Die Wehrhafte

PaD 48 /2022 – Hier auch als PDF verfügbar: Pad 48 2022 Die Wehrhafte

Die Wehrhafte?

Nein. Da fehlt nichts. Die Überschrift ist vollständig.

Dass Sie daran gewöhnt sind, dass auf die „Die wehrhafte“ stets die „Demokratie“ zu folgen habe, ist nichts als das Ergebnis jahrzehntelanger Wiederholungen.

Die Demokratie, das sind doch nicht Minister, Generalbundesanwälte und Sondereinsatzkommandos. Die Demokratie ist zunächst einmal eine Idee. Eine Idee, die in der Geschichte immer wieder einmal in unterschiedlichsten Formen zur Umsetzung gelangte, und die in Deutschland aus Zeiten stammt, als aufgeklärte Menschen es nicht mehr hinnehmen wollten, dass der einzelne hochwohlgeborene Fürst unter Berufung auf Gottes Gnaden, Gesetzgeber, Vollstrecker und Richter in einer Person sein konnte, während die Vielen, die unter seiner Kuratel standen, kein anderes Recht hatten, als gehorchen zu dürfen.

Die jüngste Form der Demokratie in Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Grundgesetz etabliert, das auch nach dem Beitritt der neuen Bundesländer weiterhin die Grundlage der staatlichen Ordnung bildet, bzw. bilden sollte. Um diese staatliche Ordnung aufrecht erhalten zu können, ist jedoch die vollständige Souveränität des Staates ebenso unabdingbare Voraussetzung wie eine tatsächlich funktionierende Gewaltenteilung.

Daher ging es bei der Diskussion um die Einführung der Notstandsgesetze im Jahre 1968 nicht nur darum, die Auswirkungen dieser Gesetze in einem Szenario des Notstands, der über eine funktionierende Demokratie hereingebrochen ist, sondern auch sehr ernsthaft darum, welche Instrumente damit einer Regierung zur Verfügung gestellt würden, die sich aus den Fesseln von Volkeswillen, Grundrechten und Gewaltenteilung lösen und ihre Macht durch die Errichtung eines religiösen oder ideologischen Gesinnungsstaates für alle Zeiten sichern will.

Selbstverständlich waren die Angehörigen der ersten großen Koalition voller Empörung dabei, sich über etwas zu erregen, was gar nicht Inhalt der Debatte war,  dass man nämlich ihnen derartige Gelüste unterstellen wollte. Vor der Gefahr, dass ihre Nach-Nachfolger dereinst einmal von weniger lauterer Gesinnung sein könnten, verschloss man jedoch nachdrücklich die Augen. Die wehrhafte Demokratie würde das verhindern, auch wenn man ihr mit den Notstandsgesetzen alle Zähne gezogen haben würde.

Mehr als 50 Jahre sind seither vergangen, ohne dass auf diese Notstandsgesetze zurückgegriffen wurde, mit dem seinerzeit befürchteten Ziel, Regierungshandeln gegen das Volk durchzusetzen.  Ein Zeichen für eine lebendige Demokratie?

2018, genau 50 Jahre nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze, habe ich meine Bestandsaufnahme zum Zustand der Demokratie in Deutschland in dem Buch „Demokratie – Fiktion der Volksherrschaft“ erstmals veröffentlicht. Daraus stammt der folgende Auszug:

Demokratie im Endstadium
Ursachen einer Fehlentwicklung
.Die Demokratie, als das Prinzip des Vorrangs der Quantität vor der Qualität, zielt nicht auf das bestmögliche Ergebnis ab, sondern auf die „augenblickliche“ Zufriedenstellung einer Mehrheit, und sei diese noch so klein. Demokratie ist daher in fast allen Lebenslagen ein vollkommen untaugliches Prinzip[1], wenn es gilt, zu vernünftigen Entscheidungen zu gelangen und sie planmäßig umzusetzen. Die nur als schwärmerisch zu bezeichnende Begeisterung für „Demokratie“ rührt von der idealistischen Vorstellung her, es würden sich in demokratischen Gremien zum Zwecke der Willensbildung Menschen mit durchaus unterschiedlichen Erfahrungen und Vorstellungen auf gleicher Augenhöhe begegnen, ihre Vorstellungen und Argumente austauschen, um gemeinsam die optimale Lösung zu suchen, zu finden und zu verwirklichen.Die Voraussetzung für die „ideale Demokratie“ ist jedoch nicht die „Gleich-Berechtigung“ aller konträren Auffassungen und Überzeugungen, die in einer Volksmenge um den Vorrang kämpfen, sondern eine weitgehende Übereinstimmung im Grundsätzlichen, eine weitgehend vergleichbare intellektuelle Leistungsfähigkeit, der Verzicht auf Tricks und Täuschungen und das einsichtige Zurücktreten der Einzelegoismen hinter den Interessen der Gemeinschaft.Um eine solche Homogenität der Entscheidungsfinder erreichen zu können, ist es unumgänglich, die Demokratie in mindestens zwei Abteilungen zu unterscheiden, nämlich die Abteilung derer, die geeignet erscheinen, sich in einem Parlament auf die geschilderte Weise vernünftig zu verständigen, und die Abteilung jener, die nicht selbst in den Entscheidungsfindungsprozess einbezogen werden, sondern lediglich ihre Vertreter in die erste Abteilung entsenden.

Dieser Zwang zur „parlamentarischen Demokratie“, so unausweichlich er erscheint, wenn gute Ergebnisse erzielt werden sollen, verhindert jedoch in der Realität gerade das, was er ermöglichen soll!

In den Parlamenten sitzen zwar die gewählten Volksvertreter, denen durchaus eine gewisse Übereinstimmung im Grundsätzlichen attestiert werden kann, die auch vom Grad der intellektuellen Leistungsfähigkeit her durchaus in der Lage wären, sich untereinander zu verständigen, doch sitzen sie dort eben nicht mehr als kooperierende Sucher und Gestalter der optimalen Lösung, sondern spalten sich auf in zwei oder mehr gegnerische Gruppen, von denen jede überzeugt ist, die optimale Lösung für jedes anstehende Problem bereits zu kennen. Stets setzt sich dabei alleine jene Gruppe durch, die aufgrund ihrer Mehrheit an Sitzen und darauf Sitzenden, die Argumente der Opposition nicht gelten lässt, ja oft nicht einmal anhört. Dies führt schon bei der Konstitution eines Parlamentes regelmäßig dazu, dass die quantitative Mehrheit einer Partei oder Parteienkoalition – aber nicht die qualitative Mehrheit der im Parlament vertretenen Abgeordneten – die Regierung bestimmt, die dann (meist, aber nicht immer, im Rahmen der Gesetze) so handelt, wie sie es für richtig hält.

Dies entspricht prinzipiell den Notwendigkeiten. Menschen brauchen eine oberste Instanz, einen letzten Entscheider, um zu einer Ordnung zu finden und aus dieser Ordnung heraus sinnvoll arbeitsteilig wirken zu können. Die Feuerwehr braucht einen Kommandanten, die Fußballmannschaft einen Trainer, der Handwerksbetrieb braucht einen Chef, die Gemeinde braucht einen Bürgermeister und der Staat einen Regierungschef.

Je klarer die Vorstellung des jeweiligen „Chefs“ sind, je weniger er sich in Kompromisse verstricken lässt, je unerschrockener er an die Umsetzung seiner Pläne geht, je diktatorischer er also wirken kann, desto schneller wird sich der Erfolg einstellen, vorausgesetzt, die Sache war klug und bis zum Ende durchdacht und mit den verfügbaren Ressourcen realisierbar. Bleibt der Erfolg aus, hat der Chef versagt, entweder in der Zielsetzung oder in der Umsetzung. Weil Chefs das in der Regel selbst nicht einsehen oder zumindest nicht öffentlich zugeben können, müssen andere Instanzen dafür sorgen, dass der untaugliche Chef ersetzt wird. Der Fußballtrainer wird vom Vereinsvorstand entlassen, der Handwerksbetrieb gerät in die Obhut des Insolvenz-verwalters – und auf staatlicher Ebene darf die Bevölkerung im Abstand von einigen Jahren ihre Vertreter und damit „den Chef“ neu bestimmen.

Wahlen führen aber wiederum nicht zu einem Prozess konstruktiver Diskussionen im Parlament, sondern, im Gegenteil, bereits im so genannten Wahlkampf zu einer extremen Polarisierung, die auch nach gelungener Wahl und erfolgter Sitzverteilung nicht aufgegeben wird. Das ist man „dem Wähler“ schuldig, der schließlich den „Regierungsauftrag“ erteilt hat.

 

Gefahr für den Gemeinsinn

Aus dieser Erkenntnis lässt sich die erste und größte Gefahr der Demokratie schon rein logisch ableiten: Die parlamentarische Demokratie als einzig handhabbare Form der Demokratie zerstört den Gemeinsinn.

Wo es möglich ist, dass 50,1 % gegen den Willen und die Interessen von 49,9 % zum Wohle der eigenen Klientel regieren, erlischt der Wille zur Kooperation[2] und wird durch den Willen ersetzt, den politischen Gegner zu besiegen, ihn klein zu halten, nach Möglichkeit vernichtend zu schlagen, oder ihn überhaupt erst nicht aufkommen zu lassen.

Die Klage, es ginge ein Riss durch die Gesellschaft, hat ihren Ursprung weniger in den gegensätzlichen Wünschen und Vorstellungen der Bevölkerung als vielmehr in dem nicht vorhandenen Willen der für vier Jahre mit quasi diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Mehrheitsregierung, den notwendigen Ausgleich herzustellen, sowie in der fehlenden Bereitschaft der Opposition, sich ihrerseits auf die Regierungsstandpunkte einzulassen.

Die fatalen Folgen dieser von der Demokratie ausgehenden Gefahr treten derzeit in Deutschland ganz eklatant in Erscheinung. Mehr und mehr Wähler sehen ihre Interessen von den einstigen Volksparteien nicht mehr gewahrt und wenden sich kleineren Gruppierungen zu. Die Folge ist die Unmöglichkeit, eine Regierung zu bilden, in welcher unterschiedliche Parteiprogramme mit nur geringen Reibungsverlusten in ein gemeinsames Regierungsprogramm übertragen werden können.

Es darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass die am Ende gescheiterten Verhandlungen zur Bildung einer Jamaika-Koalition nach den Bundestagswahlen im September 2017 nur aufgenommen wurden, weil die Fortsetzung der großen Koalition für noch unmöglicher gehalten wurde!

Sollte diese GroKo nach Drucklegung dieses Buches doch noch einmal zustande kommen, wird es Angela Merkel, sollte sie erneut zum Bundeskanzler ernannt werden, vollkommen unmöglich sein, von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch zu machen, solange sie das Auseinanderfliegen der Regierung vermeiden will.

Regierungschef ist dann der Koalitionsvertrag – ein papierener, lebloser Hierarch an der Spitze der Republik.

Diese für alle Seiten absolut unbefriedigende Situation zwingt dazu, im Hinblick auf die nächsten Wahlen alles zu tun, was irgend möglich ist, um wieder ausreichende Mehrheiten zu gewinnen und damit „Politik aus einem Guss“ machen zu können.

 

Betrug als Mittel der Wahl

Die zweite große Gefahr in der und für die Demokratie besteht in der vielmals bestätigten Annahme: Die einzig handhabbare Form der Demokratie zwingt zum geplanten Betrug am Wähler.

Die Abteilung jener, die nicht in den Entscheidungsfindungsprozess einbezogen werden, sondern lediglich ihre Vertreter in die Parlamente entsenden, ist von Bildung, persönlichen Erfahrungen und Interessen her weitaus heterogener als die „Auswahl“ jener, die als Volksvertreter antreten. Ein großer Teil der Wahlberechtigten hat nie auch nur das geringste Interesse für Politik entwickelt, sei es, weil schlicht die Zeit dafür fehlt, sei es, weil die geistigen Kapazitäten zu knapp bemessen sind, sei es, weil den Stimmen jener Glauben geschenkt wird, die behaupten, zu wählen habe keinen Sinn, es ändere sich sowieso nichts.

Teile der Wahlberechtigten ergehen sich in sozialutopischen Fantasien, Teile streben ökologische Ideale an, Teile sehen sich als die Fürsprecher der Nation und nationaler Interessen, Teile wollen die Wirtschaft stärken, andere den gläsernen Bürger verhindern, aber nur wenige, vermutlich weniger als ein Zehntel, befassen sich intensiver mit Worten und Taten der zur Wahl stehenden Parteien und Kandidaten, um die bestmöglichen Vertreter der eigenen Interessen zu finden, und nur ganz wenige versuchen ernsthaft herauszufinden, mit welcher Regierung das Optimum für das Land und die gesamte Gesellschaft zu erzielen wäre.

Für jeden, der auf Stimmenfang geht, erweist es sich also als von vornherein wenig erfolgversprechend, sich an die ernsthaft Interessierten zu wenden. Je nach politischer Ausrichtung hat man deren Stimmen sowieso schon sicher – oder man kann sicher nicht damit rechnen.

Der Weg zur Mehrheit führt für alle Parteien mitten hinein in die Masse der politisch Desinteressierten.

Denen braucht man nichts über die EU zu erzählen, weil sie das sowieso nicht verstehen. Man braucht ihnen auch nichts über die Auslandseinsätze der Bundeswehr zu erzählen, weil sie das gar nicht wissen wollen. Man braucht ihnen auch nichts über den Bundestrojaner zu erzählen, nichts über No-Go-Areas in deutschen Städten, schon gar nichts über die heraufziehenden dunklen Wolken der fortschreitenden Digitalisierung und der damit einhergehenden Arbeitsplatzverluste und den darauffolgenden Problemen mit der Finanzierung der Sozialsysteme. Man muss weder über den Euro, noch über die EZB und die von ihr ausgelöste Geldschwemme, nicht über die Staatsfinanzierung über die Notenpresse sprechen – es genügt, die wenigen positiv besetzbaren Themenfelder schlagwortartig in Besitz zu nehmen.

Der Betrug am Wähler besteht ganz überwiegend im Totschweigen der drängendsten Themen und der dafür vorgesehenen politischen Aktivitäten. Es ist ja nicht so, dass in den totgeschwiegenen Problembereichen keinerlei Absichten bestünden. Doch damit in den Wahlkampf zu gehen, wird als nicht zielführend angesehen, weil man sich keine Stimmen davon erhofft, im Gegenteil, eher den Verlust von Stimmanteilen an kleine, thematisch eng aufgestellte Parteien befürchtet. So hat es immer wieder sogar Absprachen zwischen den beiden großen Parteien gegeben, bestimmte Themen[3] aus dem Wahlkampf herauszuhalten, wohl wissend, dass man sich damit nur gegenseitig massiv beschädigen würde.

Der plakatierte Betrug hingegen, mit dem das Totschweigen kaschiert wird, stellt zwar nur die sichtbare Spitze des Eisbergs dar, holt aber die Stimmen. Man verspricht das Blaue vom Himmel herunter. Arbeitsplätze und sichere Renten, bezahlbare Wohnungen, Bildung, ja sogar Digitalisierung, vor allem aber Gerechtigkeit und Wohlstand, Freiheit und Sicherheit, und alles das für den kleinen Mann und die kleine Frau, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben. Man verspricht, Milliarden auszugeben und vergisst zu sagen, dass man sich diese Milliarden ausschließlich vom kleinen Mann und der kleinen Frau holen wird, weil Vermögen zu besteuern schlicht unmöglich ist, weil Unternehmenssteuern eher gesenkt werden müssen, um im Wettbewerb mit dem Steuerdumping im Ausland bestehen zu können – und überhaupt, weil sich Leistung schließlich lohnen und alles, was verteilt werden soll, erst einmal erwirtschaftet werden muss.

Das „Schöne“ daran ist es, dass letztlich alle – mit leicht veränderten Akzenten – im Grunde das Gleiche versprechen. Um sie auseinanderhalten zu können, müsste man die Programme lesen und noch dazu richtig interpretieren können. Doch die große Zielgruppe des Stimmviehs, die so angesprochen wird, bringt das dafür erforderliche Interesse nicht auf. Die desinteressierte Mitte sucht ihre Orientierungshilfe anderswo.

Es kommt daher weniger auf die sowieso kaum unterscheidbaren Werbebotschaften an, sondern viel mehr auf die Botschafter! Auf Gesichter, frisch geschminkt und retuschiert auf den Plakaten, frisch geschminkt und abgepudert beim Fernsehauftritt. Auf kräftige, selbstgewisse Stimmen, auf eine perfekt eingeübte Mimik und Gestik – darauf, bei der kleinen Frau und beim kleinen Mann einen sympathischen, zuverlässigen, authentisch-glaubhaften Eindruck zu hinterlassen.

Dafür gibt es „Coaches“, die den Kandidaten nicht nur beibringen, wie sie aussehen müssen, wie sie sich bewegen sollen (selbst am Krückstock noch jung dynamisch die Treppen zum Podium hinaufstürmen), sondern auch, was sie sagen müssen und mit welchen Worten, und was sie keinesfalls auch nur mit einem einzigen Wort erwähnen sollen.

Wahlkampf ist eine einzige Casting Show, nur dass das Publikum nicht von einer professionellen Jury unterstützt wird, sondern auf sich alleine gestellt, ohne auch nur die geringste Ahnung von der im Hintergrund wirkenden Truppe der Rosstäuscher zu haben, vor der Aufgabe steht, den sympathischsten unter den angetretenen Metzgern für sich auszuwählen.

Selbstverständlich vollzieht sich auch hier ein parteiübergreifender Lernprozess, der dazu führt, dass auch das politische Personal – bei allen verbleibenden Unterschieden in der Physiognomie – mit der Zeit immer ähnlicher erscheint. Dies bringt die dritte große Gefahr der Demokratie zum Vorschein:

Die einzig handhabbare Form der Demokratie ebnet alle Unterschiede ein.

Die Orientierung an erfolgreichen Vorbildern, das öffentliche Nachahmen erfolgreichen Auftretens, sowie das Nachahmen oder Nachäffen erfolgversprechender Konzepte, führt nicht nur zur orientierungslosen Verwirrung des Zielpublikums, es verändert zwangsläufig auch Wesen und Einstellungen der agierenden Personen.

So wie jeder Mensch alleine durch die Veränderung seiner Körperhaltung psychische Veränderungen bei sich hervorruft, also alleine durch ein kraftvolles Aufrichten des Körpers in eine optimistische Stimmung fällt und damit den mit gesenktem Haupt und hängenden Schultern erlebten Trübsinn abschütteln kann[4], bleibt das optimale Wählerfangverhalten auch nicht ohne prägende Rückwirkung auf die Wahlkämpfer und ihre Parteien.

Das Ergebnis ist der politische Einheitsbrei, der mit weichgespülter Sprache serviert wird und immer mehr Wähler mit Übelkeitserscheinungen von der Urne fernhält. Es gibt keine klaren Worte mehr, noch nicht einmal, wenn sich zwei Kanzlerkandidaten in einem so genannten „Duell“ gegenüberstehen. Es geht weniger darum, zu obsiegen, sondern mehr darum, bloß keinen Sympathiepunkt zu verspielen.

Das Schmähwort von den „Politdarstellern“ gewinnt hieraus seine Berechtigung, da – zumindest dem Wähler gegenüber – Politik nur noch perfekt gespielt auf der Schaubühne stattfindet. Was Einzelne darüber hinaus tatsächlich noch an politischer Arbeit leisten, geht in dieser Inszenierung – gewollt und ungewollt – vollkommen unter.

 

Das zwangsläufige Ende

Die vierte und verheerendste Gefahr, die von der Demokratie ausgeht, liegt spätestens jetzt offen auf dem Tisch:

Die einzig handhabbare Form der Demokratie führt zum Untergang der Demokratie.

Die aus der Notwendigkeit, Mehrheiten zu gewinnen, entstandene Hinwendung der Parteien zu den politisch Desinteressierten und das Bestreben, die eigenen Absichten hinter immer ähnlicher werdenden, im Wortsinne „nichts-sagenden“ Gesichtern zu verstecken, lässt auch das Interesse der Engagierteren am politischen Establishment erlahmen.

Sie treten entweder ebenfalls in die Reihen der schweigenden Mehrheit ein, oder suchen sich neue politische Ankerplätze da, wo Menschen nicht gespielt, sondern tatsächlich authentisch auftreten, wo die von den überkommenen Parteien vorsichtshalber unter dem Teppich gehaltenen Themen angesprochen werden und ein Hauch von Aufbruch weht und eine Alternative zur Alternativlosigkeit lockt. Doch auch dort wird man, wenn man wirklich gestalten will, den Fokus der Werbung letztlich dahin richten müssen, wo das Stimmvieh in großer Zahl anzutreffen ist, weil es eben beim Auszählen alleine auf Quantität und nicht auf Qualität ankommt.

Für einen Erfolg kommt es dabei ausschließlich auf den Grad der Unzufriedenheit und damit die Wechselbereitschaft der desinteressierten Mitte an. Bleibt die Unzufriedenheit im erträglichen Rahmen, tut sich gar nichts. Steigt die Unzufriedenheit in den Bereich der Revolutionsbereitschaft an, kann – fast wie aus dem Nichts – eine neue Mehrheit ans Ruder kommen, die ihre Ziele und Absichten ebenso rigoros gegen die Argumente der Opposition durchsetzen wird, wie es die Vorgängerregierungen mit dem Recht der Mehrheit ebenfalls getan haben. Damit hat die Demokratie dann selbst – aufgrund ihrer Unfähigkeit, die Gesellschaft zu einen – die Tür zur Diktatur aufgestoßen und sich ad absurdum geführt.

  

Gäbe es eine andere Möglichkeit,
eine handhabbare Demokratie
zu leben?

Das Grundübel, der Vorrang der Quantität vor der Qualität, das sich aus dem Mehrheitsprinzip der real existierenden Demokratie ergibt, verlangt bei oberflächlicher Betrachtung nach einer Einschränkung der Wahlberechtigten auf einen relativ kleinen Kreis vernunftbegabter und kooperationsbereiter Menschen. Diese Problematik ist bekannt und wird als unlösbar angesehen, weil ein entsprechender „Test“, dessen Bestehen den Zugang zur Wahlurne eröffnen würde, einerseits niemals wirklich „gerecht“ gestaltet werden könnte, andererseits relativ leicht zu manipulieren wäre und obendrein von einer aufgebrachten Bevölkerung massiv abgelehnt würde.

Ebenso ist die Verknüpfung der Wahlberechtigung mit dem Nachweis eines echten Interesses durch ein materielles Opfer nicht durchsetzbar. Man kann die Stimmabgabe nicht mit einer Gebühr von vielleicht 50 oder 100 Euro belegen, um die Spreu vom Weizen zu trennen, zumal die Möglichkeit des „Stimmenkaufs“ durch entsprechende Zuwendungen (Gebühr + x) nicht ausgeschlossen werden kann.

Die Anhebung der Altersgrenze für das aktive Wahlrecht, um die unerfahrenen, wilden Jungen auszuschließen, oder die Einführung einer Alters-Obergrenze wider die Übermacht der von Wahlhelfern herbeigetragenen Senilität, kommen ebenfalls nicht in Betracht, weil sich die Verhältnisse insgesamt, auch bei einer verminderten Zahl der Wahlberechtigten, kaum verändern würden.

Solange die Maxime gilt, dass das gesamte Volk in freier, gleicher, geheimer Wahl an die Urnen gerufen werden muss, steht auf der Wählerseite keine Stellschraube zur Verfügung. Diese Maxime fallen zu lassen, erscheint, solange Demokratie herrscht, vollkommen ausgeschlossen, zugleich aber auch kaum zielführend.

Der Versuch, in der nächsten Hierarchiestufe einzugreifen, also die Arbeitsweise des Parlaments zu verändern, ist voraussichtlich auch zum Scheitern verurteilt. Alleine der Zustand, dass die grundgesetzliche Gewissensfreiheit des Abgeordneten von der Parteidisziplin vereinnahmt wurde und in nahezu allen Abstimmungen der Fraktionszwang greift, zeigt, dass der Graben der Konfrontation zwischen den Parteien nicht durch eine Brücke der Kooperation überspannt werden kann.

Ein gesetzliches Verbot des Fraktionszwangs[5] würde wirkungslos verpuffen, weil niemand die Beweggründe für das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten gerichtsfest überprüfen kann. Im demokratisch gewählten Parlament wird daher wo immer es möglich ist, das Diktat der
50,1 % ausgeübt werden, dem sich 49,9 % – zwar lauthals klagend – unterwerfen müssen.

Stellt sich die Frage, ob die Parteien stärker reglementiert werden müssten. Meines Erachtens vollkommen unmöglich, vor allem, solange Parteien darüber zu entscheiden haben.

Man kann Parteien auch nicht generell verbieten. So schön der Gedanke ist, im Vorfeld von Wahlen Bürgerversammlungen abzuhalten, bei denen sich Kandidaten für den Bundestag vorstellen, um anschließend als Vor- und Ur-Wahlsieger auf dem Stimmzettel des Wahlkreises zu erscheinen, wobei dem Sieger der Platz im Parlament sicher ist, so naiv ist diese Vorstellung.

Es würden sich in der ganz überwiegenden Mehrzahl wieder die gleichen Personen zur Wahl stellen und sich schneller untereinander vernetzen als man „Seilschaft“ sagen kann. Es gäbe offiziell keine Parteien mehr, dafür umso unkontrollierbarere Vereinigungen im demokratischen Untergrund. Für nicht vernetzte Kandidaten gäbe es allenfalls eine Außenseiterchance für einen wirkungslosen Einzelsitz im Plenum.

So „schlimm“ Parteien in der real existierenden Demokratie wirken können, so unverzichtbar sind sie für die grundsätzliche Organisation des politischen Lebens, für die allgemeine Meinungsbildung und nicht zuletzt auch für die Heranbildung und Unterstützung des Nachwuchses. Auch hier kein Ansatz für einen Ausweg aus der einzig handhabbaren Form der Demokratie.

Bleibt noch die Regierung selbst als ein möglicher Angriffspunkt für Optimierungen. Sicherlich schon oft gefordert, steht hier die Trennung von Amt und Mandat zur Entscheidung an. Wer in der Regierung sitzt, darf im Grunde nicht zugleich dem Parlament angehören.

Anhänger der reinen Lehre stehen selbstverständlich hinter dieser Forderung, ob sie tatsächlich zur Lösung der hier besprochenen Problematik taugt, muss stark bezweifelt werden.

Das Problem liegt im Zusammenwirken von Parlament und Regierung, das längst nicht mehr an das Prinzip der Gewaltenteilung erinnert, sondern immer mehr so aussieht, als halte sich die Regierung mit ihrer Mehrheit im Parlament einen Unterschriftsautomaten für gerade erwünschte Gesetze.

Ließe sich dieses Verhalten durchbrechen? Vielleicht zumindest ansatzweise, indem die Arbeits-perioden von Parlament und Regierung nicht mehr identisch, sondern um eine gewisse Zeitspanne überlappend angelegt würden und der Regierungschef, wie auch der Präsident, direkt vom Volk zu wählen wären. Dass, wer in der Regierung sitzt, nicht mehr im Parlament vertreten sein darf, versteht sich dabei von selbst.

Diese Konstruktion würde die „Minderheitsregierung“ obligatorisch dann vorsehen, wenn bei einem Parlamentswahlgang die Mehrheit des Regierungschefs verlorengeht, oder, wenn ein Regierungschef gewählt wird, dessen Partei zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht über eine Mehrheit im Parlament verfügt.

Die Minderheitsregierung ist jedoch der einzige Zustand, der eine konstruktive kooperative parlamentarische Arbeit erzwingen und damit die Grundidee der Demokratie wiederbeleben könnte. Es käme dann auch die eigentliche Rollenverteilung zwischen gesetzgebender und ausführender Gewalt wieder zum Tragen. Die Mehrheit im Parlament könnte damit die Schranken des Regierungshandelns bestimmen und über Gesetzesvorhaben der Regierung ernsthaft diskutieren, anstatt sie einfach durchzuwinken.

Selbstverständlich könnte es auch lange Phasen geben, in welchen die Mehrheit im Parlament und die Regierung den gleichen Stallgeruch haben, doch alleine die Möglichkeit, dass nach zwei Jahren die Mehrheit oder der Regierungschef ausgewechselt werden, könnte mäßigend auf die Selbstherrlichkeit von Mehrheiten einwirken.

Um dies durchzusetzen braucht es zudem eine Neudefinition der Rolle der Judikative. Die obersten Gerichte des Bundes müssen die Kompetenz erhalten, Rechtsbrüche von Regierungsmitgliedern nicht nur festzustellen, sondern auch in strafrechtlicher Weise zu ahnden.

Kanzler und Minister sollten entweder selbst, zumindest aber unter Einbeziehung des Sachverstands ihrer Stäbe, fähig sein zu erkennen, ob sie mit ihren Handlungen gegen geltendes Recht verstoßen. Wer dies für sich bestreitet, muss grundsätzlich als nicht regierungstauglich angesehen werden! Zudem sollte der Regierung jederzeit der Weg offenstehen, vor einer möglicherweise gesetzeswidrigen Aktion beim zuständigen Bundesgericht im Eilverfahren nachzufragen.

Eigenmächtiges Handeln gegen bestehende Gesetze ohne Parlamentsbeschluss muss mit dem Verlust des Regierungsamtes und mit hohen Geld und Haftstrafen belegt werden können, wenn der Begriff von der „hohen Verantwortung des Amtes“ endlich aus den Niederungen moralischer Verkommenheit, in denen er steckt, herausgehoben und mit einem konkreten Inhalt gefüllt werden soll.

Doch auch dem Parlament sollten in seinem gesetzgeberischen Handeln engere Zügel angelegt werden. Selbst wenn dies einige zusätzliche Stellen in höchstrichterlichen Ämtern erfordern sollte: Jedes Gesetz sollte, bevor es dem Bundespräsidenten zur Unterschrift vorgelegt wird, eine höchstrichterliche Unbedenklichkeitsbescheinigung erhalten, am besten durch die direkte Mitwirkung von Verfassungsrichtern im Gesetzgebungsprozess.

Von einem solchen Maßnahmenbündel, über das im Detail natürlich noch diskutiert werden muss, erwarte ich mir die Stärkung der Qualität gegenüber der Quantität.

Von der Stärkung der Qualität kann sogar die Heilung des Risses, der durch die Gesellschaft geht, erwartet werden, weil die Diktatur der Mehrheit – auch um des Machterhalts willen – gezügelt wird. Weniger Ellenbogeneinsatz in der Durchsetzung der Interessen der Mehrheit erhöht die Zufriedenheit größerer Teile der Gesellschaft, weil die Politik als „gerechter“ empfunden wird.

Die Wiederherstellung einer Gewaltenteilung, die dieses Etikett verdient, wird etliche Anlässe für Unmut in der Bevölkerung gar nicht erst entstehen lassen. Dass diese Annahmen zumindest tendenziell in die richtige Richtung weisen, lässt sich mit einem kleinen Gedankenexperiment schnell belegen:

Stellen Sie sich einfach vor, die Republik wäre im September 2015, also zwei Jahre vor der letzten Bundestagswahl, aufgerufen gewesen, den Bundeskanzler neu zu wählen. Stellen Sie sich zudem vor, gesetzeswidriges Handeln von Regierungsangehörigen hätte schon damals strafrechtliche Konsequenzen nach sich gezogen.

Glauben Sie im Ernst, Angela Merkel hätte die Grenzen geöffnet und bis heute offengehalten?

Sehr wohl vorstellbar ist, dass wir nach dem 24. September 2017 innerhalb von maximal vier Wochen die Vereidigung einer neuen Regierung erlebt hätten. Sicherlich die Fortsetzung der großen Koalition, mit einer deutlich größeren Mehrheit als sie jetzt zustande kam, doch 2019, bei der nächsten Wahl des Kanzlers, würde Angela Merkel vom deutschen Volk höchstwahrscheinlich in den ehrenvollen Ruhestand befördert werden.

 

Rückblende

Die Erschütterungen, die 1945 mit dem Sieg der Alliierten auf die deutsche Gesellschaft einwirkten, haben damals auch viele „Mitläufer“ dazu gebracht, ihre politischen Gedanken und Einstellungen zu hinterfragen und sich mit der von den Siegermächten im Grundgesetz für die BRD verankerten Demokratie anzufreunden.

Der Wiederaufbau erforderte ja nicht nur Höchstleistungen in materieller Hinsicht, sondern ebenso auch in Bezug auf die Errichtung neuer geistiger Konzepte für die staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen. Darüber wurde in einer heute nicht mehr vorstellbaren Breite diskutiert, wozu gerade auch die Gewerkschaften einen unverzichtbaren Beitrag leisteten.

Bis zu Beginn der Ära Kohl gab es Auseinandersetzungen um politische Konzepte. Am Ende der Ära Kohl stand nur noch ein „Alles-satt-Haben“, was noch einmal die SPD in die Regierungsverantwortung führte. Doch der Angleichungsprozess der Konzepte war – unbemerkt von der Mehrheit der Wähler – bereits so weit fortgeschritten, dass Schröder mit der Agenda-Politik voll auf die Linie des Wirtschaftsliberalismus einschwenken konnte, womit die Ununterscheidbarkeit der beiden einst großen Parteien vollendet wurde, was sich später mit der Bildung großer Koalitionen auch nach außen manifestierte.

Die Grünen boten das erste Ventil, über das Unmut und Verdruss aus dem Kessel entweichen konnten, leisteten aber im Grunde als Koalitionspartner nur Beihilfe zum Umbau Deutschlands in einen Niedriglohnsektor mit neuer militärischer Präsenz in Auslandseinsätzen.

Die LINKE konnte zwar von Alt-Kommunisten bis enttäuschten Sozialdemokraten ihre Wählerklientel einsammeln und damit die 5%-Hürde überspringen, wird aber mit nicht enden wollenden SED- und Kommunismus-Argumenten überschüttet und als nicht regierungsfähig dargestellt, was die Mehrheit der Wähler gegen ihre eigenen Interessen davon abhält, die LINKE zu wählen.

Bei der AfD zeichnet sich das gleiche Muster ab, hier sammelten sich enttäuschte Konservative aus den Reihen von CDU, CSU und FDP, die ihre nationalen Interessen als unterrepräsentiert empfanden und zogen damit zwangsläufig auch die Anhänger ganz rechter Splittergruppen magisch an. Das geschrumpfte Establishment verbündet sich dagegen mit Grünen und LINKEn und schwingt die Nazi-Keule, sowohl verbal, als auch ganz konkret unter den Fahnen der Antifa mit Gewalt gegen Sachen und Personen.

So lange die Diskussion um die elementaren Fragen von den einstigen Volksparteien nicht wieder offen und für die Wähler erkennbar, ernsthaft geführt wird, solange der Kampf um Konzepte an die Ränder gedrängt wird, die man mit Kommunismus- und Nazi-Vorwürfen glaubt, kleinhalten zu können, so lange wird die Erosion von Union und SPD anhalten, ohne dass von den Rändern her eine regierungsfähige Mehrheit zustande kommen kann.

Das Ergebnis ist eine – mangels Mehrheit – nicht mehr lebensfähige Demokratie.

 

Fußnoten:


[1] Dirigenten, Fußballtrainer, Chirurgen, Kompanieführer, ja selbst der Filialleiter im Supermarkt, werden sich hüten, ihre Entscheidungen von den Personen, denen sie vorstehen, demokratisch legitimieren zu lassen. Wir sollten auch dankbar sein, dass dem so ist.

[2] wegen offenkundiger Aussichtslosigkeit auf Seiten der Opposition, wegen nicht erkennbarer Notwendigkeit auf Seiten der Mehrheit

[3] Im Bundestagswahlkampf 2017 war man sich z. B. einig darüber, das Rententhema im Wahlkampf nicht aufzugreifen.

[4] Das funktioniert, auch umgekehrt. Probieren Sie es aus.

[5] Ein Witz! Das wäre ein Gesetz, das zur Einhaltung des Grundgesetzes zwingen soll!

Gestern habe ich aus der aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey, die im Auftrag des Nachrichtenmagazins Spiegel durchgeführt wurde, erfahren, dass die Befragten der gesamten amtierenden Regierung durchweg „negative Zufriedenheit“ entgegenbringen. Auf einer Skala von +200 bis -200 erreichte die geringste negative Punktzahl Annalena Baerbock mit -40, die negativste Beurteilung erhielt Christine Lambrecht mit -132. Bundeskanzler Olaf Scholz steht mit -79 Zählern für das Mittelmaß der Unzufriedenheit.

Natürlich steht es den Angehörigen des Kabinetts Scholz frei, dieses Ergebnis so zu interpretieren, dass das Regierungshandeln von der Bevölkerung zwar als „Schritte in die richtige Richtung“ angesehen wird, dass viele aber der Auffassung sind, diese Schritte gingen längst nicht weit genug, dass Dekarbonisierung nicht erst 2045, sondern schon 2030 geschafft werden müsse, dass die Lieferung von  Gepard-Flakpanzern an die Ukraine zwar richtig sei, dass aber doch längst auch richtige, also Leopard-Panzer hätten geliefert werden müssen, dass alle Sanktionen gegen Russland gut und richtig seien, dass es aber wichtiger wäre, Deutschland würde in der NATO dafür eintreten, dass der Wertwesten mit eigenen Truppen in den Krieg in der Ukraine eingreift, dass endlich eine verbindliche Regelung für die Anwendung des Gendersterns auf den Weg gebracht werden müsse und im Strafgesetzbuch in Paragraph einzufügen sei, mit dem Zuwiderhandlungen auch spürbar und wirksam geahndet werden können.

Diese Chance zur Selbsttäuschung lässt sich durch Demokratie nicht wegzaubern. Es sieht – ganz im Gegenteil – so aus, dass auch die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl ganz genauso interpretiert wurden. Was die GroKo unter Merkel angefangen hat, das war zwar gut, aber eben noch nicht gut genug, weshalb die Ampel nun mit vermehrten Anstrengungen diesen Kurs fortsetzen, die Ziele höher stecken muss und den Bedenkenträgern noch weniger Gehör schenken darf, wenn die Zustimmung und die Zufriedenheit der Wähler erreicht werden sollen.

In den letzten Absätzen des Zitats aus dem Buch „Demokratie – Fiktion der Volkswirtschaft“ schwingt tiefe Resignation darüber mit, dass der Regierungskurs Deutschlands mit demokratischen Mitteln nicht mehr veränderbar zu sein scheint. Bei dieser Resignation geht es nicht darum, die Demokratie als solche diskreditieren zu wollen, sondern, ganz im Gegenteil, darum, aufzuzeigen, wo unsere Demokratie Schaden genommen hat und verbogen worden ist, so dass selbst wünschenswerte Korrekturen auf einen betonharten Widerstand stoßen, der nicht mit dem Willen der Mehrheit des deutschen Volkes übereinstimmt.

Wundert es da, wenn ein Nachdenken darüber beginnt, wie man diese Demokratie neu und besser aufsetzen könnte?

Ich kenne drei Romane, die während Angela Merkels Kanzlerschaft zwischen 2015 und 2020 geschrieben wurden und sich mit dieser Frage beschäftigten.

1. Robert B. Thiele und Peter Orzechowski, Der Staatsstreich, 2016, Anderwelt Verlag München,

„Der Staatsstreich“ schildert einen klassischen Militärputsch, angeführt von einem General der Bundeswehr, der sich auf eine „Geheimarmee“ von Reservisten stützt, von denen etliche in die Schaltstellten der Staatsmacht eingesickert sind. Der – letztlich unblutige – Putsch gelingt.

 

2. Andreas Reinhardt, Operation Reiner Tisch, 2015, EWK-Verlag Elsendorf

Hier ist es eine rechtskonservative Partei, die ein konspiratives Netzwerk aufgebaut hat, das höchste Positionen in Sicherheitsbehörden, Justiz und Geheimdiensten besetzt und mangels Chancen, durch Wahlen an die Macht zu gelangen, plant den Bundeskanzler zu ermorden und dann in das entstehende Machtvakuum vorzustoßen. Ein Journalist und eine Ex-BND-Agentin kommen diesem Vorhaben auf die Spur und verhindern das Gelingen.

 

3.Egon W. Kreutzer, Andere Abhilfe, 2020 BoD Norderstedt

Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, Wissenschaftler, Unternehmer und Verantwortliche im Öffentlichen Dienst haben sich zusammengeschlossen, um den Niedergang der Gesellschaft zu stoppen, der von äußeren Mächten über eine subtile Beeinflussung der Menschen aktiv vorangetrieben wird, während eine inkompetente Regierung diesen Zerfall nutzt, um sich im Amt zu halten. Es gelingt, die äußeren Bedrohungen abzuwenden und in einer besonnenen, unblutigen Aktion die Regierung zum Abdanken zu zwingen.

Von daher nimmt es mich nicht Wunder, dass nun von einer Gruppierung berichtet wird, von der die Dienste vermuten, und der nun von der Staatsanwaltschaft vorgehalten wird, ihre Mitglieder hätten einen Umsturz geplant.

Es verwundert mich auch nicht, dass es sich bei diesen Bürgern um vorwiegend ältere Menschen handelt, denn die können sich noch an die besseren Zeiten dieser Republik erinnern, es verwundert mich nicht, dass sich darunter ehemalige Bundeswehrangehörige befinden, denn ernsthafte Soldaten, die ihr Leben einsetzen, um „etwas“ zu verteidigen, wägen doch ab, was das ist, und wer die sind, für die sie ihren Kopf hinhalten sollen. Es wundert mich nicht, dass sich darunter auch zwei (ehemalige?) AfD-Mitglieder befunden haben, denn dieser „gärige Haufen“ (Alexander Gauland) hatte sich gegründet, um Deutschlands Souveränität gegenüber der EU zu wahren, und war dann, ab 2015, gegen die Auflösung der Staatlichkeit Deutschlands und für den Schutz seiner Grenzen angetreten. Es verwundert mich auch nicht, als „Anführer“ einen Adligen vorzufinden, denn der Adel empfindet es als seine Pflicht, das Seine, also Land und Leute und den Staat zu erhalten.

Wen kann es eigentlich verwundern, wenn Menschen

  • mit Auffassungen, Zielsetzungen und Meinungen, die nirgends im Grundgesetz für unzulässig erklärt wurden,
  • permanent erleben müssen, dass sie in dieser Demokratie kein Gehör finden
  • und selbst dann, wenn sie als gewählte Volksvertreter im Parlament sitzen, wie Aussätzige behandelt werden,
  • weil sich „Demokraten“ mit Berufung auf ihr alleiniges „Demokratisch-Sein“ sich als höherwertig abgrenzen,

irgendwann beginnen, darüber nachzudenken,

  • wie eine Verfassung beschaffen sein könnte, die sich das deutsche Volk zur Ablösung des Grundgesetzes in freier Selbstbestimmung gibt,
  • und welche Wege überhaupt beschritten werden könnten, um eine solche Verfassung zur Abstimmung vorzulegen,
  • und dabei für sich zu dem Schluss kommen, dass dies im Rahmen der real existierenden Demokratie unmöglich ist,

sich schließlich in geheimen Zirkeln zusammenfinden und ihre Planspiele spielen?

Mich verwundert das nicht. Ich halte das für eine Entwicklung, die zwangsläufig überall da eintreten wird, wo eine Demokratie im Umgang mit ihren überstimmten Minderheiten zur Arroganz neigt.

Verwundert hat mich, dass dies alles unter dem Begriff „Reichsbürger“ subsumiert wird. Da habe ich von den Reichsbürgern doch deutlich andere Vorstellungen. Aber vielleicht hat sich da ja etwas geändert.

Verwundert hat mich sehr, dass von einem unmittelbar – in wenigen Tagen, höchstens einigen Wochen – bevorstehenden Putsch mit einem Überfall auf den Reichstag berichtet wurde, während gleichzeitig erklärt wurde, dass der „militärische Arm“ der Gruppe aus erst noch zu gründenden Heimatschutzkompanien bestehen sollte, und dass – außer einer, vermutlich regulär erworbenen und registrierten Waffe – bei den Durchsuchungen in 150 Objekten nichts gefunden wurde, was auf ein tatsächlich materiell existierendes Gewaltpotential hingewiesen hätte.

Klar: Verwunderlich ist auch – aber das haben schon so viele besprochen, dass ich es bei der Randnotiz belassen kann – dass Tage vorher Presse, Funk und Fernsehen informiert und quasi in Marsch gesetzt wurden, um die „Erstürmung“ der Häuser und Wohnungen der Reichsbürger von der ersten Stunde an der verunsicherten Bevölkerung zur Kenntnis zu bringen.

Auf der Rückseite des Umschlags meines Buches „Demokratie – Fiktion der Volksherrschaft“, findet sich der von einem Werbespruch der Baustoff-Industrie abgeleitete Satz: „Demokratie ist wie Beton – es kommt drauf an, was man daraus macht.“

Den muss ich heute einschränkend erweitern:

Demokratie ist wie Beton.
Es kommt darauf an,
was man daraus macht,

bevor sie ausgehärtet ist.