Das Herz unserer Demokratie

Frank Walter Steinmeier, der einst von der Bundesversammlung nach langem und schrecklich spannendem Rätselraten, wer von den insgesamt fünf Kandidaten es wohl werden würde, absprachegemäß zum Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde, hat in der Stunde der Gefahr das „Herz unser Demokratie“ aus dem Fundus der verfügbaren Schlagworte ausgegraben und die Erstürmung der Treppe des Reichstags durch ein paar Dutzend Menschen als „unerträglich“ gebrandtmarkt. 

Abgesehen davon,

dass Michael Klein auf Science Files nach dem Studium der Bilder zu dem Schluss gekommen ist, dass die Szene mit den drei uniformierten Herzensrettern, einer davon schon unbehelmt, die irgendwie an die Schlacht an den Thermopylen erinnerte, von jemenitischen Flüchtlingen mit jemenitischen Fahnen, unterstützt von iranischen Flüchtlingen ausgelöst worden war, die vermutlich nur in archaischer Verfahrensweise eine Art Petition einbringen wollten,

und unabhängig davon, dass einige nicht vollkommen naiv daherkommende Auguren genau jene Szene als eine – im Sinne des „cui bono“ – nützliche Inszenierung, oder zumindest gezielt eröffnete, und folglich auch genutzte Möglichkeit, die Absperrung zu durchbrechen, ansehen, 

stellt sich doch die Frage, in welcher Symbolik unser Bundespräsident da wohl geschwelgt haben mag.

Ein Herz.

Ein Herz ist ja zunächst einmal und im gebräuchlichsten Sinne ein Symbol für ein ungestümes, frisches Verliebtsein, bei dem sich die Schmetterlinge im Bauch noch schneller vermehren als Corona-Viren im Rachenraum des frisch Infizierten. Ein Verliebtsein, für welches mehr als für die Liebe selbst gilt, dass es blind mache. Nichts aber fällt dem Betrachter des Reichstagsgebäudes, das dem Bundestag seine gemauerte Heimat gibt, weniger ein, als dass dieses Werk mit seiner Kuppel und den Ecktürmen, das entfernt auch an die Haghia Sophia erinnert, ein Symbol für eine stürmische Liebelei sein könnte – und wenn man die 700 + x Abgeordneten betrachtet, dann kommt der Gedanke daran, dass zwischen den Fraktionen und allen Einzelnen herzliche Liebe und Verliebtheit herrsche, wohl auch nur bei langjährigen Aluhutträgern auf – und selbst bei denen eher nicht.

Das Herz unserer Demokratie. Schlägt es im verliebten Dreivierteltakt für das Volk, dem der Reichstag per Inschrift gewidmet ist?

Aus meiner Sicht: Fehlanzeige! Das kann Frank Walter Steinmeier eher nicht gemeint haben. Sonst hätte er einen symbolischen Missgriff begangen und uns ein schiefes Bild vorgesetzt. Nein, das kann nicht sein.

Doch man kann das Herz ja auch nüchtern medizinisch betrachten und dabei auf seine – bis zum Tode – nimmermüde und unablässige Pumpfunktion reduzieren.

Im Vergleich zu dieser nimmermüden, zuverlässigen Arbeit zum Wohle des Ganzen schneidet der Bundestag im Reichstag jedoch nicht allzu gut ab. Nun ja – die Abgeordneten kommen von überall im Land herbei und gehen hinein, und nach einer Weile kommen sie auch wieder heraus. Doch wenn man auf diese Weise die Volksvertreter als das Blut betrachtet und das Haus als die Pumpe, dann ergibt das noch keinen sinnvollen organischen Kreislauf. Wo ist die Lunge, in welcher sie mit Sauerstoff aufgeladen werden, den sie dann bis die kleinste Häuserzeile der Republik transportieren, auf dass die dort ansässigen Zellen versorgt werden und Energie erzeugen können? Wo sind Leber und Nieren – und, um Himmels Willen, wo ist das Hirn?

Die alten Mystiker haben das Herz als den Sitz der Seele angesehen – und darin auch eine Instanz des Göttlichen vermutet, die als das Gewissen Hinweise auf rechtes und falsches Tun und Denken vermittelt. Nun ist Demokratie aber nur eine Organisationsform. Selbst „unsere Demokratie“ ist nur eine Organisationsform. Die Demokratie ist sogar eine ziemlich brauchbare Organisationsform für eine Gesellschaft, aber die Form hat keinen Einfluss auf den Inhalt. Ob sich eine Mehrheit für das Gute oder für das Schlechte findet, das ist der Demokratie vollkommen gleichgültig. Dass es Leute gibt, die sich für die „wahren Demokraten“ halten, ändert an der grundsätzlichen Neutralität der Demokratie nichts, kann sie aber, wenn solche Leute in der Mehrheit sind und außer ihrer Meinung nichts mehr gelten lassen, durchaus zombifizieren.

Sicherlich, der Urheber der Metapher vom Herz der Demokratie war Norbert Lammert, und zwar in jener Rede, in der er nach zwölf Jahren das Amt des Bundestagspräsidenten aufgegeben hat. Darin hielt er übrigens dem Parlament, dem er zwölf Jahre lang vorstand, sich selbst per „wir“ einbeziehend vor:

„Wir haben uns (…) einen allzu großzügigen Umgang mit unserer Verfassung angewöhnt.“

Unser Grundgesetz kennt den Begriff „Herz der Demokratie“ nicht. Das ist eine romantisch verschwurbelte Metapher, mit der mehr schlecht als recht bemäntelt wird, was die elementare Grundlage der Demokratie wirklich ist.

Demokratie ohne Parlament ist durchaus denkbar. Das Parlament ist ein „Hilfsaggregat“ der Demokratie. Das Parlament komprimiert – so es funktioniert – das demokratische Ringen um die optimale Entscheidung.

Demokratie ohne fest installierte Regierung ist denkbar. Die Regierung ist ein „Hilfsaggregat“ der Demokratie. Die Regierung zentralisiert die Macht, oder wie es im Grundgesetz heißt, „die Staatsgewalt“, die vollständig vom Volke ausgeht.

Demokratie ohne Parteien ist denkbar. Demokratie ohne Wahlen ist denkbar. Demokratie ohne Gewaltenteilung ist denkbar. Demokratie ohne Verfassung ist denkbar.

Doch eines ist unvorstellbar:

Demokratie ohne Meinungsfreiheit.

Das hat man uns ins Grundgesetz geschrieben, und um das abzusichern, hat man die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Post und Telekommunikationsgeheimnis, das Versammlungsrecht und das Vereinigungsrecht ins Grundgesetz geschrieben, man hat betont, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien und niemand wegen bestimmter Merkmale – noch nicht einmal wegen seiner politischen Anschauungen – benachteiligt oder bevorzugt werden darf.

Wenn es in den letzten Tagen einen Angriff auf das Fundament der Demokratie gegeben hat, und ich betone nochmals – ein Fundament ist etwas grundlegend anderes als ein noch so herziges Herz – dann war das der durch die fortgesetzte Aushöhlung der Grundrechte mit freiheitsbeschränkenden Bundes- und Landesgesetzen ermöglichte Versuch, eine – grundgesetzwidrig anmeldepflichtige – Versammlung nicht nur zu beschränken, das ermöglicht das Grundgesetz, sondern zu verbieten. Der Angriff setzt sich fort dadurch, dass Teilnehmergruppen von vornherein aufs Übelste diskriminiert wurden und ihr Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln und dabei ihre Meinung zu äußern, als

„auf der Nase herumtanzen“

diskreditiert wurde.

Aber wenn die Polizei vor dem Reichstag, jenem steinernen Symbol wechselhafter deutscher Geschichte, eine von nur noch drei Beamten gesicherte Lücke öffnet, wie es an manchen Stellen heißt, oder eine Lücke von vornherein offen stehen lässt, wie es an anderer Stelle heißt, und dann ein verschwindender Bruchteil der in Berlin Demonstrierenden diese Gelegenheit nutzt, um auf die Treppe zu gelangen, dann wiegt dieses Vergehen, bei dem weder Steine noch Molotow-Cocktails geworfen wurden, bei dem keine Autos brannten und keine Fensterscheiben zu Bruch gingen, als „Angriff auf das Herz der Demokratie“ weitaus schwerer als der Angriff auf Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht und wird von den Medien begierig aufgegriffen und durchgekaut, bis die Fakten auf dem Niveau der Hetzjagden von Chemnitz angekommen sind.

Dabei – und hier muss ich nun meine eigene Empörung relativieren – handelt es sich auch hier wieder nur um einen Einzelfall, der aus der Masse der freiheitsbeschränkenden Maßnahmen zwar ein Stück weit herausragt, aber keinesfalls vergessen machen darf, wie eng der Korridor geworden ist, in dem sich Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland noch bewegen dürfen. Von Franz Josef Strauß wird die Aussage kolportiert: „Hier darf jeder seine Meinung sagen, vorausgesetzt, es ist meine.“

Wenn er das tatsächlich gesagt haben sollte, dann war es einer seiner tiefgründigen Scherze. Heute ist daraus vielfältig Ernst geworden.

 

Als ich das Buch „Demokratie – Fiktion der Volksherrschaft“ geschrieben habe, gab ich dem Buch einen kleinen Aphorismus mit auf den Weg:

Demokratie ist wie Beton.
Es kommt drauf an,
was man daraus macht.

Gerade vor dem Hintergrund der durch die Corona-Pandemie ausgelösten, neuen Verwerfungen unserer schon weit heruntergewirtschafteten Demokratie, wünsche ich mir, dass dieses Buch, das in diesem Jahr noch einmal neu erschienen ist, noch viele interessierte und demokratisch engagierte Leser findet, die sich zusammenfinden, um frischen Beton anzurühren und in eine neue Form zu gießen.

 

Hier mit „Blick ins Buch“ zu finden
und zum Preis von 18,80 Euro zu bestellen.