Weitreichende Waffensysteme? „Ja“, sagt die Versammlung der Volksvertreter mehrheitlich.
Taurus Marschflugkörper? „Nein“, lautet das Minderheiten-Votum des Bundeskanzlers.
Nun hat Correctiv irgendjemand eine Konferenzschaltung deutscher Militärs abgehört. Seit Merkels Handy-Affäre wissen wir, dass „Abhören unter Freunden“ gar nicht geht. Die werden es also nicht gewesen sein? Bestimmt nicht. Der Mitschnitt ist auf bisher unbekannten Wegen in die Hände der Russen geraten, und die hatten nichts Besseres zu tun, als dieses Gespräch öffentlich zu machen.
Früher wäre es so gewesen, dass über solche „Erkenntnisse“ nicht gesprochen worden wäre. Man hätte sein Wissen für sich behalten und die eigenen Planungen und Aktivitäten so angepasst, wie es die geheimen Erkenntnisse angeraten erscheinen ließen.
Welchen Zweck kann es also haben, dieses Gespräch auf allen verfügbaren Kanälen und in jeder denkbaren Form (Audio-Original, Transkript auf russisch, Transkript auf Deutsch, Auszüge mit Erläuterungen, Auszüge ohne Erläuterung, mit Fotos der Beteiligten, aber auch ohne Fotos) in die Öffentlichkeit zu bringen?
Welchen Zweck hat es zudem, dass Kanzler Olaf Scholz beinahe zeitgleich offiziell verraten hat, was schon lange vermutet wurde, dass nämlich andere wertewestliche Verbündete der Ukraine mit militärischem Personal dort (längst) zugange sind?
Was hat dies alles mit Macrons Wunsch zu tun. Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden?
Und wie geht das zusammen, mit den animierten Comic-Marschflugkörpern, die unbedingt in die Ukraine wollen, aber vom zögerlichen Kanzler zurückgehalten werden?
Was hat es mit den Pistorius-Sprüchen von Kriegsmüdigkeit und Kriegstüchtigkeit der Bevölkerung zu tun?
Wie reimt sich das auf den fehlgeschlagenen Versuch der Fregatte Hessen, trotz leerer Munitionsbunker eine US-Drohne mit zwei Raketen vom Himmel holen zu wollen?
Ich habe mir die Transkription der Telefonkonferenz in der russischen Fassung vorgenommen und von DeepL wieder nach deutsch übersetzen lassen, um mir ein eigenes Bild zu machen, welche Geheimnisse da von General Gerhartz, dem Mann der Tat, zumindest fahrlässig preisgegeben wurden.
Das lässt sich in zwei Kategorien unterteilen.
Unter Kategorie 1 fallen alle Informationen darüber, dass die Bundeswehr sich darauf vorbereitet, der Ukraine Taurus Marschflugkörper zur Verfügung zu stellen und bei der Beschaffung von Zieldaten und der Programmierung der Waffe behilflich zu sein.
Unter Kategorie 2 fallen alle herauslesbaren Informationen darüber, dass ein Höchstmaß an Unklarheit in einfachsten Sachfragen herrscht. Angefangen damit, dass unklar ist, welche Ziele mit Taurus angegriffen werden sollen, dass unklar ist, wie die Marschflugkörper mit welchem Trägersystem (Su-27, Rafaele, F16) verbunden werden können, wie lange es dauert, bis Ukrainer in der Lage sein werden, das System zu beherrschen oder zumindest grob bedienen zu können, wie die Zieldaten und die Programmierung auf welchem Weg an die Ukraine übermittelt werden sollen, wie die Waffe selbst expediert wird, und, last but not least, wer das alles überhaupt bezahlen soll.
Das hat mich zumindest ein bisschen überrascht. Ich hätte angenommen, dass die Generalstäbler – von der ersten Bitte Selenskis um Taurus-Marschflugkörper an – emsigst daran gearbeitet hätten, die Einsatzplanung bis ins Detail auszuarbeiten und diese Pläne, sobald der Kanzler grünes Licht gibt, praktisch aus dem Stand umsetzen zu können. Das scheint nicht geschehen zu sein. Warum aber dann jetzt?
Hierbei drängt sich der Verdacht, die ganze Konferenzschalte sei eine Finte, die über den tatsächlichen Vorbereitungsstand hinwegtäuschen soll, besonders intensiv auf, und natürlich spricht diese Vermutung auch Bände, wenn die Frage der fahrlässig vernachlässigten Geheimhaltung beantwortet werden soll. Man sollte bei der weiteren Beobachtung der Entwicklung immer im Hinterkopf haben, dass es womöglich bereits gelungen sein könnte, eine erste Taurus Lieferung in die Ukraine zu schaffen und die notwendigen Strukturen für deren Einsatz herzustellen.
Aber, schieben wird diesen Verdacht noch einmal zu Seite. Bleiben wir dabei, dass hier ein Staatsgeheimnis ausgespäht wurde. Was könnte die Russen veranlasst haben, ihre neuen Erkenntnisse so prompt öffentlich zu machen?
Die Ansage: „Wir kennen eure Pläne, kommt nur, um die Krimbrücke oder unsere Munitionslager auf der Krim anzugreifen, wir werden euch einen heißen Empfang bereiten“, kann es nicht wirklich sein. Die westliche Allianz würde auf eine solche Ansage hin einfach die Ziele ändern und vielleicht doch den Angriff auf Moskau in Erwägung ziehen. Nein. Wenn ich sicher weiß, wo der Gegner angreifen will, werde ich das nicht verraten, sondern ganz im Stillen die Vorbereitungen für den heißen Empfang treffen.
Auch zur Untermauerung der Behauptung, es befänden sich längst ausländische Truppen in der Ukraine, taugt diese Veröffentlichung nicht. Erstens hat niemand einen Zweifel daran, dass die Russen das längst wissen, zweitens hat es Kanzler Scholz selbst öffentlich gemacht, und drittens braucht Russland, um festzustellen, dass seine Existenz gefährdet ist und ggfs. präventiv mit weitreichenden Waffen auf Ziele in Westeuropa zu schießen, diesen Mitschnitt überhaupt nicht. Alles was Russland dafür braucht, ist die Annahme, der Weltkrieg böte bessere Aussichten für das eigene Überleben als der Versuch, den Westen in der Ukraine zu zermürben.
Die Veröffentlichung zielt meines Erachtens als Mittel der psychologischen Kriegsführung einzig auf die Bevölkerung, sowohl Russlands als auch Westeuropas. Die russische Bevölkerung soll erfahren, dass ausgerechnet die Deutschen schon wieder einmal Krieg gegen Russland führen, und die Bevölkerung in Deutschland und Frankreich, aber auch in den übrigen EU-NATO-Ländern sollen sich ängstigen, was im Falle eines Kriegseintritts ihrer Länder als Gegenschlag zu erwarten wäre. Dazu hat sich Putin auch jüngst wieder ganz dezidiert geäußert. Die Berliner Morgenpost zitiert aus Putins Rede zur Lage der Nation wie folgt:
Womit genau hat Putin gedroht?
In seiner Rede zur Lage der Nation hat der russische Präsident offen den Einsatz von Atomwaffen gegen die Nato angekündigt, wenn der Westen Soldaten in die Ukraine entsenden sollte. Die Konsequenzen wären tragisch. „Wir haben Waffen, mit denen wir sie auf ihrem Territorium treffen könnten“, sagte Putin vor mehr als 1000 Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Religion in Moskau.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch das Schreiben, mit dem Björn Höcke (AfD) den Bundeskanzler für seine Entscheidung gegen die Abgabe von Taurus Marschflugkörpern gelobt hat. Focus zitiert daraus so:
Zwar seien die „politischen Schnittmengen [zwischen Höcke und Scholz] übersichtlich“, schreibt Höcke. Ferner „irritiere“ ihn auch die „offenkundige Unehrlichkeit“, die der Bundeskanzler ständig an den Tag lege. Doch zumindest mit Hinblick auf den Krieg in der Ukraine habe Scholz bisher alles richtig gemacht und verdiene Lob.
„Gehen Sie nicht in die Geschichte ein als der Mann, dessen Entscheidung Marschflugkörper zu liefern, den Dritten Weltkrieg ausgelöst hat!“, schreibt Höcke. Scholz habe bisher „dem Druck der schlimmsten Kriegstreiber“ standgehalten und solle dies weiterhin tun.
Man stelle sich vor, Höcke hätte sich für die Waffenhilfe mit Taurus ausgesprochen! Wir hätten vermutlich wieder Hunderttausende auf den Straßen, die für Frieden, Freiheit und Demokratie, für den Friedenskanzler Scholz und gegen den wiederauferstandenen Erobergungsdrang der neuen Nazis marschieren würden. Sonderbarerweise hat Höckes gegenteilige Aussage aber nicht dazu geführt, dass der Rücktritt des Kanzlers und seine Ablösung durch Marie-Agnes Strack-Zimmermann gefordert wird. Kommt das noch?
Das könnte noch kommen, aber die Zeit ist noch nicht reif dafür.
Noch regt sich breiter Widerstand gegen die Comic-Marschflugkörper, die unbedingt der Ukraine helfen wollen, ließe sie der Kanzler nur machen. Breiterer Widerstand als seinerzeit gegen die Liedzeile: „Meine Oma ist ne alte Umweltsau!“, die ja auch nur als Testballon betrachtet werden konnte, wie weit die Saat der Grünen in der Stimmung der Bevölkerung bereits aufgegangen ist.
Der Zustand der gesamtgesellschaftlichen Kriegswilligkeit und Kriegstüchtigkeit ist noch nicht erreicht. Macrons „Bodentruppen-Ballon“ ist ebenfalls an der Kriegsunwilligkeit der Bevölkerung zerplatzt. Marie-Agnes Strack-Zimmermanns Appelle, doch endlich zu liefern, finden auch nicht gerade uneingeschränkte Zustimmung.
Was es jetzt bräuchte, das wäre das nächste große russische Kriegsverbrechen. Der unprovozierte Erstschlag. Noch viel unprovozierter als der völkerrechtswidrige Angriff vom 24. Februar 2022. Das muss doch zu schaffen sein.
Die Anwesenheit britischer, französischer und amerikanischer Soldaten in der Ukraine, offengelegt durch den Kanzler und die Generäle in der Videokonferenz, die Bodentruppengelüste Macrons, die kriegsverharmlosende Kindersendung, der bevorstehende Angriff auf die Krim mit dem Taurus. Reicht das denn immer noch nicht? Warum schwimmt die Hessen immer noch? Wäre es nicht Putins Chance, eine robuste Warnung in internationalen Gewässern mit begrenztem Schaden per Kinshal auszusprechen?
Dann könnte es doch endlich richtig losgehen.
Ich weiß nicht, ob das der sehnlichste Wunsch der westlichen Verbündeten ist, aber sie tun verdammt wenig dagegen, es so erscheinen zu lassen.