Wundersame Wanderwege westlicher Waffen

Ein Blick auf die Weltkarte genügt, um die Möglichkeiten, schwere Waffen in die Ukraine zu schaffen, erkennen zu können.

Grob gemessen und weitgehend begradigt: 750 Kilometer misst die Landgrenze zu Polen, 80 Kilometer Grenzlinie zur Slowakei, 70 Kilometer zu Ungarn, über 300 Kilometer grenzt die Ukraine an Rumänien, 700 Kilometer an Moldawien.

Insgesamt also eine Linie von rund 2000 Kilometern Länge, an der  entlang sich theoretisch überall Möglichkeiten finden ließen, Waffen über die Grenze zu schaffen.

Praktisch reduzieren sich die realistisch nutzbaren Möglichkeiten ganz erheblich. Der Transport schweren Geräts über längere Strecken erfolgt entweder per Bahn oder mit Tiefladern über ausreichend ausgebaute Straßen.

Selbst wenn man unterstellt, dass die einigermaßen geländegängigen Panzerhaubitzen und Flugabwehrpanzer, die Mehrfach-Raketenwerfer, die Patriot-Batterien und was da sonst noch angeliefert wird, den konkreten Grenzübertritt aus eigener Kraft in unwegsamem Gelände vollziehen können, braucht es dazu beiderseits der Grenzlinie, Ent- und Belade-Möglichkeiten, zwischen denen eine möglichst kurze Distanz – maximal vielleicht 40 bis 50 Kilometer liegen sollte. Und man bräuchte natürlich das militärische Personal, das in der Lage ist, die Gefährte über diese Strecke zu lenken. Dass die Strecken vorher erkundet und ggfs. von Hindernissen geräumt werden müssten, muss auch bedacht werden.

Natürlich ist im Krieg nichts unmöglich, und die Logistik-Abteilungen freuen sich über jede neue Herausforderung, bei der sie ihre Fähigkeiten unter Beweis  stellen können.

Dennoch ist kaum vorstellbar, dass solche Aktivitäten der russischen Aufklärung verborgen bleiben. Sowohl Satellitenbilder und andere Verfahren der elektronischen Aufklärung als auch Berichte von Kundschaftern/Spionen sollten im Grunde die nahezu vollständige Nachverfolgung der  Lieferungen, von ihren Ausgangspunkten in den  westlichen Staaten und den Seehäfen bis zum Eintreffen im Kampfgebiet ermöglichen.

Ich habe mich lange gefragt, warum diese Nachschublieferungen nicht schon, kaum dass sie auf ukrainischem Gebiet angekommen sind, von den russischen Streitkräften attackiert und zerstört werden. Die Berichte vom Kriegsgeschehen unterstützen die Annahme, dass fast alles, was der Westen liefert, voll funktionsfähig an die geplanten Einsatzorte gelangt und  erst dort von den Russen unter Feuer genommen wird.

Heute komme  ich zu dem Schluss, dass es im Arsenal der russischen Streitkräfte eine „strategische Lücke“ geben muss.

Die primär auf Selbstverteidigung und Zweitschlagsfähigkeit ausgelegte Ausrüstung  der russischen Armee ist zwar, wie wir den Berichten aus der Ukraine entnehmen  können, im Bodenkampf den ukrainischen Einheiten zumindest ebenbürtig, und was den Munitionsverbrauch (und -Nachschub) betrifft, deutlich überlegen, doch ist sie offenbar nicht in der Lage, in dem über die Kanonenschuss- und Raketenwerfer-Reichweite hinausgehenden Entfernungsbereich von bis zu 1.000 Kilometern, bewegte Ziele bei angemessenen Kosten und kalkulierbarem Risiko wirksam zu bekämpfen.

Die Verheerungen, die mit den Angriffen auf die Stromversorgung der Ukraine mit (vergleichsweise teuren) Marschflugkörpern und Raketen, inzwischen auch mit Schwärmen von billigen Kamikaze-Drohnen angerichtet werden, sind stets auf stationäre Ziele gerichtet. Über intelligente Munition, die von Hubschraubern oder Kampfflugzeugen ausgeworfen wird und sich ihre – beweglichen – Bodenziele dann selbständig sucht, scheint Russland entweder nicht zu verfügen, oder nicht in der Lage zu sein, sie mit vertretbarem Risiko dort zum Einsatz zu bringen, wo sie gebraucht würde. Womöglich wäre ein solcher Einsatz auch unzweckmäßig, falls die Waffen nicht im geschlossenen Konvoi, sondern einzeln, in räumlichem oder zeitlichem Abstand über die Grenze bewegt werden.

Das Kalkül der russischen Strategen scheint also dahin zu gehen, dass es einfacher und – trotz damit in Kauf genommener eigener Verluste –  ressourcenschonender ist, diese Waffensystem auf kurze Distanz an der Front in ihren Feuerstellungen zu identifizieren und zu bekämpfen, als sie schon beim Grenzübertritt in die Ukraine anzugreifen.

Es ist also zu erwarten, dass auch die Schützenpanzer aus Frankreich, den USA und Deutschland, deren Lieferung gerade eben beschlossen wurde, weitgehend unbehelligt an die Front gelangen werden.

Ob dies auch noch zutreffen wird, wenn der wesentlich kampfstärkere Leopard an die Ukraine übergeben wird, wage ich jedoch zu bezweifeln.

Vermutlich wird Polen damit bald den Anfang machen.

Wir werden sehen, wie sich das entwickeln wird.