnet wird.
Der Satz: „Die Tagesschau vermittelt ein glaubwürdiges Bild des aktuellen Weltgeschehens“, der zum Vorurteil gegenüber Meldungen der alternativen Medien geronnen ist, hat zur Folge, dass der von der Tagesschau vermittelte Satz: „Die Russen bereiten einen Angriffskrieg vor“, zum Vorurteil gegen Russland wird, was das Verhalten dahingehend bestimmt, dass die Aufrüstung des Militärs befürwortet wird.
Schwindet das Vertrauen in die Nachrichten der ARD, brechen die darauf aufgebauten Vorurteile zwar nicht schlagartig bei allen derart indoktrinierten Menschen vollständig zusammen, dazu sind sie zu tief im Unbewussten verankert, doch ihre handlungsbestimmende Wirkung lässt nach, es setzt ein Erosionsprozess ein, in dessen Verlauf auch die Mehrheiten für die Aufrüstung dahinschmelzen.
Was also ist ein Vorurteil?
Das individuelle Vorurteil ist die Folge einer Prägung durch Ereignisse und Erfahrungen der individuellen Vergangenheit. Das kollektive Vorurteil ist von anderer Qualtität, denn es ist darüber hinaus auch ein gemeinschaftsstiftendes Element, ein Bestandteil des Wertekanons. Der Verhaltenskodex wird von kollektiven Vorurteilen geprägt. Wer sein Verhalten am kollektiven Vorurteil ausrichtet, ist gruppenzugehörig, wer die kollektiven Vorurteile leugnet, schließt sich selbst aus der Gemeinschaft aus, macht sich zum exzentrischen Einzelgänger, zum Spinner, zu einem, der schon sehen wird, was er davon hat.
Den meisten Menschen ist es wichtiger, einer Gemeinschaft anzugehören und darin ihren festen Platz zu haben, als ihre abweichenden Einsichten und Erkenntnisse offen zu vertreten, wenn dabei die Gefahr besteht, sich selbst aus der Gemeinschaft auszuschließen. Das Bedürfnis nach sozialer Bindung, nach Anerkennung und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ist extrem stark. Dies hat zwei gewichtige Ursachen. Einmal gibt die Gruppe Schutz und Sicherheit und kann viele Bedürfnisse besser erfüllen, als es dem Einzelindividuum möglich ist, zum anderen enthebt die Gruppe aber auch von der Anstrengung, zu einer eigenen Meinung zu finden, vor allem dann, wenn es um moralische Kategorien geht. Was ist erlaubt, was ist verboten, was ist gut, was ist böse, was soll ich tun, was soll ich lassen? Wenn die Gruppe ihre diesbezüglichen Glaubenssätze gefestigt hat, ist das Leben ganz und gar einfach und das Gewissen so lange unbelastet, wie dem Gesetz der Gruppe Folge geleistet wird.
Mit dieser Feststellung fallen Vorurteil, Gesetz und Glaubenslehre auf der gleichen Betrachtungsebene zusammen. Alle sind sie gemeinschaftsstiftend und ersetzen eigenes Denken durch eine vorgegebene Unterscheidung zwischen richtig und falsch. Ganz und gar unabhängig von der moralischen Wertung der jeweiligen Absichten wird diejenige Gruppe am effizientesten ihre Ziele verfolgen können, die in sich am „einigsten“ ist, denn in ihr entfallen alle zeitraubenden Auseinandersetzungen um die Richtigkeit und Angemessenheit des kollektiven und individuellen Verhaltens.
Beim Militär erzwingt man diese Einigkeit im kollektiven Verhalten durch das Prinzip von Befehl und Gehorsam, dessen Verletzung mit sehr harten Strafen, oft mit dem Tod, geahndet wird. In Religionsgemeinschaften erzwingt man es durch die Androhung von Höllenqualen bei Fehlverhalten und die Verheißung eines Paradieses bei Wohlverhalten. In staatlichen Verbänden ist es nicht anders, die Strafandrohung soll Gesetzesverstöße verhindern, Orden und Ehrungen sollen besonderes Wohlverhalten beispielhaft herausheben.
Das nicht durch Gesetz und Glaubenssätze gefestigte kollektive Vorurteil folgt ungeschriebenen Regeln, denen jedoch ebenfalls mit Strafe (Ausschluss) und Ehre (Idolisierung) zur Geltung verholfen wird.
Der Unterschied zwischen diesen drei Kategorien von Gruppenzwang erschließt sich erst, wenn man erkennt, dass die Dogmen des Glaubens erstarrte Formen sind, deren Ursprung sich den Gläubigen durch eigenes Erleben nicht mehr offenbaren kann, während die Gesetze des Staates in halbwegs geordneten Prozessen entstehen und angepasst werden können, wenn sich Mehrheiten dafür finden. Das (noch nicht im Wertekanon erstarrte) Vorurteil hingegen entzieht sich jedem regulatorischen Zugriff, es entsteht ohne Absicht, es besteht, so lange es Vorteile bringt, und es vergeht wieder oder wird durch ein neues Vorurteil ausgetauscht, wenn sich sein verhaltensbestimmender Kern als untauglich oder ineffizient erweist.
Während sich das erfahrungsgestützte Vorurteil jeglicher regulatorischen Einwirkung verschließt, kann das „nur kommunizierte“ Vorurteil ganz gezielt geschaffen und in der Bevölkerung verankert werden, so lange das Vertrauen in die Kommunikationsquelle bzw. den Verbreitungskanal hoch ist.
Hier handelt es sich um gezielte Meinungsmanipulation, die mit dem eigentlichen „ehrlichen“ Vorurteil nichts zu tun hat, außer, dass damit die gleiche handlungsbestimmende Wirkung hervorgerufen werden kann. Dies erfordert allerdings, dass konsequent alle Widersprüche getilgt, alle der Manipulation entgegen laufenden Informationen unterdrückt und jede kritische Frage im Keim erstickt werden muss. Das gezielt kommunizierte Vorurteil ist der Sockel, auf dem nach und nach ein immer größer werdendes Lügengebäude errichtet werden muss, um die Wirkung aufrecht zu erhalten, was nicht zuletzt auch mit dem Mittel der „political correctness“ durchzusetzen versucht wird.
2 Beispiele für Vorurteile
Es ist nicht einfach, Beispiele für Vorurteile niederzuschreiben, ohne damit entweder diejenigen, die sie teilen, oder diejenigen, die sie nicht teilen, innerlich auf die Palme zu bringen. Es ist auch nicht einfach, jenen Bereich der Vorurteile, der über die am meisten verbreiteten Klischees hinausgeht, in den Vordergrund zu stellen, und eben jene Klischees wie „rothaarige Frauen sind sexbesessen“, „Blut ist dicker als Wasser“, oder „fünf Pfund Rindleisch ergeben eine gute Suppe“ fürs Erste vollständig auszuklammern. Es bleibt nämlich nicht viel übrig.
Fünf Beispiele aus dem Bereich des Sports:
- Die Spieler des 1. FC Bayern sind arrogant.
- Handball ist langweilig.
- Boxer hauen sich die Birne weich.
- Radrennfahrer dopen.
- Welt-Sportorganisationen sind korrupt.
Das sind Vorurteile, die vermutlich von 90 Prozent der Interessierten geteilt werden, obwohl keines der Vorurteile so pauschal und für jeden möglichen Einzelfall bestätigt werden kann. Denn:
- Wenn eine Mannschaft meistens gewinnt, dann strahlt sie Selbstvertrauen aus, einige Spieler werden dadurch sicherlich überheblich und arrogant, doch sind da nicht auch jede Menge nette Jungs dabei, die man gerne in der eigenen Nachbarschaft hätte?
- Wer eine Sportart nicht kennt und wegen der Schnelligkeit der Spielzüge auch kaum eine Chance hat, herauszufinden, was da eigentlich passiert, wird sich womöglich gelangweilt abwenden und lieber wieder Fußball schauen. Da weiß man wenigstens, was gespielt wird.
Handballer hingegen finden Fußball eher langweilig. - So ein Schlag gegen den Schädel kann schon zu einer Gehirnerschütterung führen. Außerdem sind Boxer eher für große (und dumme) Sprüche vor dem Kampf berühmt, als für besondere Intelligenzleistungen. Doch wer ein bisschen nachgräbt, findet haufenweise geistig rege und gesunde Boxer, die sich aus Altersgründen vom Sport zurückgezogen haben.
- Ganz bestimmt, ganz, ganz bestimmt gibt es irgendwo auf der Welt einen Radrennfahrer, der noch nie gedopt hat. Es ist nur schwer, den unter all jenen herauszufinden, die behaupten, noch nie gedopt zu haben.
- Kann man so nicht sagen. Wer kennt schon alle Dachorganisationen aller Sportarten? Und nicht bei allen geht es nur ums Geld.
Es ist gar nicht so einfach, diese Vorurteile zu entkräften, und wer sein Handeln daran orientiert, also lieber eine St. Pauli Flagge an die Wand nagelt, als sich einen Bayern Schal um den Hals zu legen, wer bei Handball wegschaltet, wer Boxen für einen rohen Sport hält und sich und seinen Kopf nicht mit Fausthieben malträtieren lassen will, der lässt es eben. Wer davon ausgeht, dass alle Radrennfahrer dopen, der wird vorsichtshalber nicht auf Radrennen wetten, und wer alle Welt-Sportorganisationen für korrupt hält, wird vermutlich nicht für die FiFa spenden, wenn dazu aufgerufen wird.
Damit haben sich alle Vorurteile für alle, die ihr Handeln danach ausrichten, ganz bestimmt als sinnvoll erwiesen – und sie haben niemandem damit geschadet.
Oder hat etwa der FC Bayern einen Anspruch darauf, von allen Menschen in Deutschland geliebt zu werden? Haben Handballer einen Anspruch darauf, dass zu ihren Spielen genauso viele Menschen kommen, wie zu den Spielen der Fußball-Bundesliga? Ist es diskriminierend für den Boxsport, wenn sich jemand dagegen entscheidet, Boxhandschuhe anzuziehen? Haben das Olympische Komitee oder die FiFa ein Anrecht auf Spenden von Jedermann?
Raffinierte Winkeladvokaten haben sich für diese Fälle den Tatbestand der Diskriminierung ausgedacht, der inzwischen weit ins deutsche Rechtssystem vorgedrungen ist.
Mit nur mäßiger Übertreibung kann festgestellt werden, dass wir uns in einem Staat befinden, in dem sich ein Schäferhund mit dem Recht auf Klage schon diskriminiert fühlen darf, wenn er unverkauft beim Züchter bleibt, weil sich der Interessent dann doch für den Dackel entschieden hat.
Freundliche, auf Ausgleich bedachte Menschen, sehen im Vorurteil eher den Anlass, darauf hinzuweisen,
- dass man doch nicht gleich alle über einen Kamm scheren darf, nur weil …
- dass man ruhig auch einmal zum Boxtraining gehen sollte, weil man erst dann überhaupt mitreden kann,
- dass Doping halt einfach alternativlos ist, wenn man überhaupt mitfahren dürfen will,
- usw.
Das alles hat aber mit dem Menschen, der sein Vorurteil pflegt und gut damit lebt ohne einen anderen damit zu schädigen, überhaupt nichts mehr zu tun. Es handelt sich bei diesen „Einlenk-Versuchen“ ebenfalls um ein Vorurteil, von dem inzwischen sehr viele Menschen besessen sind, das da lautet: „Je mehr Vorurteile ausgerottet werden, desto besser wird die Welt“.
Es folgen fünf weiter Beispiele aus dem Bereich des täglichen Lebens:
- Radfahrer sind rücksichtslos.
- Hülsenfrüchte verursachen Blähungen.
- Fernsehen macht doof.
- Lehrer sind faul.
- Katzen sind nicht erziehbar.
Auch diese Vorurteile werden wohl von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung geteilt, obwohl es rücksichtsvolle Radfahrer ebenso gibt, wie Hülsenfruchtgerichte nicht bei jedem Menschen die gleiche Wirkung haben. Fernsehen kann doof machen, kann aber auch lehrreich sein. Es gibt engagierte und resignierte Lehrer – und es gibt Katzen, die sehr wohl auf die Wünsche ihrer Halter eingehen. Bedacht werden sollte dabei:
- Wer jedoch als Autofahrer oder Fußgänger in der Stadt unterwegs ist, tut gut daran stets darauf zu achten, ob nicht urplötzlich ein Radfahrer angeschossen kommt. Vor allem beim Abbiegen oder Spurwechsel, aber auch bei einer – noch so geringfügigen Seitwärtsbewegung auf dem Bürgersteig, kann es zur Kollision mit einem Radfahrer kommen.
- Wer ein Problem mit dem Magen-Darm-Trakt hat, wird Hülsenfrüchte möglichst meiden, so wie derjenige, der auf dem Weg zu einem wichtigen Termin ist, einem Vorstellungsgespräch, B., vorsichtshalber 24 Stunden vorher Hülsenfrüchte meiden wird.
- Wer viele Leute kennt, die den halben Tag vor der Glotze verbringen, wird dieses Vorurteil als Gewissheit mit sich herumtragen und selbst versuchen, sich ein anspruchsvolles Programm auszuwählen, statt wahllos alles über sich hereinbrechen zu lassen, was quotengeile Programmgestalter auf die Menschheit loslassen.
- Wer beruflich, oder als Elternteil schulpflichtiger Kinder, mit Lehrern zu tun hat, tut gut daran sich darauf einzustellen, dass jeder Lehrer auf Sonderwünsche allergisch reagiert und gar nicht auf alle, noch so guten Anregungen eingehen kann, weil er sonst das im Lehrplan vorgeschriebene Pensum nicht schafft. Je geringer die Erwartungshaltung, desto größer die Freude, wenn der Lehrer auf Sorgen und Nöte freiwillig mit eigenem Arbeitseinsatz eingeht.
- Wer sich ein Haustier anschaffen will, das sich abrichten lässt, wie ein Hund, sollte nicht an eine Katze denken. Katzen sind eigenwillig und brauchen sehr viel mehr Einfühlungsvermögen und Liebe als ein Hund. Bekommen sie das, sind viele auch bereit, sich mit dem Halter zu arrangieren.
Die bisher vorgestellten Beispiele zeigen, dass der Unterschied zwischen Vorurteil und Erfahrungswissen nicht an einer bestimmten Grenzlinie eindeutig festzustellen ist. Es scheint eher so, dass die Bezeichnungen „Vorurteil“, „Erfahrung“ oder „Wissen“ willkürlich und wertend gewählt werden, um bestimmtes Wissen als Vorurteil zu diskriminieren – oder eben nicht.
Der Grad der Unschärfe des jeweiligen Wissens spielt dabei eine untergeordnete Rolle.
Die Bezeichnung „Vorurteil“ ist ein Kampfbegriff, mit dem unerwünschtes Verhalten unterbunden werden soll.
Dabei ist der gesamte, das Überleben sichernde, menschliche Wahrnehmungs- und Reaktionsapparat auf der Basis von „Vorurteilen“ aufgebaut. Ein sich bewegender Körper in 100 Meter Entfernung wird mühelos anhand sehr weniger signifikanter Merkmale als das identifiziert, was er ist. Eine Kuh, ein Hund, ein Fußgänger, ein Radfahrer, ein Greifvogel, ein Modellflugzeug. Die Silhouette und vielleicht typische Bewegungsmuster reichen vollkommen aus, um augenblicklich ein Vor-Urteil zu fällen.
Der Kuh wird man dann vermutlich vorsichtshalber aus dem Weg gehen, der unbekannte Hund sorgt für Aufmerksamkeit und Abwehrbereitschaft, der Fußgänger erfordert keine Aufmerksamkeit, der Radfahrer, falls er sich schnell nähert, könnte ein Ausweichen Richtung Wegesrand auslösen, der Greifvogel wird mit Interesse verfolgt, ebenso wie das Modellflugzeug. Für diese Reaktionen ist es nicht erforderlich, zu erkennen ob es sich bei der Kuh tatsächlich um eine Kuh, einen Stier oder einen Ochsen handelt. Es kommt auch nicht auf die Rasse an, nicht auf das Alter, nicht auf den Zustand des Fells oder der Klauen. Das interessiert den Milchviehhalter und den Metzger. Es ist für den Spaziergänger in der Natur vollkommen ohne Belang. Ob es sich bei dem Fußgänger oder dem Radfahrer um einen Mann oder um eine Frau handelt, ist auf 100 Meter Distanz ebenfalls nicht von Belang, wichtig ist, dass der vollkommen unbekannte Radfahrer als gefährlicher eingeschätzt wird als ein Fußgänger. Ähnliches gilt für Greifvogel und Modellflugzeug.
Entfernt man sich aus der Rolle des Individuums und begibt sich in die Sphäre von Entscheidungsträgern, Managern, Politikern, dann verlieren auch diese signifikanten Merkmale aus der realen Welt ihre Bedeutung und werden durch noch weiter komprimierte und pauschalisierte Abstraktionen ersetzt. Dort erkennt, denkt und spricht man nicht von Hans und Roswitha, sondern von „Einwohnern pro Quadratkilometer“, von den monatlichen Erträgen der Mehrwertsteuer, von der Feuerkraft der russischen Artillerie, von Hartz-IV-Sätzen, von der Umsatzrendite und vom Kostenfaktor Mindestlohn. Alles Wirkliche, Reale wird ausgeblendet und ersetzt durch Zahlen, die man in Formeln einsetzen und in Grafiken darstellen kann, um daraus extrem pauschalisierende Entscheidungen abzuleiten.
Vermutlich gibt es in der Bundesrepublik keinen einzigen realen Quadratkilometer, auf dem exakt so viele Menschen mit Wohnsitz gemeldet sind, wie es der Durchschnittswert für jeden Quadratkilometer suggeriert. Vermutlich weiß niemand, wie viel Mehrwertsteuer von jenen Menschen aufgebracht wird, von denen öffentlich behauptet wird, sie zahlten ja überhaupt keine Steuern, vermutlich kennt niemand die wahren Truppenstärken, den Kampfgeist, die Munitionsvorräte der russischen Artillerie, aber es werden vorsichtshalber Annahmen getroffen, die ähnlich zutreffend sind, wie die Einschätzung der Gefährlichkeit eines entgegenkommenden Radfahrers. Wahrscheinlich trägt der Mindestlohn bei einigen Unternehmen zur Steigerung der Kapitalrendite bei, obwohl die Umsatzrendite durch den Mindestlohn sinkt, doch schon diese geringfügigen Differenzierungen werden bei allen Entscheidungen ausgeblendet. Da heißt es schlicht: Steigende Löhne senken den Gewinn. Und es wird alles getan, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.
Eine richtige, klug vorausschauende, aber dringliche Entscheidung in nur kurzer Zeit zu treffen, ist ohne einen umfangreichen Vorrat an Vorurteilen, also ohne umfangreiches Wissen und Erfahrung, ohne die Fähigkeit zur abstrahierenden Verallgemeinerung und ohne gewohnheitsmäßig fast automatisch ablaufende Denk- und Handlungsprozesse kaum möglich.
Einen dunklen Streifen am Horizont als Wald zu identifizieren gelingt selbst dann, wenn es nicht möglich ist, innerhalb dieses dunklen Streifens einzelne Bäume zu identifizieren, geschweige denn erkennen zu können, ob es sich dort um Eichen oder Buchen, um Tannen oder Fichten handelt. Das ist auch vollkommen egal, wenn die Vorzüge des Waldes (Schutz, Deckung, Holzgewinnung, Jagd, etc.) genutzt werden sollen. Dann wird man nämlich versuchen, den Wald zu erreichen. Will man hingegen den Nachteilen des Waldes (Unwegsamkeit, Schatten/Dunkelheit, Räuber) ausweichen, wird man versuchen, ihn zu umgehen.
So einfach ist das. Und so richtig ist das.
Ebenso gut und richtig ist es, wenn Ihre inneren Alarmglocken anschlagen, wenn Sie nachts in einer schwach beleuchteten Gasse Schritte hinter sich her kommen hören. Natürlich kann das vollkommen ungefährlich sein. Ein nächtlicher Spaziergänger, genauso harmlos wie Sie selbst, geht den gleichen Weg. Das wird sogar in den meisten Fällen so harmlos sein – dennoch ist Vorsicht geboten, das sagt das uralte innerste Überlebenssystem, das Kleinhirn, und aktiviert den Adrenalin-Ausstoß, um Sie kampf- und fluchtbereit zu machen.
3 Wie instinktives Wissen zum Vorurteil wird
Gerade beim letzten Beispiel, nachts in einer einsamen, spärlich beleuchteten Gasse, instinktiv abwehrbereit zu sein, wenn sich von hinten Schritte nahen, zeigen sich die uralten Wurzeln der „modernen“ Vorurteile. Wir, als Menschen, mit aufrechtem Gang, vollziehen da immer noch nach, was vor Jahrmillionen schon Säugetiere vor uns vollzogen haben. Eine mögliche Gefahr aus einem einzigen Signal der Umwelt heraus zu erkennen und sich in der allerersten Reaktion blitzschnell darauf einzustellen, ist die bestmögliche Verhaltensweise um das eigene Überleben zu sichern. Erst wenn dieses Verhaltensprogramm abgeschlossen ist, kann aus einer gesicherten Position heraus untersucht werden, ob tatsächlich Gefahr droht oder nicht. Das Erkennen des Gegenübers, seiner Fähigkeiten und Absichten ist nicht mehr der Job des Kleinhirns. Hier setzt das bewusste Denken und Erkennen ein, die auf ein einziges Signal reduzierte Gefahr wird mehr und mehr zu einem konkreten Wesen auf das mit genau abgestimmtem Verhalten besser und vielseitiger reagiert werden kann.
Wenn sich nun zwei Menschen in der dunklen Gasse aufeinander zu bewegen, ist einer davon in der Lage, die sich dem anderen von hinten nähernde Gestalt schon klar zu erkennen und als ungefährlich einzustufen, bevor der andere die bedrohlichen Schritte hinter sich überhaupt hört. In dem Augenblick, in dem der sich bedroht Fühlende eine Abwehr- oder Fluchtreaktion zeigt, wird derjenige, der beide auf sich zukommen sah, dazu neigen, dem sich bedroht Fühlenden ein Vorurteil zu unterstellen: „Mein Gott, nicht jeder der sich dir nachts von hinten nähert, will dich überfallen! Das ist mein Freund Wilhelm, wir haben uns hier verabredet, um drüben in der Kneipe noch ein Stündchen zu klönen. Fast hättest du ihn krankenhausreif geschlagen. Du solltest deine Vorurteile wirklich überdenken.“
Die Idee „Vorurteil“ entsteht immer im Kopf desjenigen, der bessere Informationen hat, oder glaubt, die besseren Informationen zu haben.
Die Idee „Vorurteil“ bezieht sich (fast) immer auf ein vermeintlich ungerechtfertigtes Abwehr- oder Ausweichverhalten. Die Verurteilung einer Verhaltensweise als auf einem Vorurteil beruhend, schafft dabei eine hierarchische Distanz zwischen dem Besserwissenden und dem Belehrten und ruft – berechtigten – Widerstand hervor. Berechtigt, weil die erste Reaktion in der jeweiligen Situation vollkommen richtig war. Berechtigt, weil mit der zweiten Stufe – wenn aus dem Gefahrensignal eine konkrete überschaubare Situation geworden ist – die Abwehrhaltung, sollte sie sich als falsch erwiesen haben, ebenfalls aufgegeben worden wäre.
Genau jene Herausforderung zum Widerstand, die vom Besserwissenden ausgeht, kann dazu führen, dass der Gerügte Bestätigungen für sein Vorurteil sucht und, statt seine Reflexe zu kontrollieren, diese Reflexe nun versucht argumentativ zu artikulieren, das heißt, er macht sich sein Verhalten bewusst, rechtfertigt es bewusst und macht es damit vom Reflex zur Meinung.
Selbstverständlich wird er dann Bestätigungen für sein Vorurteil finden, selbst wenn er sie dazu weit an den Haaren herbeiziehen muss, doch in der Regel liegen die Bestätigungen eher ganz offen vor Augen. Es entspinnt sich dann eine Diskussion um quantitative Unterschiede, die niemals zu einer Auflösung von Vorurteilen führen kann, weil das so genannte Vorurteil, der angeborene oder erworbene Reflex, nämlich vor jeder Quantifizierung oder Wahrscheinlichkeitsbetrachtung einsetzt, ja einsetzen muss, um wirksam zu sein, so dass ein einziger Fall eines räuberischen Überfalls auf einen nächtlichen Spaziergänger vollkommen ausreicht, um die Angst vor dem Fremden, die sich in einer Abwehrreaktion äußert, zu begründen.
Zu den wohl verbreitetsten Vorurteilen weltweit zählt das Misstrauen gegenüber Fremden. Hier sind weder die Schweizer noch die Sachsen in einer ausgesprochenen Ausnahme- oder Spitzenreiter-Rolle. Das Misstrauen gegenüber Fremden ist vermutlich der gesamten Menschheit zu Eigen. Da ist es plump und dumm, dieses Misstrauen nur da zu erkennen, wo dem Bauern in Bayern beim Kirchgang der indische Pfarrer präsentiert wird, oder wo sächsische Rentner sich gegen vermummte Burka-Trägerinnen zusammenrotten.
Beginnen wir ganz oben, da, wo der Fisch zu stinken anfängt, bei den Eliten.
Deren Vorurteile gegen die ihnen vollkommen fremd gewordene Bevölkerung äußern sich in Leibwächtern, gepanzerten Limousinen, von Stacheldraht umzäunten Luxushotels und streng abgeschirmten Wohnsitzen.
Wer Angst vor dem eigenen Bürger hat, hat meines Erachtens längst jedes Recht verloren, anderen das Vorurteil der Fremdenfeindlichkeit vorzuhalten.
Wer auf seinen geschützten Reisen in einem Flüchtlingslager, umringt von den eigenen, schwer bewaffneten Bodyguards, einmal für eine halbe Stunde mit ausgewählten Schutzsuchenden spricht, um dann per Hubschrauber wieder in sein Luxushotel zu fliegen, wo er sich von Menschen anderer Hautfarbe dienstbeflissen bedienen lässt, hat keinen Grund, sich unsicher zu fühlen. Signale der Gefahr nimmt er nicht wahr, sie werden von ihm ferngehalten. Demonstranten, die er nicht sehen will oder soll, werden abgedrängt, weit weg von seinen Wegen. In dieser Komfortzone der Geschützten und Umsorgten ist es einfach, jeden Fremden nett und freundlich zu finden. Die anderen kommen schließlich in diesen Hochsicherheits-Elfenbeintürmen gar nicht vor.
Es gibt noch ein zweites fremdenfeindliches Vorurteil der Eliten, nämlich den Hass gegen alle, die sich dem eigenen Zirkel nicht freiwillig anschließen, bzw. unterwerfen. Da werden Vorurteile (der Irak verfügt über Massenvernichtungswaffen) erst erfunden, um die Reaktion darauf dann ausleben zu können. Auch der Hass der westlichen Anführer auf Putin ist nichts als ein künstlich geschaffenes Vorurteil, das man mit Gewalt auch in die Köpfe aller Untertanen hämmern will, weil man sie braucht, um den gewünschten Krieg führen zu können. Da unterscheiden sich Obama, Cameron und Merkel in nichts von jenen, die einst die deutsch-französische Erbfeindschaft predigten, bis Hunderttausende in den Schützengräben verreckt waren. (Sie erinnern sich, der Aufsatz stammt ursprünglich aus 2016 – wer damals das Vorurteil pflegte: „Die Merkel überlebt sie alle“, darf sich heute bestätigt fühlen.)
Hier werden in manipulativer Absicht Vorurteile erzeugt, gepflegt, ja geradezu gehätschelt, obwohl bei nüchterner Betrachtung von Russland weit weniger Bedrohung ausgeht als von der Türkei!
Gleich nach den Eliten kommen alle so genannten Multiplikatoren, also die bekannten Gesichter aus dem Fernsehen, die Klugschreiber in den Zeitungsredaktionen, die Geistlichen auf den Kanzeln und die Vorsitzenden der muslimischen und jüdischen Zentralräte. Sie alle halten sich eng an die Vorgaben der Eliten und verbreiten diese, verbrämt mit ihren eigenen Vorurteilen weiter. Die Tatsache, dass sie Vorurteile verbreiten, weisen sie jedoch weit und empört von sich. Ihre jeweiligen reflexartigen Reaktionen seien keine Vorurteile, sondern – irgendwie – die Folgen historischer Erfahrungen…
Ja. Was ist der Unterschied?
Der Unterschied liegt darin, dass die einen sich für die klügeren, weiseren, erfahreneren Menschen halten, die aus der Geschichte gelernt haben und deshalb ihre (oft falschen) Erwartungen über das Verhalten ihrer Umwelt als begründete Sorgen und Ängste darstellen, während sie die Sorgen und Ängste derjenigen, die in anderen Situationen reflexhaft reagieren, als Vorurteile verurteilen.
Unangenehme Erfahrungen fügen sich stets mehr oder minder schnell zu einem Vorurteil zusammen oder verstärken ein bestehendes.
Heißt es nicht: „Aus Schaden wird man klug“?
Heißt es nicht: „Wer nicht aus der Geschichte lernt, muss sie wiederholen“?
Heißt es nicht: „Der Törichte wiederholt seine Fehler immer wieder, der Kluge macht immer wieder neue“?
Was wäre der Mensch, was wäre ein Volk, was wäre die Menschheit, verfügten nicht jeder Einzelne und alle miteinander über die Fähigkeit aus Erfahrungen zu lernen? Müssen Erfahrungen, um ihre Wirksamkeit zu vergrößern, nicht in pauschalisierende Formen gegossen werden? Sind nicht die alten Volksmärchen nichts anderes als eine Sammlung von Vorurteilen, die man in geeigneter Form auf die Kinder überträgt, um sie vor vielen unangenehmen Überraschungen des Lebens zu schützen?
Die Neigung, bei einem aufziehenden Gewitter Schutz zu suchen, wäre, wenn man nicht pauschalisieren dürfte, doch ein Vorurteil gegenüber allen Blitzen, die nicht bedrohlich nahe kommen, gegen jeden Sturmwind, der das Dach nicht abdeckt, gegen jeden Hagelschlag, der in ausreichender Entfernung vorüberzieht?
Das Vorurteil, Fahrendes Volk nähme es mit dem Eigentum nicht so genau, ist ebenso aus einzelnen Erfahrungen entstanden, wie die Angst vor dem Blitz aus einzelnen Einschlägen entstanden ist. Es ist also immer noch besser, die Haustüre abzusperren, wenn der Zirkus das Zelt drei Straßen weiter auf dem Festplatz aufschlägt. Nicht, weil vollkommen klar ist, dass die Artisten und Helfer jede Nacht stehlend durch die Straßen ziehen, sondern weil die Gefahr eines Diebstahls (vielleicht sogar durch Einheimische, die meinen, den Verdacht jetzt leichter von sich auf andere lenken zu können) eben etwas höher geworden ist. So, wie die Gefahr, vom Blitz getroffen zu werden, bei Gewitter eben etwas höher ist, als bei klarem Himmel.
Warum gibt es Veröffentlichungen mit der Überschrift: „Die Kriminalpolizei rät“? Verbreitet hier nicht die Polizei selbst die schlimmsten Vorurteile gegenüber unbekannten Fremden, die durch Wohnviertel streichen und an Haustüren klingeln? Doch nicht, weil jeder Unbekannte, der an der Haustür klingelt, ein Trickbetrüger oder Dieb ist. Sondern, weil Trickbetrüger und Diebe eben häufig unter einem Vorwand an der Türe klingeln, um sich Zutritt zur Wohnung zu verschaffen.
Selbstverständlich werden jetzt viele sagen: „Da werden doch Äpfel mit Birnen vermengt. Man kann doch nicht jede Erfahrung und jede aus der Erfahrung abgeleitete Reaktion gleich in ein Vorurteil ummünzen.“
Da stellt sich in der Konsequenz jedoch zwangsläufig die Gegenfrage: „Welche Erfahrungen und welche aus Erfahrungen abgeleiteten Reaktionen darf man denn als Vorurteil bezeichnen?“
Die Antwort wird ausbleiben. Unausgesprochen lautet sie: „Alle Erfahrungen, die ich weder selbst gemacht habe noch als Teil der Gruppenintelligenz meiner Familie aufgenommen habe, noch von Medien und Eliten vermittelt bekommen habe, die also meinem Wissens- und Erfahrungsschatz widersprechen, können nur Vorurteile sein.“
Diese Antwort ist arrogant und dumm zugleich. Beschränkt sie den geistigen Horizont doch auf exakt jenen Tellerrand, über den hinauszuschauen verweigert wird, weil es sich in der Suppe der eigenen Vorurteile doch so gut schwimmen lässt, dass man andere Erfahrungen und andere aus der Erfahrung erworbene Reflexe schlicht nicht gelten lassen kann.
Wie schön lässt sich das Vorurteil pflegen: „Wer arbeiten will, findet auch Arbeit.“
Wie beruhigend ist das Vorurteil: „Hartz-IV-Empfängern geht es in der sozialen Hängematte besser als jedem, der hart arbeiten muss, um selbst sein Auskommen zu finanzieren.“
Wie entschuldigend ist das Vorurteil: „Alle haben die gleichen Chancen, sie müssten sie nur nutzen.“
Wie mächtig macht das Vorurteil: „Der Terrorismus lauert an jeder Straßenecke, hinter jeder Fensterscheibe werden Attentate geplant, in jedem Rucksack steckt Sprengstoff!“
Da hört man immer wieder Zahlen, wie viele gewaltbereite Islamisten in Deutschland leben. Meist werden weniger als 1.000 genannt. Gleichzeitig hören wir stets, man könne die nicht alle rund um die Uhr kontrollieren, so wie wir hörten, es sei unmöglich, die Grenzen zu kontrollieren. Auch das sind nur Vorurteile, die jedoch in manipulativer Absicht in die Welt gesetzt werden, um das Vertrauen in die Regierung und den ausufernden Überwachungsstaat zu erhalten.
Selbst die Verwendung des Wortes „alternativlos“ ist immer ein Vorurteil. Es gibt für jedes Problem mindestens zwei Lösungen, meist sehr viel mehr. Wer sich der zweiten Lösung verschließt, oder sie gar nicht zu erkennen vermag, bedient damit nur ein eigenes Vorurteil.
Bei Licht betrachtet, stützt sich jegliches Denken und Handeln der Menschen auf Vorurteile, und nur selten werden Vorurteile durch neue Erkenntnisse aus der Welt geschafft. In der Regel ersetzt lediglich ein neues Vorurteil ein älteres, das nicht mehr haltbar ist. Die Naturwissenschaften nennen ihre Vorurteile den „Stand der Erkenntnis“ und wissen, dass jeder Wissensfortschritt nur neue Fragen aufwirft, die sich zunächst in Hypothesen, dann in Theorien niederschlagen, bis ein neuer Stand der Erkenntnis erreicht ist, von dem aus die früheren Gewissheiten oft als Irrtümer und Torheiten angesehen werden.
Wie lange hat man Vorurteile gegen gesättigte Fettsäuren gepflegt, gutes und schlechtes Cholesterin unterschieden, nur um nach Jahrzehnten sämtliche darauf aufbauenden Theorien und Ernährungsempfehlungen auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen? Die Zahl vergleichbarer Beispiele ist Legion, weshalb es möglich, aber nicht weiterführend ist, wollte man damit beginnen, zwischen „dumpfen“ Vorurteilen und „wissenschaftlich gesicherten“ Vorurteilen zu unterscheiden. Irgendwann wird man sich auch die jetzigen Vorurteile zur Rolle des CO2 im Klimageschehen, durch neue, andere Vorurteile ersetzen, und dann nicht mehr freitags sondern donnerstags zum Hüpfen auf die Straße gehen.
Psychologen und Hirnforscher sind sich heute allerdings weitgehend einig, dass ein dumpfes Bauchgefühl, das gegen eine rationale Entscheidung spricht, in aller Regel den richtigen Weg weist.
Vielleicht liegt in dieser Erkenntnis der tiefere Sinn der Spruchweisheit: „Der Klügere gibt nach.“
Es lohnt sich, über die letzten beiden Sätze gründlich nachzudenken.
Nachgedanke allgemeiner Art
Wo Erfahrungswissen auf inkonsistente Erzählungen mit Misstrauen reagiert, wo also ein Vorurteil gegenüber unglaubwürdigen Erklärungen besteht und die Frage nach dem Nutznießer gestellt wird, mutiert das Vorurteil gerne zur noch verwerflicheren Verschwörungstheorie.
Nachgedanke, aus aktuellem Anlass (2016!)
Der Spiegel berichtet über den Trend, dass Unternehmen bei Neueinstellungen die Zusendung von Fotos der Bewerber ablehnen. Die Begründung klingt verrückt, ich zitiere die Siemens-Personalchefin Janina Kugel, die sagt: „Ganz eindeutig ist es wissenschaftlich bewiesen, dass ein Foto einen Rückschluss auf die Qualifizierung beinhaltet, wenngleich das natürlich nicht unbedingt richtig ist.“
Nur, weil es nicht unbedingt richtig ist …
Ja. Es geht ja auch nicht um Menschen, sondern um Human Ressources, die schlicht zu funktionieren haben. Ob sie funktionieren, kann man vielleicht an Zeugnissen und Lebensläufen ablesen – obwohl das nicht unbedingt richtig ist. Ob sie in das Unternehmen, ob sie zu den Kollegen passen, was man an den Bewerbungsfotos am ehesten erkennen könnte, das soll keine Rolle mehr spielen, denn auch die Kollegen sollen ja nur funktionieren.
Das menschliche Gesicht, das auf den ersten Blick Sympathie oder Antipathie hervorruft, das damit ein sehr gut funktionierendes Frühwarnsystem darstellt und, wenn man sich auf das Bauchgefühl verlässt, viele zwischenmenschliche Katastrophen verhindern kann, wird wegen Vorurteilsverdacht ausgeklammert. Zu Vorstellungsgesprächen werden nur noch optimale „Daten“ eingeladen. Kommen werden Menschen mit Gesichtern. Ob man das nicht auch noch ausschalten kann, damit ja kein Vorurteil eine Chance hat, einen Fehler zu verhindern?