Die Regeln, lieber Dushan

Dushan Wegner hat am 8. Januar in seinem Beitrag, „Es ist ein Spiel„, versucht, seine Leser dazu zu animieren, im großen – weltpolitischen – Spiel mitzuspielen. Nicht ohne allerdigs vorher zu ermahnen: Die Spielregeln zu erlernen.

Wer sich allerdings einen Einblick in das Regelheft erwartete, wurde enttäuscht. Ich auch.

Aber immerhin: Den Wunsch, die Spielregeln nicht nur „irgendwie“ aus dem Geschehen heraus zu erahnen, sondern in einer handhabbaren, für das Mitspielen geeigneten Form festzuschreiben, den hat er dabei in mir geweckt. Ich will es versuchen.

Beginn und Ende des Spieles

Der Anfang des Spiels liegt in finsterster Vorzeit. Noch bevor der Mensch die Erde betreten hat, wurden Urformen dieses Spiels gespielt. Ein Ende ist in den Regeln nicht vorgesehen. Nur die Mitspieler kommen und vergehen. Das Spiel ist ewig.

Das Ziel des Spieles

Das Spiel selbst hat kein Ziel. Es entwickelt sich mit den Spielzügen der Mitspieler.

Die Aufgabe jedes Spielers

Die Aufgabe eines jeden Spielers besteht darin, je nach der von ihm gewählten Rolle, möglichst weit aufzusteigen. Jeder Aufstieg ist verbunden mit einem Anwachsen der Macht. Die Rolle bestimmt über die Art der Macht und ihre Wirksamkeit. Grundsätzlich ist Macht dadurch definiert, dass andere Mitspieler durch die Macht in Abhängigkeit geraten, gelenkt werden können und/oder tributpflichtig werden.

Die Rollen

  • Der einfache kleine Mann
    Die Rolle des kleinen Mannes besteht darin, sich dem Spiel nach Möglichkeit vollständig zu entziehen. Als einziger Rollentypus strebt er nicht danach, aufzusteigen, denn er ist friedlicher Natur, zufrieden mit dem, was er hat, auch wenn es wenig ist, und will mit seiner Lebensweise niemandem schaden. Auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist, sagt ihm sein Instinkt, dass jeder Versuch aufzusteigen bedeutet, anderen etwas wegnehmen zu müssen. Um Konflikte zu vermeiden, unterwirft sich der kleine Mann den Forderungen der Mächtigen, weil er davon ausgeht, dass die Strafe für Ungehorsam schlimmer ausfallen wird als die Einschränkungen, die er durch seinen Gehorsam auf sich nehmen muss.
  • Der schlaue kleine Mann
    Der schlaue kleine Mann ist sich bewusst, ein kleiner Mann zu sein, versucht jedoch, das Beste daraus zu machen und für sich jeden erreichbaren kleinen Vorteil  zu nutzen. Er belügt und betrügt andere kleine Männer, egal ob nun als Gebrauchtwagenverkäufer oder als Kaffeefahrten-Animateur. Gegenüber den Mächtigen ist er devot, versteckt sich aber nicht vor ihnen. Er betreibt sein Spiel sozusagen unter deren Augen, und das meiste, was die Mächtigen davon wahrnehmen, gefällt ihnen sogar. Wird der schlaue kleine Mann jedoch zu übermütig und wagt sich in deren Revier, wird er als abschreckendes Beispiel gehenkt, was die einfachen kleinen Männer in ihrer Auffasssung bestätigt: Ehrlich währt am längsten.
  • Der Erfinder
    Der Erfinder bringt das Spiel voran, indem er es mit neuen Möglichkeiten bereichert. Anders als der Verwerter hat der Erfinder davon aber weder einen nennenswerten materiellen Nutzen, noch einen Machtzuwachs. Allerdings kann er sich darauf verlassen, dass er, solange er sich sonst nichts zu schulden kommen lässt, gewisse Privilegien für sich in Anspruch nehmen darf. Weniger aus Dankbarkeit, viel mehr, weil man von ihm noch weitere nützliche Erfindungen erwartet. Denn die Mächtigeren reißen ihm seine Erfindungen aus den Händen und nutzen sie für ihren Aufstieg.
  • Der Bewahrer
    Der Bewahrer nennt ein kleines Gut sein eigen. Ererbt von seinen Vätern ackert und pflügt er, sät und erntet. Hervorgegangen ist seine Rolle aus dem Bauernstand, er nutzt das Seine und lässt andere daran teilhaben, solange sie ihn zum Ausgleich an dem Ihren teilhaben lassen. Er schafft Nützliches, ersetzt Verbrauchtes, repariert Zerbrochenes, heilt Krankes, richtet neu auf, was die Zeitläufte umgeworfen haben. Sein Wirken ist unverzichtbar für alle kleinen Männer, und weil alle kleinen Männer unverzichtbar sind, für die Mächtigen, ist er auch für die Mächtigen unverzichtbar. Doch weil sie wissen, dass er immer wieder und wieder neuen Mut fasst, nehmen sie keine Rücksicht auf seine Interessen, wenn er und sein Gut und sein Wirken ihren Interessen im Wege steht.
  • Der aufbegehrende Gerechte
    Der aufbegehrende Gerechte entstammt meist den Geschlechtern der Mächtigen, doch ist sein Herz nicht hart genug geworden. Er sieht die Ungerechtigkeit, sieht die Not der kleinen Männer, sieht, wie den Erfindern der Ertrag ihrer Erfindungen geraubt wird, sieht, wie übel den Bewahrern mitgespielt wird und stellt sich auf die Seite der Schwachen, sammelt auch immer wieder einen Haufen der Schwachen hinter sich, stellt sich den Mächtigen mit seinen Waffen in den Weg, erringt auch oft kleine Erfolge, die manchmal für Jahre und Jahrzehnte wirken, doch wenn er den Mächtigen zu lästig wird, fegen sie ihn hinweg und mit ihm die Hoffnung der Schwachen, dass sich je etwas ändern könnte, bis der nächste aufbegehrende Gerechte ins Spiel eintritt.
  • Der freundliche Profiteur
    Der freundliche Profiteur ist gebildet und klug. Seine Fähigkeiten und Kenntnisse sind geschätzt und begehrt. Er ist zu jedermann freundlich und hilft jedem, der in der Lage ist, seine Leistung zu honorieren. Es sind die Rechtsanwälte und die Zahnärzte, die Architekten und Notare, die ihr Schäfchen ins Trockene bringen, ihr Fähnchen nach dem Winde hängen und zwischen den Großen spazierengehen, ohne anzustoßen. Gelegentlich sind auch Künstler darunter, Dirigenten, Schriftsteller, Ballkünstler und ihre Trainer, doch ist nur der wirklich ein freundlicher Profiteur, dessen Seriosität nie in Zweifel gezogen wird.
  • Der Hüter und Mehrer des Wissens
    Der Hüter und Mehrer des Wissens verbringt sein erwachsenes Leben in Laboren und Bibiliotheken, Hörsälen und Elfenbeintürmen. Er entreißt der Natur ihre Geheimnisse, liefert damit einen Teil des Futters für die Erfinder, lehrt die nachwachsenden Generationen der Bewahrer, der aufbegehrenden Gerechten und vor allem der freundlichen Profiteure. Manche der Hüter und Mehrer des Wissens haben sich jedoch ganz und gar den Bossen verschrieben und entwickeln Theorien über die Menschen und die Methoden, sie zu Untertanen zu machen und die Untertanen ruhig zu halten.
  • Der Boss
    Der Boss ist, meist schon als Kind, der Bestimmer. Der Boss macht den Plan, gibt die Ziele vor, verteilt die Aufgaben, verteilt Lob und Tadel, straft und belohnt, verteidigt sein „Reich“ mit Zähnen und Klauen und ist stets darauf aus, seinen Einflussbereich zu vergrößern, sein Vermögen und seine Macht zu mehren, Konkurrenten zu schlagen, bevor sie zu groß werden. Niemand in seinem Einflussbereich darf sich seinem Willen versagen, wenn ihm sein Leben lieb ist.
  • Der Joker
    Der Joker ist da, wo man ihn nicht erwartet, tut Dinge, die alle überraschen, spricht Wahrheiten aus, die niemand auszusprechen wagt, lügt wie gedruckt, wenn ihm danach ist. Der Joker stellt die Dinge auf den Kopf. Der Joker verwirrt die Bosse. Unter den Hütern und Mehrern der Wissens stiftet er Aufruhr. Den freundlichen Profiteur treibt er zum Wahnsinn, als aufbegehrender Gerechter begeistert er die Volksmassen und entfesselt Revolutionen, die Bewahrer fürchten ihn und verbieten ihren Kindern auf seine Worte zu hören, als Erfinder gelingt es ihm, aus Stroh Gold zu spinnen, und als schlauer kleiner Mann nimmt er den Hauptmann von Köpenick zum Vorbild und hält die ganze Welt zum Narren.

Selbstverständlich sind die Aktionen und Interaktionen zwischen den Vertretern der verschiedenen Rollen einem Regelwerk unterworfen, das im Grunde sehr einfach ist, aber sehr schwer zu befolgen. Dieses Regelwerk gilt für alle Mitspieler gleichermaßen und die Regeln lauten wie folgt:

  1. Alles, was du in diesem Spiel erreichen kannst, ist ein glückliches und erfülltes Leben.
  2. Erkenne dich selbst. Nimm deine Rolle an und fülle sie aus. Nur so kannst du zum glücklichen und erfüllten Leben gelangen.
  3. Das Auftreten des Jokers gibt dem Spiel eine neue Richtung.  Die Bosse, die Hüter und Mehrer des Wissens, die freundlichen Profiteure, die aufbegehrenden Gerechten, die Bewahrer, die Erfinder, die schlauen kleinen Männer und die einfachen kleinen Männer, müssen sich dem anpassen und der neuen Richtung folgen, oder sie verlieren alles, was sie haben und gehen zurück auf Anfang.
  4. Dem Willen eines Bosses kann sich nur ein anderer Boss entgegenstellen. Der Stärkere gewinnt. Die Hüter und Mehrer des Wissens, die freundlichen Profiteure, die aufbegehrenden Gerechten, die Bewahrer, die Erfinder, die schlauen kleinen Männer und die einfachen kleinen Männer verkörpern die Stärke des Bosses. Folgen sie dem Willen ihres Bosses, kann er gewinnen. Folgen sie ihm nicht, wird er verlieren und sie werden mit ihm alles verlieren, was sie haben und müssen zurück auf Anfang.
  5. Liegen die Hüter und Mehrer des Wissens in einer Sache im Streit, soll sich niemand, auch kein Boss, zum Schiedsrichter erheben. Sie einigen sich schon noch. Bis dahin befolgt das, worin sie sich einig sind oder einig waren. Sonst verdirbt die Wissenschaft und mit der Wissenschaft verdirbt das ganze Volk.
  6. Lasst die freundlichen Profiteure profitieren. Neidet ihnen ihr Vermögen nicht. Niemand soll versuchen, sie seinem Willen untertan zu machen. Sie sind die einzigen, die das Können und das Wissen haben, auf das alle angewiesen sind. Wer ihnen den Profit verweigert, beraubt sich selbst ihrer Kunstfertigkeit.
  7. Wo ein aufbegehrender Gerechter auftaucht, wählt klug, ob ihr euch ihm anschließen wollt. So er Erfolg hat, ist sein Erfolg der Erfolg derer, die sich ihm angeschlossen haben. So er aber Misserfolg hat, werden alle, die sich ihm angeschlossen haben, großen Verlust erleiden. Dauerhafter Erfolg ist dem aufbegehrenden Gerechten jedoch nicht vergönnt. Der Schaden seines finalen Misserfolges wächst mit jedem Erfolg, den er vorher errungen hat. 
  8. Die Güter der Bewahrer sind umkämpft und werden oft verwüstet. Das ist gestattet. Wer jedoch die Bewahrer selbst im Eifer verletzt oder tötet, der verletzt oder tötet sich selbst.
  9. Jede Erfindung der Erfinder ist geeignet das Spiel zu verändern. Der Boss muss entscheiden, ob sie genutzt werden soll. Die Wahrer und Mehrer des Wissens sollten ihren Rat dazu geben. Wer unbedacht das Neue übernimmt, würfelt um sein Schicksal. Nur eine Sechs steht für Nutzen und Gewinn!

Das ist, in knappen Zügen, das Spiel, so wie es mir erscheint.

Sicherlich könnte man die Rollen noch ausführlicher beschreiben, dem Erfinder den Entdecker zur Seite stellen, oder die Vielzahl der Bewahrer detaillierter aufzählen, doch die „Prototypen“ sind, meine ich, einigermaßen erkennbar. Den Regeln würde ich nichts mehr hinzufügen. Sie würden dadurch nur verwirrender und unübersichtlicher. Wer sich selbst erkennt, und seine Regeln befolgt, wird in der Lage sein, ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen.