Die Felsenbirnenerntetechnik der Tannenmeise

 

 

 

Paukenschlags
Ruhetag

 

Alle Jahre wieder gibt es um die Felsenbirne im Garten einen Ernte-Wettkampf, den ich bisher nur einmal gewonnen habe. Wer die Felsenbirne nicht kennt, kann sich hier informieren.

Die Früchte der Felsenbirne sind klein und schmecken ziemlich gut. Süß, mit einem Hauch Bittermandel-Aroma.

Den Anfang machen immer die Amseln. Im vollen Vertrauen auf die Tragkraft der fruchttragenden Zweige lassen sie sich darauf nieder, was eine wilde Schaukelei auslöst. Dann tasten sie sich seitwärts schrittweise auf dem Zweig voran, bis sie eine Frucht zu fassen bekommen, und kaum ist die geschluckt, geht es an die nächste. Den Amseln ist der Reifegrad der Felsenbirnlein egal. Sie fressen sie grün und halbrosa, als gäbe es kein Morgen.

Die Hitze der letzten Tage hat die Früchte schnell reifen lassen. Schön rot leuchten sie jetzt. Dunkelblau zu werden, wie es die Natur vorgesehen hat, das lassen die Vögel nicht zu. Natürlich sind immer noch die Amseln da, aber jetzt kommen auch die kleineren gefiederten Freunde und holen sich ihr Teil. Dummerweise ist der Hals zu kurz, um auf dem Zweig sitzend noch an die Früchte zu gelangen. Gestern habe ich das zuerst gesehen, konnte aber den Vogel nicht identifizieren, meinte, es sei der Gartenrotschwanz gewesen, der sich neuerdings hier herumtreibt.

Heute Morgen war es definitiv die Tannenmeise.

Sie fliegt an, lässt sich auf einem Zweig nieder, und erkundet das Angebot. Hat sie sich für eine Frucht entschieden, flattert sie wieder los, aber nur um gleich im Kolibri-Modus, also in der Luft stehend, die auserwählte Frucht mit dem Schnabel zu packen, und ist dies gelungen, stellt sie das Flügelschlagen für einen Augenblick ein, stürzt folgerichtig ein Stück weit ab, und wenn es dank der Schwerkraft gelungen ist, die Frucht abzureißen, flattert sie damit davon, um sie in aller Ruhe zu genießen.

Ist das wirklich ein Paukenschlag?

Was erwarten Sie denn?

Immer nur Aufregung, Kritik, Politik, Geld?

Oder Corona, Klima, Mobilitätswende, EU, Biden, Orban, Merkel?

Dushan Wegner ermahnt regelmäßig, wir sollten uns um unsere relevanten Strukturen kümmern. Um das, was für uns, für unser Leben wirklich wichtig ist.

Eine Freundin schrieb mir gestern Abend sie befinde sich in einem Zustand der Überlast.

Ich habe ihr heute Morgen so geantwortet:

Kurzfristig sind Überlastsituationen bei Menschen und Maschinen vertretbar, manchmal sogar nützlich, um Ablagerungen zu verbrennen und den Schmiermittelkreislauf durchzupusten.

Ich wünsche Dir, dass es Dir gelingt, die Überlastsituation rechtzeitig wieder in eine Normallast-Situation zurückzuführen.

Während ich diese Sätze schreibe, beschäftige ich mich parallel mit dem zweiten PC an meinem Arbeitsplatz. Ich hatte nämlich ein Foto von der Felsenbirne gemacht, und meine Bildbearbeitungssoftware liegt auf dem anderen (uralten XP-) PC, der mich bei der Bildbearbeitung mit einem sehr, sehr unnatürlichen Verhalten überrascht hat. Also versuche ich, ihm das auszutreiben. Im Augenblick zeig er mir, dass er fröhlich die Internetverbindung nutzt, weiß der Teufel warum. Jedenfalls habe ich einen ganzen Sack alter Programme gelöscht – und jetzt läuft die Defragmentierung. Das dauert seine Zeit. Folglich kann ich hier wieder weiterschreiben.

Nein, das hat mit Überlast nichts zu tun. Ist nur Multitasking. Ich nehmen mir zwischendurch auch die Zeit, kurz nach draußen zu gehen. Hilft. Einen Blick in den Posteingang. Gut. Gelacht habe ich heute Morgen mit Julie über die neue EWKVerbotsVerordnung. Gottseidank bin ich mit EinWegKunststoffe nicht gemeint. Es geht hier um die „Lex Wattestäbchen“. Seit ich den Feed von Buzer.de abonniert habe und die täglichen Neuigkeiten aus der Berliner Gesetzesschmiede lese, erheitert mich das immer wieder. Die Frage, wer den ganzen Wortmüll anhäuft ist vermutlich nicht zu klären. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind es sicherlich nicht. Die würden es ja noch nicht einmal schaffen, eine solche Definition mit allen Rechtsquellen der EU auf die Reihe zu bringen. Dazu müsste man den ganzen Müll gelesen haben, und sich daran erinnern, oder über eine Art „EU-Gesetzes-und-Verordnungs-und-Richtlinien-Google“ verfügen, aber dafür hat niemand die Zeit. Wissen Sie, was ein Wattestäbchen ist, und was es nicht ist?

Wattestäbchen; ausgenommen sind Wattestäbchen, die dem Anwendungsbereich der Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über Medizinprodukte, zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 und zur Aufhebung der Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG des Rates (ABl. L 117 vom 5.5.2017, S. 1; L 117 vom 3.5.2019, S. 9; L 334 vom 27.12.2019, S. 165), die durch die Verordnung (EU) 2020/561 (ABl. L 130 vom 24.4.2020, S. 18) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung unterfallen.

Und, sind Sie jetzt schlauer geworden?

XP hat die C-Partition der Festplatte inzwischen zu 27 % defragmentiert. Wenn ich mir vorstelle, wie der Deutsche Bundestag „Defragmentierung“ in einem Gesetzestext unter Verweis auf alle zutreffenden Verordnungen und Richtlinien der EU definieren würde, steigen mir die Tränen in die Augen.

Das Bürgerliche Gesetzbuch, auch schon über hundert Jahre alt, also noch viel älter als mein alter XP-PC, ist eine Wohltat dagegen. Wahllos herausgegriffen, weil das Jahr 365 Tage hat:

§ 365
Gewährleistung bei Hingabe an Erfüllungs statt

Wird eine Sache, eine Forderung gegen einen Dritten oder ein anderes Recht an Erfüllungs statt gegeben, so hat der Schuldner wegen eines Mangels im Recht oder wegen eines Mangels der Sache in gleicher Weise wie ein Verkäufer Gewähr zu leisten.

Das gilt immer noch. Sieht so aus, als hätten die alten weißen Männer in den beiden Juristenkommissionen, die das BGB schufen, damit so eine Art juristische Cheops-Pyramide geschaffen, die bislang auch von den Wanderdünen der aktuellen Gesetzgebung nicht verschüttet werden konnte.

Das Schöne an der Beobachtung von Amseln und Tannenmeisen beim Ernteeinsatz in der Felsenbirne liegt darin, dass Felsenbirne, Amsel und Tannenmeise keinen Gedanken an EU-Verordnungen verschwenden brauchen.

Die leben einfach. Betonung auf „leben“.

Die leben einfach. Betonung auf „einfach“.

Sie wissen auch nichts von „relevanten Strukturen“ und doch sind sie wohl am besten darin, sich ausschließlich in ihren relevanten Strukturen zu bewegen.

Menschen, die sich voll auf ihre relevanten Strukturen konzentrieren, werden oft als Vögel bezeichnet. Als „schräge Vögel“.

XP ist bei 44 Prozent angekommen und immer noch nicht abgestürzt. Meinen ersten richtigen Desktop-Computer habe ich durch den Defragmentierungsvorgang verloren. Die winzige Platte war einfach schon zu voll, und das Defragmentierungsprogramm ist trotzdem gestartet. Übrig blieben nicht mehr verwertbare Fragmente. Mein Gott, wie habe ich geflucht. Ist aber auch schon wieder mehr als dreißig Jahre her und nichts von dem, was ich damals an Dateien verloren habe, ist heute noch relevant. Nichts.

Ganz anders ist es mit Robinson. Robinson war ein alter Apfelbaum, der in Unterbernbach einsam herumstand und schon 1985 kaum noch Blätter und schon gar keine Früchte mehr trug. Hohl, bis zu den Wurzeln. Ich habe den dann, als auch die letzten Äste abgebrochen waren, in eine Skulptur seiner selbst verwandelt, indem ich die Reste der Rinde abgeschält und das darunter liegende Holz mit einer hellen Lasur angestrichen habe. Doch der Zahn der Zeit hat nicht aufgegeben, und so fiel Robinson eines Tages von alleine um und zerbrach in zwei Teile, wie bei den Schwabenstreichen sah man, zur Rechten wie zur Linken, einen halben Hohlstamm herniedersinken. Weil ich aber schon einmal damit angefangen hatte, mich um Robinson zu kümmern, kamen die beiden Hälften, nachdem ich sie auch innerlich vom Moder befreit hatte, in den Schuppen. Mir schwebte etwas vor, was ich daraus machen wollte.  Dazu gekommen bin ich in Unterbernbach nicht mehr, und als ich Anfang 2012 nach Elsendorf umgezogen bin, ist Robinson mit umgezogen. Die beiden Hälften standen dann jahrelang links und rechts neben der Haustür, an die Wand angelehnt herum und wurden sicherlich nicht von allen, die sie dort gesehen haben, als „Schmuck“ empfunden. Voriges Jahr habe ich sie wieder „in die Hand“ genommen, wieder mit der Drahtbürste geputzt, lose, bzw. lockere, modrig gewordene Teile entfernt, und dann beide Hälften angestrichen. Die größere taubenblau, die kleinere kastanienbraun. Seither stehen sie im Carport.

 

Seit ein paar Tagen weiß ich genau, was ich damit machen werde und von wo aus Robinson künftig unsere Gäste begrüßen wird. Mit etwas Glück komme ich in der nächsten Woche dazu.

Überlast?

Nein. Ich lasse mir Zeit. Es eilt ja nicht.

Die Defragementierung ist auch gerade fertig geworden. Jetzt einen Neustart.

Dann sehe ich weiter.

Jetzt lehne ich mich erst mal zurück.

Vielleicht tun Sie das ja jetzt auch.

Ruhe und Stille, mitten im Stress einkehren zu lassen, wirkt auch wie ein Paukenschlag.

Haben Sie ihn gehört?

 

XP und Bildbearbeitung sind wieder heil.
Stellen Sie sich vor, Sie seien eine Tannenmeise in der Felsenbirne. Holen Sie sich im Kolibri-Flug eine Frucht!